Felix Men­dels­sohn Bar­thol­dy (1809–1847)

Ge­le­gent­lich kommt es im Edi­ti­ons­ge­schäft zu un­lös­ba­ren Kon­flik­ten zwi­schen ein­deu­ti­gem Quel­len­be­fund und mu­si­ka­li­scher „Logik“. Auf einen sol­chen be­son­ders span­nen­den Fall mach­te mich der emi­nen­te Pia­nist, Hoch­schul­pro­fes­sor und Freund Mi­cha­el Schä­fer auf­merk­sam. Der Sach­ver­halt ist in we­ni­gen Sät­zen dar­ge­stellt und mei­nen ge­neig­ten Le­sern hier­mit zur Dis­kus­si­on über­reicht.

Felix Men­dels­sohn Bar­thol­dy ge­hört be­kannt­lich zu jener Spe­zi­es Kom­po­nis­ten, die, bis es end­lich zur Druck­le­gung eines neuen Wer­kes kommt, daran un­end­lich fei­len und ver­bes­sern. So auch im Falle sei­nes Kla­vier­tri­os in c-moll op. 66. Nicht nur hat er in sei­nem Par­ti­tur-Au­to­graph seine ur­sprüng­li­che Nie­der­schrift wie be­ses­sen kor­ri­giert und ver­än­dert, son­dern es sind auch im Pro­zess der Druck­le­gung dann noch meh­re­re Kor­rek­tur­sta­di­en do­ku­men­tiert. Noch kurz vor Erst­ver­öf­fent­li­chung bei Breit­kopf & Här­tel im Fe­bru­ar 1846 sand­te Men­dels­sohn den si­cher­lich schon Haare rau­fen­den Ver­le­gern noch eine ei­gen­hän­di­ge aus­führ­li­che Kor­rek­tur­lis­te mit Bitte um Aus­füh­rung zu (was auch noch ge­schah). Dies alles ist ge­ra­de­zu mus­ter­gül­tig im ein­schlä­gi­gen Band der Leip­zi­ger Men­dels­sohn-Ge­samt­aus­ga­be do­ku­men­tiert und be­wer­tet (merk­wür­dig genug, dass es von die­ser Edi­ti­on bis heute keine prak­ti­sche, wohl­fei­le Aus­ga­be für Mu­si­ker gibt …).

Nun zur frag­li­chen Note: Im Fi­na­le des c-moll-Tri­os, in­mit­ten der gro­ßen C-dur-Schluss­apo­theo­se, kommt es noch ein­mal für einen kur­zen Mo­ment zu einer Be­ru­hi­gung („tran­quil­lo“ ab Takt 296 ff.), bevor sich die drei Mu­si­ker dann ful­mi­nant in den gran­dio­sen Schluss wer­fen („semp­re cre­scen­do e con più di fuoco“). In der rech­ten Hand des Kla­viers hat Men­dels­sohn in T. 298 f. die Me­lo­die­li­nie in kon­ven­tio­nel­len Ok­ta­ven plus Terz no­tiert:

Au­to­graph op. 66 T. 294–300

Eine in­ter­es­san­te Ne­ben­be­ob­ach­tung zu die­sem au­to­gra­phen Be­fund: Die vor­aus­ge­hend no­tier­ten klang­ver­stär­ken­den Ok­ta­vie­run­gen hat er ge­stri­chen – im­mer­hin soll die Stel­le p dim, dann p tran­quil­lo er­klin­gen.

Die­sel­be Stel­le ist in der Erst­aus­ga­be nun viel opu­len­ter aus­ge­stal­tet, um nicht zu sagen, in T. 298 fast un­spiel­bar und mu­si­ka­lisch höchst frag­wür­dig ver­än­dert:

Erst­aus­ga­be op. 66 T. 296–299

Da lei­der sämt­li­che zwi­schen dem Au­to­graph und der Erst­aus­ga­be bei Breit­kopf statt­ge­fun­de­nen Kor­rek­tur­sta­di­en ver­schol­len sind, wis­sen wir nicht, ob Men­dels­sohn diese mar­kan­te Än­de­rung ent­we­der in sei­ner ei­gen­hän­di­gen Stich­vor­la­ge des Kla­vier­parts (Quel­le „[C]“ der Ge­samt­aus­ga­be) oder im Pro­zess von Fah­nen­kor­rek­tu­ren vor­ge­nom­men hatte. Phi­lo­lo­gisch ist der Sach­ver­halt klar und was­ser­dicht: Die Erst­aus­ga­be re­prä­sen­tiert ohne Zwei­fel Men­dels­sohns Wil­len, zumal in der be­reits er­wähn­ten Feh­ler-Kor­rek­tur­lis­te Men­dels­sohns an Breit­kopf kurz vor Er­schei­nen diese Stel­le nicht mo­niert, dem­nach final ab­ge­seg­net wird.

Was phi­lo­lo­gisch was­ser­dicht ist, muss mu­si­ka­lisch nicht immer über­zeu­gen. Hier liegt solch ein Fall vor. Klar und leicht nach­voll­zieh­bar ist, dass Men­dels­sohn seine ur­sprüng­lich vor­ge­nom­me­ne klang­li­che „Aus­dün­nung“ der Stel­le so­zu­sa­gen rück­wir­kend wie­der „ein­dickt“: In T. 298 kommt eine wun­der­bar dis­so­nie­ren­de punk­tier­te Hal­be­no­te a1 hinzu, im Fol­ge­takt das ak­kord­fül­len­de g1 auf bei­den Ak­kord­schlä­gen. Die Note, die je­doch furcht­bar stört, ist in T 298 die zu­sätz­lich zur punk­tier­ten Hal­be­no­te a1 hin­zu­kom­men­de Vier­tel­no­te f1 im ers­ten Ak­kord. Da­durch ent­steht ein (im Tempo) äu­ßert un­be­quem zu spie­len­der fünf­stim­mi­ger (! statt wie sonst immer vier­stim­mi­ger) Ak­kord, der noch dazu mu­si­ka­lisch-klang­lich völ­lig un­nö­ti­ger­wei­se (weil nicht hör­bar) den Bass(Grund-)ton ver­stärkt und die klar zu Grun­de lie­gen­de (schon im Au­to­graph no­tier­te) Ok­tav­li­nie plus Terz über­dies ver­schlei­ert.

Alle spä­te­ren Druck­aus­ga­ben des Wer­kes, ein­schließ­lich der einst­mals stark ver­brei­te­ten Pe­ters-Aus­ga­be (Plat­ten­num­mer 7133) und der frü­he­ren Hen­le-Ur­text­aus­ga­be (HN 250, in­zwi­schen ver­grif­fen), haben des­halb die­ses f1 kur­zer­hand weg­ge­las­sen. Die Leip­zi­ger Ge­samt­aus­ga­be sowie die neue, re­vi­dier­te Ur­text­aus­ga­be un­se­res Hau­ses re­sti­tu­ie­ren das f1, phi­lo­lo­gisch-edi­to­risch völ­lig zu Recht:

Hen­le-Ur­text-Aus­ga­be T. 298 f

Woll­te man an­neh­men, das f1 sei tat­säch­lich un­be­ab­sich­tigt in den Druck ge­ra­ten (was ich per­sön­lich glau­be), dann könn­te bei­spiels­wei­se eine (er­gänz­te?) Punk­tie­rung in den ver­lo­re­nen Kor­rek­tur­fah­nen zum di­rekt da­ne­ben ste­hen­den g1 vom Ste­cher irr­tüm­lich als No­ten­kopf f1 ver­le­sen und von Men­dels­sohn dies über­se­hen wor­den sein. Mög­lich, aber nicht zwin­gend. Ein vom kri­tisch und gut Kor­rek­tur le­sen­den Men­dels­sohn über­se­he­ner Stich­feh­ler ist frei­lich nicht völ­lig aus­zu­schlie­ßen. Üb­li­che, be­währ­te Edi­ti­ons­pra­xis be­sagt je­doch, dass ein Stich­feh­ler nur dann zwin­gend an­zu­neh­men – und dann zwin­gend zu ver­bes­sern – ist, wenn der Be­fund mu­si­ka­lisch (!) ohne jeden Zwei­fel falsch sein muss (in der Fach­spra­che nen­nen wir das „Emen­da­ti­on“).

Das ist hier frei­lich nicht der Fall: Das f1 ist mög­lich, wenn auch mu­si­ka­lisch und pia­nis­tisch stö­rend, um das Min­des­te zu sagen. Ein „rich­tig“ oder „falsch“ gibt es also in sol­chen Fäl­len nicht. Phi­lo­lo­gie und mu­si­ka­li­scher Sach­ver­stand wi­der­spre­chen sich. Jeder Pia­nist muss hier also für sich ent­schei­den. Wir wer­den ihn in der kom­men­den Auf­la­ge durch Er­gän­zung einer Fuß­no­te mit der Nase auf die hier dis­ku­tier­te Stel­le sto­ßen. Dank eines Hin­wei­ses eines auf­merk­sa­men und sen­si­blen Pia­nis­ten (siehe ein­gangs). Wir Edi­to­ren brau­chen sol­che Mu­si­ker, um un­se­re Ur­text­aus­ga­ben immer ein Stück­chen bes­ser zu ma­chen. Danke!

Dieser Beitrag wurde unter Autograph, Erstausgabe, Klaviertrio, Klaviertrio c-moll op. 66 (Mendelssohn), Mendelssohn Bartholdy, Felix, Montagsbeitrag, Urtext abgelegt und mit , verschlagwortet. Setzen Sie ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Antworten auf »„Richtig“? – „Falsch“? Zu einer fragwürdigen Note in Mendelssohns c-moll-Klaviertrio op. 66«

  1. Wolfgang Merkes sagt:

    Ich fände es sinnvoll das f’ wegzulassen. Es ist nur schwer spielbar, bringt in keiner Weise etwas Neues, es handelt sich nicht um einen Verlust, wenn es fehlt, und es ist unlogisch, weil es die Auflösung des Vorhalts g-f schon vorwegnimmt. Es handelt sich da nach meiner Überzeugung um einen – wie auch immer entstandenen – Druckfehler.

  2. Seiffert sagt:

    Danke, Herr Merkes, das sehe ich ganz genau so! Mit herzlichen Grüßen, Ihr Wolf-Dieter Seiffert

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert