Wer die heute im Handel befindliche Ausgabe des Originalverlags Durand mit der 1874 erschienenen Erstausgabe von Saint-Saëns’ Romance für Flöte und Klavier op. 37 vergleicht, wird schnell eine markante Abweichung in Takt 102, am Ende des im Verlaufs des Stücks mehrfach variierten Hauptgedankens, bemerken:

Durand, aktuelle Ausgabe, Flöte, T. 100103

Durand, Erstausgabe (1874), Flöte, T. 100–103

Bei der Sichtung der Quellen des Stücks stößt man in der erhaltenen ersten autographen Niederschrift (1871) auf folgende Notierung der fraglichen Stelle:

Autograph, T. 102–103

Wie in den Takten zuvor trug Saint-Saëns in den jeweils vierzeiligen Akkoladen den Flötenpart in die oberste Zeile, den Klavierpart in den beiden unteren Zeilen ein. Eindeutig notierte er dabei mit Tinte zunächst die Variante I, die wir aus der aktuellen Durand-Ausgabe kennen, trug aber später mit Bleistift in die freie zweite Zeile die Variante II nach, die in der Erstausgabe gedruckt wurde. Dass es sich hier nicht um eine Korrektur handelt, geht nicht nur aus der fehlenden Streichung der Erstfassung, sondern auch aus der geschweiften Klammer um beide Varianten hervor. Eine Alternative also, keine Korrektur. Da sich keine unmittelbaren musikalischen Gründe – die Harmonik (As7) bleibt gleich – für die Notierung der Alternative aufdrängen, liegt der Verdacht nahe, dass es um eine vereinfachte Ausführung geht.

Und in der Tat: Wie mir die Flötenlehrerin Christel Drebes-Heinemann demonstrierte, ist der kleine Finger bei der Folge ges1es1c1 | es1des1 in den Takten 102 f. besonders gefordert. Denn dieser hat zuerst das ges1 zu greifen, bleibt dann für das es1 liegen und muss danach für die Folge c1es1des1 jedes Mal die Position wechseln – Fingerakrobatik, die vor allem für kleinere Finger anstrengend ist.

F = kleiner Finger

 

 

 

Man darf annehmen, dass die Ausführung dieser Passage für die seinerzeit berühmten Flötisten, mit denen Saint-Saëns die Romance aufführte, das heißt für den Widmungsträger Amadée de Vroye sowie später für Paul Taffanel, kein Problem darstellte; sie dürften den Komponisten aber darauf hingewiesen haben, dass es sich bei der Tonfolge in Takt 102 um eine heikle Stelle handelt.

Der Befund des Autographs zieht eine Reihe von Fragen nach sich, die sich aber nur zum Teil beantworten lassen. Saint-Saëns bot in mehreren seiner Werke Ossias für solche schwierigen oder zumindest unbequemen Stellen an, als Beispiel seien nur die als „Facilités“ bezeichneten Erleichterungen (Einzelnoten statt Zweiklänge) für die rechte Hand der Solopartie im Presto-Finale im 2. Klavierkonzert (HN 1355) oder die Ossias (Akkorde statt 16tel-Passagen der Violine) im Schlussteil der 1. Violinsonate (HN 572) genannt. Warum tat er dies nicht auch im Falle der Romance? Der Verleger wäre sicherlich auch hier bereit gewesen, ein Ossia einzurücken: Variante I im Haupttext, Variante II als „Facilité“ in einer Ossia-Zeile darüber …

Zurück zur Quellenlage: Die erwähnte erste autographe Niederschrift diente nicht als Stichvorlage für die Erstausgabe drei Jahre später. Es muss eine zweite Niederschrift gegeben haben, die heute verschollen ist und möglicherweise erst für den Druck als Reinschrift neu ausgeschrieben wurde; welche der Varianten dort notiert war, bleibt also unklar.

