Sofern die Komponisten-Handschrift, das Autograph, eines musikalischen Werks überliefert ist, hat man die einmalige Gelegenheit, dem Schöpfer beim Niederschreiben seiner Gedanken „über die Schulter zu schauen“. Geheimnisse des Schöpfungsprozesses offenbaren sich dem Betrachter allerdings nur dann, wenn er Fragen an den vorgefundenen handschriftlichen Text stellen kann, die über rein editorisch-philologische hinausgehen. Meiner festen Überzeugung nach bieten sich hierbei vor allem autographe Korrekturen als idealer Einstieg an. Die musikanalytisch-neugierige Frage nach dem „Warum?“ einer Korrektur in qualitativer Hinsicht öffnet ein sonst für immer verschlossenes Tor. Ich habe diesen Gedanken in einem anderen Blogbeitrag bereits schon einmal ausgeführt: „Autographe Korrekturen sind gewissermaßen die sichtbaren Narben eines kompositorischen Problems, das der Urheber durch eine Verbesserungs- oder Korrekturmaßnahme löste. Indem wir die Narbe untersuchen und zu verstehen versuchen, befinden wir uns sofort im Inneren der Musik.“ Ich halte diesen Zugang übrigens auch unter musikpädagogischen Blickwinkel für einen vielversprechenden, bislang noch völlig ungenutzten.
Mozarts Autographe seiner sechs Joseph Haydn gewidmeten Streichquartette wimmeln von solchen sichtbaren Kompositions-„Narben“. Es trifft also durchaus zu, was Mozart selbst in seiner der Erstausgabe vorangestellten gedruckten Widmung gewissermaßen stöhnend zugibt: diese Werke seien die „Frucht einer langen, mühsamen Arbeit“ („il frutto di una lunga, e laboriosa fattica”).
Zwei Beispiele gefällig?
Das kleine Trio in c-moll des großen C-dur-Streichquartetts KV 465 weist in Mozarts Handschrift (fol. 63v), deren Scan bekanntlich bequem online abzurufen ist, eine sofort erkennbare Streichung auf. Gleich zu Beginn im Cello:
Der Sachverhalt dieser autographen Korrektur ist ohne jede Schwierigkeiten zu entziffern. Mozart hatte ursprünglich folgendes geschrieben:
Dann strich er die beiden Viertel-Oktavschläge c – c1 auf „1“ und „2“ durch und ersetzte sie durch eine Viertelpause auf „1“ und die Viertelnote c auf „2“:
Bei der Korrektur handelt es sich also nicht etwa um die bloße Behebung eines Schreibfehlers (was ja durchaus auch vorkommen kann). Nein, die ursprüngliche Fassung ist musikalisch-orthografisch völlig korrekt und sinnvoll. Es handelt sich vielmehr um einen nachträglichen Eingriff in die ursprüngliche musikalische Konzeption. Und diese muss unmittelbar im Schreibfluss des Anfangs, spätestens bei der Niederschrift von Takt 4 erfolgt sein, denn bei der sofortigen Wiederholung derselben musikalischen Anlage in T. 5—8 (und an späteren Stellen, wie etwa im Mittelteil ab T. 16) notiert Mozart bereits (unkorrigiert) die neue, nämlich nachschlagende Gestaltung des Celloparts.
Die Wirkung dieser kleinen Änderung ist erheblich: Der Bass betont nämlich post correcturam nicht mehr, wie (zusammen mit den beiden Mittelstimmen) zuerst, die schwere Takt-„1“, sondern setzt auf der schwachen Zählzeit „2“, einen nachschlagenden Basstupfer, der sich im Übrigen passgenau in die jeweilige Viertelpause der aufsteigenden Dreiklangslinie der ersten Violine einfügt. Violine und Cello geben sich also gewissermaßen nun die Hand.
Soweit so gut. Aber warum änderte nun Mozart die Cello-Figur? Was ist an der ersten Fassung so „schlecht“? Oder anders herum gefragt: Warum sollte die (end)gültige Lösung die bessere sein? Und genau mit dieser Fragestellung öffnet sich anstrengungslos das Tor hinein in das tiefere Verstehen der vorliegenden Komposition. Ein Tor, das sich in keinem gedruckten Text befindet.
