Gelegentlich kommt es im Editionsgeschäft zu unlösbaren Konflikten zwischen eindeutigem Quellenbefund und musikalischer „Logik“. Auf einen solchen besonders spannenden Fall machte mich der eminente Pianist, Hochschulprofessor und Freund Michael Schäfer aufmerksam. Der Sachverhalt ist in wenigen Sätzen dargestellt und meinen geneigten Lesern hiermit zur Diskussion überreicht.
Felix Mendelssohn Bartholdy gehört bekanntlich zu jener Spezies Komponisten, die, bis es endlich zur Drucklegung eines neuen Werkes kommt, daran unendlich feilen und verbessern. So auch im Falle seines Klaviertrios in c-moll op. 66. Nicht nur hat er in seinem Partitur-Autograph seine ursprüngliche Niederschrift wie besessen korrigiert und verändert, sondern es sind auch im Prozess der Drucklegung dann noch mehrere Korrekturstadien dokumentiert. Noch kurz vor Erstveröffentlichung bei Breitkopf & Härtel im Februar 1846 sandte Mendelssohn den sicherlich schon Haare raufenden Verlegern noch eine eigenhändige ausführliche Korrekturliste mit Bitte um Ausführung zu (was auch noch geschah). Dies alles ist geradezu mustergültig im einschlägigen Band der Leipziger Mendelssohn-Gesamtausgabe dokumentiert und bewertet (merkwürdig genug, dass es von dieser Edition bis heute keine praktische, wohlfeile Ausgabe für Musiker gibt …).
Nun zur fraglichen Note: Im Finale des c-moll-Trios, inmitten der großen C-dur-Schlussapotheose, kommt es noch einmal für einen kurzen Moment zu einer Beruhigung („tranquillo“ ab Takt 296 ff.), bevor sich die drei Musiker dann fulminant in den grandiosen Schluss werfen („sempre crescendo e con più di fuoco“). In der rechten Hand des Klaviers hat Mendelssohn in T. 298 f. die Melodielinie in konventionellen Oktaven plus Terz notiert:
Eine interessante Nebenbeobachtung zu diesem autographen Befund: Die vorausgehend notierten klangverstärkenden Oktavierungen hat er gestrichen – immerhin soll die Stelle p dim, dann p tranquillo erklingen.
Dieselbe Stelle ist in der Erstausgabe nun viel opulenter ausgestaltet, um nicht zu sagen, in T. 298 fast unspielbar und musikalisch höchst fragwürdig verändert:
Da leider sämtliche zwischen dem Autograph und der Erstausgabe bei Breitkopf stattgefundenen Korrekturstadien verschollen sind, wissen wir nicht, ob Mendelssohn diese markante Änderung entweder in seiner eigenhändigen Stichvorlage des Klavierparts (Quelle „[C]“ der Gesamtausgabe) oder im Prozess von Fahnenkorrekturen vorgenommen hatte. Philologisch ist der Sachverhalt klar und wasserdicht: Die Erstausgabe repräsentiert ohne Zweifel Mendelssohns Willen, zumal in der bereits erwähnten Fehler-Korrekturliste Mendelssohns an Breitkopf kurz vor Erscheinen diese Stelle nicht moniert, demnach final abgesegnet wird.
Was philologisch wasserdicht ist, muss musikalisch nicht immer überzeugen. Hier liegt solch ein Fall vor. Klar und leicht nachvollziehbar ist, dass Mendelssohn seine ursprünglich vorgenommene klangliche „Ausdünnung“ der Stelle sozusagen rückwirkend wieder „eindickt“: In T. 298 kommt eine wunderbar dissonierende punktierte Halbenote a1 hinzu, im Folgetakt das akkordfüllende g1 auf beiden Akkordschlägen. Die Note, die jedoch furchtbar stört, ist in T 298 die zusätzlich zur punktierten Halbenote a1 hinzukommende Viertelnote f1 im ersten Akkord. Dadurch entsteht ein (im Tempo) äußert unbequem zu spielender fünfstimmiger (! statt wie sonst immer vierstimmiger) Akkord, der noch dazu musikalisch-klanglich völlig unnötigerweise (weil nicht hörbar) den Bass(Grund-)ton verstärkt und die klar zu Grunde liegende (schon im Autograph notierte) Oktavlinie plus Terz überdies verschleiert.
Alle späteren Druckausgaben des Werkes, einschließlich der einstmals stark verbreiteten Peters-Ausgabe (Plattennummer 7133) und der früheren Henle-Urtextausgabe (HN 250, inzwischen vergriffen), haben deshalb dieses f1 kurzerhand weggelassen. Die Leipziger Gesamtausgabe sowie die neue, revidierte Urtextausgabe unseres Hauses restituieren das f1, philologisch-editorisch völlig zu Recht:
Wollte man annehmen, das f1 sei tatsächlich unbeabsichtigt in den Druck geraten (was ich persönlich glaube), dann könnte beispielsweise eine (ergänzte?) Punktierung in den verlorenen Korrekturfahnen zum direkt daneben stehenden g1 vom Stecher irrtümlich als Notenkopf f1 verlesen und von Mendelssohn dies übersehen worden sein. Möglich, aber nicht zwingend. Ein vom kritisch und gut Korrektur lesenden Mendelssohn übersehener Stichfehler ist freilich nicht völlig auszuschließen. Übliche, bewährte Editionspraxis besagt jedoch, dass ein Stichfehler nur dann zwingend anzunehmen – und dann zwingend zu verbessern – ist, wenn der Befund musikalisch (!) ohne jeden Zweifel falsch sein muss (in der Fachsprache nennen wir das „Emendation“).
Das ist hier freilich nicht der Fall: Das f1 ist möglich, wenn auch musikalisch und pianistisch störend, um das Mindeste zu sagen. Ein „richtig“ oder „falsch“ gibt es also in solchen Fällen nicht. Philologie und musikalischer Sachverstand widersprechen sich. Jeder Pianist muss hier also für sich entscheiden. Wir werden ihn in der kommenden Auflage durch Ergänzung einer Fußnote mit der Nase auf die hier diskutierte Stelle stoßen. Dank eines Hinweises eines aufmerksamen und sensiblen Pianisten (siehe eingangs). Wir Editoren brauchen solche Musiker, um unsere Urtextausgaben immer ein Stückchen besser zu machen. Danke!
Ich fände es sinnvoll das f’ wegzulassen. Es ist nur schwer spielbar, bringt in keiner Weise etwas Neues, es handelt sich nicht um einen Verlust, wenn es fehlt, und es ist unlogisch, weil es die Auflösung des Vorhalts g-f schon vorwegnimmt. Es handelt sich da nach meiner Überzeugung um einen – wie auch immer entstandenen – Druckfehler.
Danke, Herr Merkes, das sehe ich ganz genau so! Mit herzlichen Grüßen, Ihr Wolf-Dieter Seiffert