Ge­hö­ren Sie auch zu den Hand­schrif­ten-Jä­gern im In­ter­net? Es ist ja schier un­glaub­lich, wie viele Mu­sik-Au­to­gra­phen dort in den letz­ten Jah­ren frei zu­gäng­lich ge­wor­den sind. Ob man Kom­po­nis­ten-Sei­ten wie Schu­bert-on­line oder Bach-Di­gi­tal be­sucht oder die ent­spre­chen­den Por­ta­le gro­ßer (und auch klei­ner!) Bi­blio­the­ken durch­stö­bert: Von der Mat­thä­us-Pas­si­on bis zu Beet­ho­vens Neun­ter fin­det man jede Menge span­nen­der Lek­tü­re – die na­tür­lich auch immer zum Ver­gleich mit un­se­ren Ur­text-Aus­ga­ben reizt.

So be­rich­te­te uns zum Bei­spiel kürz­lich ein Gei­ger, er habe vor Jah­ren von dem gro­ßen Rug­gie­ro Ricci mit auf den Weg be­kom­men, dass das Brahms’sche Vio­lin­kon­zert un­be­dingt le­ga­to zu be­gin­nen sei. Zum Be­weis habe Ricci auf den Bogen im Par­ti­tur­au­to­graph ver­wie­sen, das da­mals be­reits als Fak­si­mi­le vor­lag.

Aus­schnitt aus dem Par­ti­tur­au­to­graph, The Li­bra­ry of Con­gress Wa­shing­ton

Ein Blick auf die heute im In­ter­net leicht zu­gäng­li­che Quel­le be­stä­tig­te die Er­in­ne­rung des Gei­gers und brach­te ihn auf die Frage, warum dann in un­se­rer Aus­ga­be bei der Sech­zehn­tel­no­te e1 ein zu­sätz­li­cher Stac­ca­to­punkt stehe, der ein Ab­set­zen for­dert:

Aus­schnitt aus der Hen­le-Ur­text-Aus­ga­be

Die ei­gent­li­che Frage war leicht ge­klärt, aber das allzu ver­trau­te „Im Au­to­graph steht doch…“ brach­te mich dar­auf, den Blog ein­mal für eine all­ge­mei­ne Ant­wort zu nut­zen, denn wir haben schon un­zäh­li­ge An­fra­gen er­hal­ten, die mit genau die­sen Wor­ten be­gin­nen. Der no­to­ri­sche Ver­weis auf das Au­to­graph re­flek­tiert na­tür­lich zu­nächst ein­mal die hohe Wert­schät­zung der ei­gen­hän­di­gen Nie­der­schrift des Kom­po­nis­ten, ja, die ge­ra­de­zu au­ra­ti­sche Qua­li­tät man­cher Au­to­gra­phe für den Mu­si­ker, der auch der Hen­le-Ver­lag mit kom­men­tier­ten Fak­si­mi­le-Aus­ga­ben gerne hul­digt – nicht zu­fäl­lig fin­den Sie in un­se­rem Ka­ta­log eine ganze Reihe kom­men­tier­ter Fak­si­mi­le-Aus­ga­ben.

Als Ur­text- und Ge­samt­aus­ga­ben-Ver­lag haben wir zu­recht den Ruf, diese be­son­de­re Be­deu­tung des Au­to­graphs bei der Edi­ti­on zur be­rück­sich­ti­gen. Aber: Bei der schrift­li­chen Fi­xie­rung einer Kom­po­si­ti­on ist das (Par­ti­tur-)Au­to­graph eben oft nur ein Bau­stein unter vie­len, wes­we­gen für eine Ur­text-Aus­ga­be meist noch zahl­rei­che an­de­re Quel­len (so­weit sie er­hal­ten sind) her­an­ge­zo­gen wer­den. Die über­prüf­te Stich­vor­la­ge oder ein vom Kom­po­nis­ten au­to­ri­sier­ter Erst­druck kön­nen wei­te­re wich­ti­ge Zeu­gen sein. Hinzu kom­men für frühe Auf­füh­run­gen er­stell­te Stim­men und bei Kon­zer­ten die oft im Aus­tausch mit einem Mu­si­ker re­vi­dier­te So­lo­stim­me. Und ge­nau­so ver­hält es sich beim Brahms’schen Vio­lin­kon­zert, des­sen viel­fäl­ti­ge Quel­len üb­ri­gens in dem von Linda Cor­rell Roes­ner und Mi­cha­el Struck ge­mein­sam her­aus­ge­ge­be­nen Band der Jo­han­nes Brahms Ge­samt­aus­ga­be in einem ein­drucks­vol­len Stem­ma dar­ge­stellt sind.

