In Fortsetzung meines letzten Blogs mit einem Überblick über unsere Urtext-Ausgaben der Klavierwerke Bartóks widme ich den heutigen Beitrag einem kleinen, aber sehr bedeutsamen Aspekt dieser Editionen: ihrer Bezeichnung mit Fingersatz und Vortragsangaben. Und ich freue mich sehr, dass mir dabei diesmal nicht nur der große ungarische Bartók-Forscher László Somfai, sondern auch der berühmte ungarische Pianist und Bartók-Interpret Dénes Várjon zur Seite steht.
Im Vorspann zu seinem gerade in Vorbereitung befindlichen Gesamtausgaben-Band mit den Klavierwerken 1914–1920 (HN 6202) legt László Somfai ausführlich dar, wie Bartók in jenen Jahren quasi zwei Systeme der Klaviernotation entwickelte: zum einen die eher pädagogisch motivierte, instruktive Bezeichnung mit minutiösen Anweisungen für Phrasierung und Artikulation, Pedalgebrauch und Fingersatz, wie sie beispielsweise in den Rumänischen Volkstänzen oder der Sonatine anzutreffen ist; zum anderen die für den Konzertvortrag (und den fortgeschrittenen Pianisten) eingerichtete Bezeichnung, in der Pedalangaben und Fingersatz meist nur dort erscheinen, wo sie für den gewünschten Klangeindruck entscheidend sind – ein Beispiel dafür ist seine Suite op. 14.
Interessanterweise bieten die Rumänischen Weihnachtslieder (HN 1406) für beide „Stile“ ein Beispiel, denn hier haben wir den Sonderfall, dass Bartók ein zunächst 1918 explizit für Kinderhände eingerichtetes (und entsprechend „ohne Oktavspannung“ auskommendes) Werk später in einer revidierten Ausgabe mit sogenannten „Änderungen für den Konzertvortrag“ publizierte. Diese wuchsen bei manchen Nummern zu veritablen zweiten Fassungen heran. Man vergleiche die Bezeichnung in Nr. I/5 im „instruktiven“ und im „konzertanten“ Stil.
Bartók maß den feinen und feinsten Abstufungen von Akzenten und Phrasierung im Vortrag seiner Werke eine große Rolle zu und entwickelte hinsichtlich ihrer Notation im Laufe seines Pianistenlebens sehr genaue Vorstellungen, die es in unseren Urtext-Ausgaben ebenso wie in der Kritischen Gesamtausgabe zu berücksichtigen gilt. So enthält jeder Band der Gesamtausgabe ein umfangreiches Kapitel zu „Notation und Aufführungspraxis“, das allein zur Frage „Artikulation und Akzente“ mehr als eine Seite füllt.
Aber auch in unseren Urtext-Ausgaben haben wir extra für Bartók ein eigenes Kapitel mit „Aufführungspraktischen Hinweisen“ aufgenommen, das neben Fragen des Tempos und der Pedalisierung auch Phrasierung und Fingersatz betrifft. Wie beides ineinander greift, zeigt Bartóks auf einige wenige, aber besondere Stellen beschränkter Fingersatz in der Suite op. 14 (HN 1403). So bezeichnet er im zweiten Satz nur die im dreifachen Forte und marcatissimo zu spielenden Schlusstakte und garantiert dort mit 1+2 für jeden Einzelton die gewünschte Perkussivität.
Im dritten Satz der Suite findet sich mit Beginn der Zweistimmigkeit in der rechten Hand (T. 34) ein Fingersatz, den man als Hinweis auf die gewünschte Phrasierung in dieser technisch anspruchsvollen Passage deuten kann. In der Gesamtausgabe führt Herausgeber László Somfai dazu aus: „Auch wenn seine Bezeichnung für Pianisten mit kleineren oder größeren Händen oder mit einer anderen Technik als Bartóks nicht ideal sein mag, so gibt sie uns einen Eindruck davon, wie er selbst schwierige Stellen anging.“
Der ungarische Pianist Dénes Várjon stimmt damit voll und ganz überein: „Wir können uns glücklich schätzen, dass wir einige Original-Fingersätze von Bartók besitzen. Sie sind extrem wichtig. Wann immer es solche Angaben gibt, verwende ich sie. Für mich sind sie eine Botschaft Bartóks, die uns dem Verständnis seiner Werke näher bringt. Neben seinen Aufnahmen ist alles, was er geschrieben hat, eine höchst bedeutende Inspirationsquelle für den Ausführenden.“
Auf dieser Grundlage entwickelte Várjon auch seinen Fingersatz für einige unserer Bartók-Ausgaben. Denn in guter Henle-Urtext-Tradition liefern wir bei den von Bartók nur geringfügig bezeichneten Werken einen modernen Fingersatz. (Aus diesem Grund finden sich im zweiten Beispiel aus der Suite zusätzlich zu den kursiv gesetzten Ziffern – von Bartók – auch gerade gesetzte Ziffern – von Várjon.) Und für Bartók ließ sich Dénes Várjon auch sogleich entflammen: „Ich habe mich sehr gefreut und war ganz begeistert, als der Henle-Verlag mich einlud zu drei Werken in der neuen Urtext-Ausgabe den Fingersatz beizusteuern. Es war eine große Ehre und ist zugleich eine große Verantwortung. Seit meiner Kindheit hat Bartók für mich nicht nur als Komponist, sondern ebenso als Pianist und als Mensch ein große Bedeutung. Ich wuchs mit seiner Musik auf, und seine Aufnahmen sind für mich als Pianist ein ständiger Quell der Inspiration. Zugleich bewundere ich den großen Bartók-Forscher László Somfai, mit dem ich mich glücklicherweise schon oft über Bartók und seine Musik austauschen konnte.“
Auch für Várjon geht die Bezeichnung eines Werkes über eine rein handwerkliche Aufgabe weit hinaus: „Ein Werk mit Fingersatz auszustatten, ist immer eine höchst knifflige Aufgabe. Zunächst verwende ich schon manchmal selbst unterschiedliche Fingersätze – und so wie ich bei keiner Aufführung das Gefühl habe ‚das war jetzt die endgültige Version‘, geht es mir auch beim Fingersatz. Zudem haben wir alle so unterschiedliche Hände, dass es gar nicht einfach ist, eine Lösung zu finden, die für viele Klavierspieler passt. Aber Fingersatz ist nicht nur eine praktische Frage, sondern er erzählt uns auch viel über den Zugang des Musikers – wie er oder sie eine bestimmte Stelle musikalisch gestaltet. Das war für mich der wichtigste Grundsatz und Ausgangspunkt.“
Beispiele für den Fingersatz als Botschafter der musikalischen Gestaltung finden sich zahlreich in Várjons Bezeichnung. Sei es das Portato der linken Hand zu Beginn der Nr. 2 aus den 15 Ungarischen Bauernliedern (HN 1404) oder das Ausklingen des ersten Melodieabschnitts in T 40.
Die Improvisationen über ungarische Bauernlieder op. 20 gehören ebenso wie die Suite zu den sehr anspruchsvollen Stücken Bartóks, sind aber ungewöhnlich stark bezeichnet. László Somfai bekannte mir gegenüber dazu: „Die Herausgabe der Improvisationen war ein echtes Problem. […] Obwohl es sich um ein Werk handelt, das sich an Hörer neuer Musik wendet, vorzugsweise in Bartóks eigenem Vortrag, ist die Partitur – bis auf einen Fingersatz – gespickt mit detailliertesten Angaben zu Anschlag, Phrasierung, Tempowechseln etc. und enthielt zudem Fehler, die bis in die jüngsten Ausgaben stehen blieben.“
Während die Fehlerkorrektur beim Bartók-Philologen László Somfai in den besten Händen lag, liefert Bartók-Interpret Dénes Varón hier den „fehlenden“ Fingersatz. An einer Stelle zu Beginn von Nr. V geht er dabei sogar so weit, die von Bartók in der Halsung der Akkorde angedeutete Verteilung der Hände (1. Akkord links, 2. und 3. Akkord rechts) durch seinen Fingersatz zu verändern, indem er den ersten Akkord mit dem 3. Finger der rechten und linken Hand spielen lässt.
Im musikalischen Sinne folgt er damit freilich dem Komponisten, denn die Abstufung der Akzentuierung ist auch durch diesen „Kunstgriff“ gewährleistet. Zugleich zeigt der Fingersatz seinen persönlichen Zugang zu einem Werk, das zu den Favoriten des Pianisten gehört: „Die Improvisationen und die Suite op. 14 gehören schon immer zu meinen Lieblingsstücken, und auch die 15 Ungarischen Bauernlieder habe ich schon viele Male aufgeführt. Ich hoffe nur, dass ich diese aufregende Arbeit noch weiter fortsetzen kann, aus der ich so viel lerne und die mir die Komplexität und den Reichtum dieser Werke noch klarer macht.“