Es könnte sein, dass die frühen Aufführungen, darunter die Premieren für die Klavier- wie auch die Orchesterfassung (Baden-Baden, 8. und 13. Juli 1871), noch mit der Variante I des Taktes 102 gegeben wurden. Danach muss sich Saint-Saëns, und zwar spätestens bei der Durchsicht der Druckfahnen 1874, zum Wechsel zur Variante II entschlossen haben. Auch wenn sich keine Dokumente erhalten haben, dürfte jedenfalls die Erstausgabe nicht ohne Autorisierung des Komponisten erschienen sein. Zu diesem Zeitpunkt war er unzweideutig der Ansicht, die leichter ausführbare Version als allein gültige drucken zu lassen.

Wann und warum wurde aber in späteren Ausgaben die Variante I wieder eingeführt? Offensichtlich gab das Erscheinen der Orchesterfassung 1897, in der gemäß der Stichvorlage, einer nicht datierten Abschrift, die Variante I notiert ist, den Ausschlag für die Änderung in der Klavierfassung, jedenfalls weisen alle Drucke nach 1897 die Variante I auf. Wurde die Anpassung von Verlagsseite vorgenommen oder war es Saint-Saëns selbst, der zu seiner ersten Eingebung zurückkehrte? Darauf gibt es leider keine Antwort; nicht ausgeschlossen, dass er beide Varianten im Druck toleriert hat, aber sich – aus welchen Gründen auch immer – weder in der Klavier-, noch in der Orchesterfassung für eine Ossia-Notierung entscheiden wollte. In der neuen Henle-Edition, die demnächst erscheinen wird (HN 1354) wird dies jetzt nachgeholt, denn die Entscheidung für die Variante II, die ja mindestens eine Zeit lang unangefochten gültig war, sollte unbedingt den heutigen Flötisten mitgeteilt werden, die ursprüngliche, heute üblicherweise gespielte Variante I aber natürlich nicht unterschlagen werden:

Henle-Edition, Takte 97–115

Die Wiedergabe von Variante II im Haupttext ist lediglich der Konsequenz geschuldet, dass die Erstausgabe der Klavierfassung die Hauptquelle bildet, und bedeutet hier keine Wertung – es bleibt dem Interpreten überlassen, welche er auswählt, da der Wille des Komponisten letztlich nicht zu entschlüsseln ist.

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3 Antworten auf »Was wollte der Komponist? Zu einem merkwürdigen Takt in Saint-Saëns’ Romance für Flöte op. 37«

  1. Dr. Gunther Joppig sagt:

    Ich kenne als studierter Oboist die Flötensonate von Saint-Saens nicht, aber die Vermeidung des eingestrichenen c in der Erstausgabe könnte ein Wunsch des Verlegers im Hinblick auf einen Liebhaber-Kundenkreis sein, der noch über ein älteres Flötenmodell ohne C-Fuß verfügte, die es im 19. Jahrhundert noch vielfach gab. (Dies aus der Sicht des Musikinstrumentenkundlers.)

  2. Die Ursache für die Änderung ist wohl nicht in der (etwas unbequemen) Griffverbindung mit dem c’ zu suchen, sondern in den damals noch weit verbreiteten Instrumenten mit d’-Fuß – auf diesen wäre die Variante mit c’ nämlich nicht spielbar. Bei einer Aufführung auf der modernen Boehmflöte ist sicher die Fassung mit c’ zu bevorzugen.

    • Peter Jost sagt:

      Sehr geehrter Herr Thalheimer, sehr geehrter Herr Joppig,

      Ihr Argument des fehlenden C-Fußes klingt auf den ersten Blick überzeugend, allerdings kommt in der Romance der tiefe Ton c’ bereits in den Takten 17 und 73 in weniger heiklen Griffkombinationen vor, ohne dass Alternativen vorgesehen sind. Saint-Saëns ging also offenbar davon aus, dass der Ton an sich spielbar war.

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