Stem­ma aus der Jo­han­nes Brahms Ge­samt­aus­ga­be, Bd. I/9, Vio­lin­kon­zert. (Zum Ver­grö­ßern an­kli­cken.)

Jo­seph Joa­chim

Der mit Brahms be­freun­de­te Gei­ger Jo­seph Joa­chim wirk­te hier auf den aus­drück­li­chen Wunsch des Kom­po­nis­ten an der So­lo­par­tie ganz maß­geb­lich mit: Von der be­reits im Au­gust 1878 an ihn ge­sand­ten au­to­gra­phen Gei­gen­stim­me zum 1. Satz (im Stem­ma Quel­le A-Vl) bis hin zur Prü­fung der Druck­fah­nen von Kla­vier­aus­zug und So­lo­stim­me 12 Mo­na­te spä­ter be­glei­te­te er die Ent­ste­hung, führ­te das Werk zwi­schen­zeit­lich mehr­fach auf und tausch­te sich mit Brahms über not­wen­di­ge oder mög­li­che Än­de­run­gen aus.

Fest­ge­hal­ten wur­den diese vor allem auch Bo­gen­set­zung, Ar­ti­ku­la­ti­on und ver­track­te Ak­kord­grif­fe be­tref­fen­den Kor­rek­tu­ren zu­nächst in der au­to­gra­phen, dann in einer ab­schrift­li­chen Ein­zel­stim­me (AB-Vl2), aber eben nicht un­be­dingt im Par­ti­tur­au­to­graph. Daher wies Brahms den Sim­rock-Ver­lag bei der Vor­be­rei­tung der Druck­le­gung auch ei­gens dar­auf hin, die So­lo­par­tie müsse nicht etwa nach der Par­ti­tur, son­dern „nach der Ein­zel­stim­me kor­ri­giert wer­den“.

Und so kön­nen Sie sich viel­leicht schon den­ken, woher der in Frage ste­hen­de Stac­ca­to­punkt kommt… Genau: Er fußt (wie im Edi­ti­ons­be­richt der Ge­samt­aus­ga­be de­tail­liert dar­ge­legt) auf einem Ein­trag Joa­chims in der au­to­gra­phen So­lo­stim­me – und ging auch in die ge­druck­te Violin­stim­me ein; aber in die Par­ti­tur wurde der Ein­trag vom an sich höchst zu­ver­läs­si­gen Ver­lags­lek­tor Ro­bert Kel­ler ver­se­hent­lich nicht über­nom­men. Was uns nur zeigt – auch unter Lek­to­ren ist Irren ganz mensch­lich…

Dieser Beitrag wurde unter Artikulation, Autograph, Brahms, Johannes, Montagsbeitrag, Quellen, Urtext, Violine + Orchester, Violinkonzert (Brahms) abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setzen Sie ein Lesezeichen auf den Permalink.

3 Antworten auf »„Aber im Autograph steht doch…“ – über eine häufig gestellte Frage zu unseren Urtext-Ausgaben«

  1. Dr. Michael Struck sagt:

    Ja, liebe Frau Oppermann, man kann es wirklich nicht oft genug sagen: Autographe – bei denen man ja noch zwischen Skizzen, Entwürfen, Particellnotaten, Arbeitsmanuskripten und Reinschriften oder versuchten Reinschriften unterscheiden müsste – sind zwar höchst aufschlussreich, aber oft und gerade in der Musik des 19. Jahrhunderts noch nicht des Komponisten letztes Wort.
    Wer sich streng nach den Autographen richten wollte, würde auch im Fall von Brahms’ Violinkonzert vieles von dem wieder rückgängig machen, was Brahms im Zuge der ersten Proben und Aufführungen noch an klanglichen, spieltechnischen, dynamischen und sonstigen Optimierungen vornahm. Das können Musikerinnen, Musiker, Forscher und Forscherinnen doch nun wirklich nicht wollen, so aufschlussreich derartige Blicke in Brahms’ Kompositions- und Verfeinerungswerkstatt auch sind. Danke also für Ihren erhellenden Beitrag, der ja nicht nur für Brahms gilt, sondern auch für viele Komponistenkollegen, beispielsweise Schumann, Dvorak und viele andere.
    Übrigens spielt der Geiger Gidon Kremer in seiner Aufnahme von Brahms’ Violinkonzert mit Leonard Bernstein in Takt 149 des 1. Satzes auch eine von Brahms ursprünglich im Partiturautograph notierte Fassung. Die wurde dort später von fremder Hand mit roter Tinte zu der Fassung geändert, wie wir sie aus dem Druck kennen. Jene “fremde Hand”, die dem von Brahms sehr geschätzten, für den Simrock-Verlag tätigen Lektor Robert Keller gehörte, war aber keine Verfälschung von Brahms’ Absicht. Vielmehr übertrug Keller nur die Fassung zurück ins Partiturautograph, auf die Brahms und sein Geigerfreund Joseph Joachim sich während ihrer abschließenden Diskussionen des Werkes und vor allem der Solopartie geeinigt hatten. Brahms überließ derartige Rückübertragungen
    lieber dem bewährten Lektor, weil ihm selbst Zeit und Geduld dazu fehlten – vielleicht auch, weil er schon das nächste oder übernächste Werk im Kopf hatte.
    Wie vertrackt die Frage nach Brahms’ “ursprünglicher” Absicht ist, erkennt man auch daran, dass die von Brahms im Partiturautograph für Takt 149 des 1. Satzes notierte Fassung gar nicht seine allererste Idee verkörpert! Denn es gibt ja noch die eigenhändige Violinstimme, die die Solopartie des kompletten 1. Satzes und der ersten 124 Takte des Finales enthält; sie entstand, bevor Brahms die autographe Partitur niederschrieb. In jener frühen Violinstimme notierte Brahms für Takt 149 gleich zwei unterschiedliche Versionen, von denen die eine stark, die andere nur ein wenig von der endgültigen Gestalt des Taktes abweicht. Hier also wären streng genommen die eigentlichen “ursprünglichen” Fassungen zu finden – oder genauer gesagt: die frühesten von Brahms zu Papier gebrachten Fassungen. Denn was er sich zuvor schon alles durch den Kopf hatte gehen lassen, wissen wir natürlich nicht. So spricht Ihr Beitrag ebenso reizvolle wie heikle Fragen und Probleme an. Diese aber lassen sich, wie Sie gezeigt haben, nicht durch den Rückzug aufs Partiturautograph beantworten, sondern nur, wenn man das G e f ü g e aller maßgeblichen geschriebenen und gedruckten Quellen des Notentextes berücksichtigt und dabei auch verschollene Quellen (zum Beispiel die von Brahms durchgesehenen Korrekturabzüge) berücksichtigt.
    Mit herzlichen Grüßen
    Ihr
    Michael Struck

  2. Thomas Schuch sagt:

    Sehr geehrte Frau Oppermann ,

    herzlichen Dank für diese Darstellung dieses interessanten Themas, dem ich gerne noch eine aus meiner Sicht wichtige Ergänzung hinzufügen möchte:

    Die strukturell bedingte notwendige Reduzierung des Notentextes auf eine “endgültige” Druckfassung verlangt vom Herausgeber, bei all diesen Fragen eine Entscheidung für den ausübenden Musiker zu treffen. Natürlich kann man mithilfe von intelligent gesetzten Klammern, Fußnoten, kritischen Berichten etc. die Quellenlage aus Sicht des Musikwissenschaftlers darlegen, allerdings macht das die ganze Sache meist sehr unübersichtlich und wird aus diesem Grunde meist auch nur unvollständig vorgenommen.
    An anderer Stelle dieses Blogs habe ich bereits als Beispiel auf die schwierige Quellenlage bei den Werken Chopins mit meist allein 3 verschiedenen Erstausgaben verwiesen – das wird in der Druckversion dann oft zur verwirrenden Rätselknobelei, sodass desöfteren sogar eine vermeintlich “unkorrekte” Festlegung auf eine einzige Quelle die praktikablere Wahl ist.
    Denn: eine Vermischung verschiedener Einzelschnipsel unterschiedlicher Niederschriften kann diese durchaus aus dem musikalischen Kontext reißen und neu zusammengesetzt ihren in der Einzelfassung nachvollziehbaren Sinn verlieren.

    Dabei ist festzustellen, dass die Denkweisen von Musikern und Wissenschaftlern sich in vielen Dingen unterscheiden, weswegen ich meine, dass man beide Welten gut miteinander verknüpfen sollte.

    Als konkreten Vorschlag würde ich die Vorteile einer digitalen Edition nutzen, die gerade eine Beschränkung auf die einzige Ebene einer Druckfassung aufhebt, und sämtliche relevanten Varianten über verschiedene Ebenen ein-/ auszublenden sowie die originalen Quellen als Bildmaterial zu hinterlegen.
    Dabei wären wissenschaftliche Auskünfte zur jeweiligen Bedeutung und Herkunft der einzelnen Quellen natürlich sehr willkommen, würden aber eben als Empfehlung dienen und nicht dem Musiker die Möglichkeit der eigenen Meinungsbildung nehmen.

    Die technische Umsetzbarkeit einer solchen digitalen Edition ist meiner Meinung nach absolut gegeben, wenn auch zugegebenermaßen mit der Anforderung eines strukturell neuen Notensatz, der allerdings auch wieder neu vermarktet werden könnte.

    Das an anderer Stelle vorgetragene Argument, dass der finanzielle Aufwand, um jede einzelne Quelle rechtmäßig wiederzugeben deutlich zu hoch sei, kann ich zumindest aus meiner laienhafter Sichtweise nicht nachvollziehen.
    Das Urheberrecht auf sämtliche Quellen zu den allermeisten für uns relevanten Komponisten ist längst abgelaufen und wie wäre eine anderweitige Nutzungsgebühr für die Werke Bachs, Mozarts, Beethovens und Co. sonst zu begründen?
    Falls ich an der Stelle etwas Relevantes übersehen haben sollte, bitte ich um Aufklärung.

    Abschließend bleibt nur hinzuzufügen, dass eine solche digitale Edition für mich als Musiker einen echten Mehrwert hätte und die Ansprüche an den sogenannten “Urtext” neu definieren würde.

    Mit herzlichen Grüßen,
    Thomas Schuch
    Pianist

    • Lieber Herr Schuch,
      herzlichen Dank für Ihre Zuschrift. Ihr grundsätzlicher Wunsch nach mehr, womöglich fachlich kommentierter, Quellenpräsentation ist absolut verständlich und lässt sich auch erfüllen in einer digitalen Edition oder den sogenannten Hybrid-Editionen, wie sie bei manchen wissenschaftlichen Gesamtausgaben (z. B. der Werke Carl Maria von Webers oder Max Regers) erprobt werden.
      Dass dies in unseren praktischen Urtext-Ausgaben (noch?) nicht umgesetzt wird, hat viele Gründe, von denen ich hier nur zwei von Ihnen angesprochene ausführe. Zum einen ist da (unabhängig von den immensen Investitionen auf technischer Seite) das Problem der Rechte und Kosten für Quellenreproduktionen: Zwar können die Urheber der Werke keine Ansprüche mehr geltend machen, die heutigen Besitzer eines Autographs oder eines seltenen Erstdrucks aber sehr wohl. Und nicht jeder Scan, der online zur Verfügung steht, könnte oder dürfte auch für die Veröffentlichung in einer digitalen Ausgabe genutzt werden.
      Zum anderen gibt es natürlich die erwähnten Fälle wie Chopins Klavierwerke, wo angesichts einer sehr komplexen Quellenlage die Entscheidungen des Herausgebers Kompromisse in der Kennzeichnung fordern, damit der Notentext übersichtlich und in sich konsistent bleibt. Aber gerade das Brahms’sche Violinkonzerts ist ein Paradebeispiel für die vielen Fälle, in denen wir uns als Herausgeber in der Lage und der Pflicht sehen, eine klare Entscheidung zu treffen (in die wir übrigens regelmäßig Musiker einbeziehen). Den so konstituierten Notentext dann auch in einer für den ausübenden Musiker optimalen Form zu präsentieren und zu kommentieren, gehört ja gerade zum Kerngeschäft unseres Handwerks und kennzeichnet die Qualität unserer gedruckten Ausgaben. Insofern kann uns – bei aller Aufgeschlossenheit für das digitale Medium (siehe Henle App) – das Papier für die meisten Urtext-Ausgaben doch noch gute Dienste leisten.
      Mit freundlichen Grüßen,
      Ihre
      Annette Oppermann

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert