Nein, von Weihnachten kann eine Woche nach Ostern natürlich keine Rede sein. Aber ein wenig lässt der reiche Segen von inzwischen zwölf Bartók-Urtextausgaben schon an einen Gabentisch denken – zumal mit den jüngst erschienenen Rumänischen Weihnachtsliedern sogar ein veritabler Weihnachtstitel dabei ist. Aber schauen wir doch mal genauer hin…
Eröffnet hat unseren Bartók-Reigen vor zwei Jahren das berühmte Allegro barbaro. Mit Sonatine und Suite op. 14 folgten weitere populäre Einzelwerke sowie Sammlungen über Volksmusik von den Rumänischen Volkstänzen und Ungarischen Bauernliedern bis hin zu den avantgardistischen Improvisationen op. 20. Auch die zwei großen pädagogischen Sammlungen Bartóks liegen mittlerweile vor: das auf ungarische und slowakische Lieder zurückgreifende Einsteiger-Werk Für Kinder und – last but not least – Mikrokosmos, der in seinen 153 Nummern von ersten „Melodien im Unisono“ bis hin zu den „Sechs Tänzen im bulgarischen Rhythmus“ alles abdeckt, was man an den schwarz-weißen Tasten lernen kann.
So haben wir bei Henle in den vergangenen zwei Jahren nicht nur einen weiteren Baustein zur Klaviermusik des 20. Jahrhunderts geliefert, sondern auch eine Menge über Bartóks Musik und deren Edition gelernt. Denn unsere praktischen Ausgaben entstehen ja im Kontext der Kritischen Gesamtausgabe Béla Bartók in enger Zusammenarbeit mit dem Budapester Bartók-Archiv, wo man diesen Fragen seit Jahrzehnten nachgeht. Bei den Klavierwerken arbeiten wir gleich mit drei Generationen Bartók-Forschern zusammen:
Der berühmteste darunter ist natürlich László Somfai, auf den auch die Initiative zur Gesamtausgabe zurückgeht. In Vorbereitung seines für dieses Jahr geplanten Gesamtausgabenbandes mit Klavierwerken 1914–1920 gibt er zahlreiche Einzelwerke im Urtext heraus. Sein Nachfolger am Bartók-Archiv László Vikárius steuerte als Editionsleiter der Gesamtausgabe schon 2016 gemeinsam mit Vera Lampert auch den ersten Band Für Kinder bei und betreut die daraus hervorgegangenen Urtext-Bände. Yusuke Nakahara schließlich gibt als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Archivs unsere dreibändige Mikrokosmos-Urtextausgabe vorab zur Gesamtausgabe heraus.
Die umfangreiche Sammlung im Bartók-Archiv in Budapest und die hervorragende Vernetzung mit der internationalen Bartók-Forschung ermöglichen den Herausgebern die intensive Erforschung von Bartóks Werk und Wirken, was neben den kompositorischen Quellen eben auch die ethnographischen Sammlungen Bartóks, Korrespondenz und persönliche Notizen sowie seine zahlreichen Veröffentlichungen von und zur Musik betrifft. Denn als Kind seiner Zeit hat Bartók sich vielfältigst in Wort und Ton geäußert: ob in Aufsätzen oder Vorlesungen, in Rundfunkaufnahmen, Konzerten oder sogenannten instruktiven Ausgaben von anderen Komponisten.
Diese für den Vortrag bezeichneten und erläuterten Ausgaben der Klavierwerke eines Bach oder Mozart umfassen immerhin fast 2000 Druckseiten in Bartóks Nachlass – und lassen erahnen, wie genau er es mit der musikalischen Notation nahm. Kein Wunder, dass er dann auch bei eigenen Werken die Verleger mit seitenlangen Ausführungen zur Position und Breite von Crescendo-Gabeln konfrontierte und höchste Ansprüche an den Notensatz stellte – eine Herausforderung, die wir gerne annehmen!
Der Notentext unserer blauen Ausgaben entspricht dem der Gesamtausgaben-Bände, aber alles was ihn umgibt, wird für die praktische Nutzung modifiziert: So werden die in der Gesamtausgabe ausführlich diskutierten Fragen zu „Notation und Aufführung“ in der Urtext-Ausgabe auf die wesentlichen Ergebnisse für den Ausführenden zusammengefasst. Als „Aufführungspraktische Hinweise“ liefern sie z. B. Erklärungen zu den Pedalangaben Bartóks oder erläutern seine Unterscheidung der Trennzeichen in den auf Volksmusik basierenden Kompositionen: Während der schlichte Doppelstrich hier nur das Ende einer Strophe markiert (ohne Verzögerung des musikalischen Verlaufs), verlangt ein einfacher Strich oder ein Komma über den Noten ein kurzes Innehalten.
Zugleich finden sich hier Hinweise auf Bartóks eigene Spielpraxis, die wiederum auf die Expertise der Bartók-Forscher in Budapest zurückgehen: Sei es die Auswertung von Programmzetteln, die uns zeigt, wie Bartók aus Riesenwerken wie Für Kinder oder Mikrokosmos für Konzerte einzelne Suiten zusammengestellt hat – und damit heutigen Musikern wichtige Impulse für den nächsten Vortragsabend gibt. Sei es der akribische Vergleich der Tempi, die Bartók in seinen Ausgaben oder beim Vortrag wählte.
László Somfai über seine Ausgabe der Sonatina:
„In den Aufführungspraktischen Hinweisen vergleichen wir die unterschiedlichen Tempi der Erstausgabe, der revidierten Ausgabe und der Aufnahmen Bartóks, um zu zeigen, wie Bartóks Auffassung sich durch die jahrelange Konzertpraxis veränderte.“
Vielleicht am spannendsten sind die erstmals von der Gesamtausgabe geleisteten Transkriptionen von „Konzertfassungen“ aus Bartóks Tonaufnahmen – die in unseren Urtextausgaben als spannende Autorvarianten zum Ausprobieren einladen. Natürlich geschieht dies in klarer Abtrennung zum edierten Urtext: mal durch „alternative“ Bezeichnung in Graudruck wie im Allegro barbaro, mal im Kleinstich-Ossia wie beim zweiten der Rumänischen Tänze, mal in einem eigenen Anhang wie bei Für Kinder.
László Vikárius über seine Ausgabe von Für Kinder:
„Es war eine große Freude, Bartóks so ideenreiche Kinderstücke in den zwei Fassungen (Ungarn 1908–1911, USA 1943) zu studieren und zu veröffentlichen. Auch wenn der vollständige Abdruck der Gesamtausgabe vorbehalten blieb, konnten wir doch wesentliche Varianten der Frühfassung auch im Anhang der Urtextausgabe präsentieren. Eine besondere Herausforderung war es, von zwei Stücken nach Bartóks unglaublich freien Aufnahmen eine Transkription zu erstellen.“
Ein weiterer Vorteil unserer nach der Gesamtausgabe erstellten Urtextausgaben lässt sich beim Mikroskosmos im wahrsten Sinne mit Händen greifen: Hier können wir das von Bartók mit Erläuterungen und Übungen üppig ausgestattete sechsbändige Werk in drei ausgeprochen handlichen Doppelheften anbieten. Dafür haben wir die Quellenbeschreibung auf ein Minimum reduziert (und überlassen detaillierte Ausführungen der Gesamtausgabe) und die für den Musiker wesentlichen Informationen zu Bartóks Aufführungsweise etc. möglichst direkt in den Notentext übernommen:
(Nur in Klammern sei hier angemerkt, dass die in der Fußnote sich andeutende Vernetzung des Haupttextes mit Übungen, Anmerkungen und Varianten sowie weiteren Aufführungspraktischen Hinweisen in der gedruckten Ausgabe schon ein bisschen Lust am Blättern erfordert… Was sich in der Henle Library App natürlich völlig anders darstellt, denn hier ist jede zusätzliche Information nur ein Fingertippen entfernt – man möchte meinen, dass Bartók daran seine Freude gehabt hätte!)
Yusuke Nakahara über seine Ausgabe des Mikrokosmos:
„Ich finde gerade auch das wunderbare Frontispiz in Bd. V–VI erwähnenswert, das eine Seite aus der Stichvorlage zeigt. Man sieht deutlich frühere Zählungen (102–106) und Titel (Five Dances!) für die ‚Sechs Tänze in bulgarischem Rhythmus‘, was belegt, wie Bartók seine pädagogische Sammlung schrittweise vergrößerte.“
Bei den zahlreichen auf Volksmusik gründenden Werken profitieren wir besonders vom Fleiß unserer Kollegen in Budapest. Denn diese Vorlagen werden dort für die Gesamtausgabe kritisch nach den Quellen ediert und die Liedtexte übersetzt. So liefern auch die Urtextausgaben in einem Anhang Melodien und Texte der Lieder samt Übersetzung. Hier findet man dann nicht nur inhaltliche Aufklärung, ob etwa eine unglückliche Liebe (Nr. 1) oder doch nur eine zerrissene Hose (Nr. 8) beklagt wird, sondern auch Hinweise auf strukturelle Aspekte wie Refrains, und damit womöglich einen weiteren Impuls zur musikalischen Gestaltung.
Sind Sie neugierig geworden auf unsere ganz besonderen Bartók-Ausgaben? Dann freuen Sie sich jetzt schon auf die Fortsetzung dieses Blogs mit Ausführungen zu Fingersatz und Bezeichnung in den Klavierausgaben. Bis dahin wünschen wir viel Spaß beim Stöbern in unserer reichen Bartók-Auswahl!