Meine Deutung: Mozart arbeitet mit der vorgenommenen „Schwächung“ der beiden Schwerpunkte in Takt 1 und 2 auf eine Stärkung der sich anschließenden zusammengehörenden Takte 3—4 hin. Sind die beiden ersten, im piano zu spielenden Takte nach der Korrektur nun von leichter Eleganz, fasst Mozart die beiden „antwortenden“ Takte 3—4 durch forte und starke Kadenzbewegung des Cellos zusammen; dabei betont erstmals in Takt 4 das Cello nun die „1“, was jetzt umso deutlicher herauskommt, denn in der ersten Fassung wurde die „1“ ja schon beständig (und gewissermaßen simpel) als Impuls gesetzt.
Und noch eine Facette kann ich der Korrektur abgewinnen: In der gestrichenen ersten Fassung gibt es einen Konflikt zwischen auftaktig spielender Violine I und quer dagegen gestelltem, abtaktig spielenden Bass. Dieses gleichzeitige Gegeneinander der Zweiton-Figuren hat zwar seinen gewissen kontrapunktischen Reiz, allerdings wirken dafür letztlich die Oktavschläge des Cellos zu banal, zu gewöhnlich, um sie als Reflex auf die Violine erkennen zu können – eine bloße typische Bassfigur eben. Nicht nur hebt Mozart diese Plumpheit durch die Streichung auf und verleiht jetzt dem Cello durch sein Einbezogensein in die Violinfigur besagte Eleganz, sondern Mozart bewahrt sich das Prinzip des kontrapunktischen Gegeneinanders für die dramaturgische Steigerung zum Schluss des Satzes auf: In Takt 29 ff. übernimmt nämlich jetzt zu unserer Überraschung das Cello die Führung mit der c-moll-Dreiklangsmelodie des Anfangs, und, anstatt etwa die Anfangstakte nachzuäffen, spielt die Violine I nun nachschlagend im metrisch versetzten Echo die Melodie:
Mir will scheinen, dass Mozart just im Moment der anfänglichen Streichung der ursprünglichen Cellonoten intuitiv diese wesentlich raffiniertere Kontrapunktik als Gestaltungsmöglichkeit erkannte, um sie kurz darauf grandios gesteigert umzusetzen.
Mein zweites Beispiel aus demselben kurzen Satz:
Im Anschluss an das Ende des Trios (fol. 64r) finden sich im Autograph ganz unvermittelt noch ein paar Noten in der ersten Violine und im Cello, die Mozart aber sofort wieder durchstrich:
Was soll diese harmlose, gestrichene Skizzierung bedeuten? Nun, ich bin mir sicher, dass es sich hierbei um eine für einen Gedankenblitz-Moment von Mozart geplante harmonische Ausweichung für ein „Haus 2“ (seconda volta als Trugschluss) handelt. In etwa so:
Welchen Sinn sollte sonst die aufsteigende As-dur-Dreiklangslinie der Violine I an dieser Stelle haben? Auch hierbei muss gefragt werden: Warum strich er denn sofort wieder diesen Gedankenblitz aus? Wir können, nein wir sollten darüber fruchtbar spekulieren. Dabei sollte man immer das Ganze einer kompositorischen Anlage im Auge bzw. Ohr haben, um versteckte Bezüge erkennen zu können.
Hier mein Erklärungsversuch für den Grund der Streichung: Der doppeldominantische übermäßige Quintsextakkord über As erklingt ja bereits unmittelbar vor dem Schlussstrich. Eine nochmalige Ausweichung zusammen mit einer hier angedachten trugschlussartigen Wendung wäre dann doch wohl Zuviel des Guten gewesen. Zumal es zuvor ja ohnehin schon harmonisch recht „wild“ zugeht. Auch wirkt der finale Schluss nun viel kompakter und entschlossener. Und: Mozart bemerkte vermutlich während des Skizzierens, dass er, egal wie er auch immer die aufstrebende As-dur-Dreiklangswendung der Violine I mit dem Hauptmotiv im Cello koppeln würde (übrigens kompositorisch vermutlich angelehnt an die sehr verwandte Es-dur-Parallelstelle in T. 13—15), immer zwangsläufig in partielle Oktavparallelen mündete (man sehe die mehrfachen Korrekturen allein innerhalb der Skizze!).
Etliche weitere assoziative Interpretationsansätze dieser nur scheinbar unbedeutenden Korrekturen in T 1—2 und zum Schluss des c-moll-Trios KV 465/III kommen mir in den Sinn. In aller Breite ausgeführt würden sie diesen Blog erheblich sprengen – aber das beweist doch nur das methodische Potential der Werkinterpretation „aus der Quelle“.