Wie die Zeit vergeht – diese wenig originelle Erkenntnis ereilte mich, als ich vor einer Woche meinen neuen Froberger-Blog zu planen begann. Denn ich hatte das Gefühl, den letzten Beitrag zu diesem Thema doch gerade erst vor Kurzem geschrieben zu haben. Weit gefehlt! Es war 2016, vor 3 Jahren, als ich unsere Ausgabe zu Frobergers 400. Geburtstag vorstellte. Dieser Querschnitt sollte aber sozusagen nur ein „Appetizer“ sein, ein Überblick über die Gattungen für Tasteninstrument, die Froberger immer wieder bediente: Toccata, Fantasia, Canzone, Suite (Froberger verwendet stets den gleichbedeutenden Begriff Partita). Darunter sind die Suiten zweifellos die berühmtesten Werke Frobergers, und in unserer Auswahlausgabe haben wir (natürlich) aus dem Suitenschaffen gleich das beliebteste Stück ausgewählt: die Partita „auff die Mayerin“, deren einzelne Sätze Variationen auf das seinerzeit beliebte Volkslied darstellen.
Aber das sollte natürlich nicht das letzte Wort des G. Henle Verlags zum Thema Froberger darstellen. Gemeinsam mit dem niederländischen Cembalisten, Organisten und Musikwissenschaftler Pieter Dirksen machten wir Pläne, eine größere Sammlung mit Werken Frobergers herauszubringen. Nach eingehender Beratung reifte dann der Entschluss, sämtliche Suiten in einem Band zu veröffentlichen – ein Großprojekt, an dessen Vorbereitung wir fleißig arbeiten. Die Edition wird sämtliche Suiten enthalten, die autograph in den beiden großen Sammelhandschriften Libro secondo und Libro quarto überliefert sind, darüber hinaus diejenigen Suiten aus der abschriftlichen Überlieferung, die mit einiger Wahrscheinlichkeit Froberger zuzuschreiben sind. Enthalten sind natürlich auch die berühmten Tombeaus und Lamentationen, sodass der Band auf insgesamt gut 30 Werke kommt. Ein Schwergewicht, voll mit herrlicher Musik (davon durfte ich mich, dem diese Musik nur in Teilen bekannt war, beim Lektorieren überzeugen)!
Die Quellenlage ist für viele dieser Suiten ausgezeichnet, ja, oft sogar „zu“ gut (will sagen: Es sind oft sehr viele Quellen nur für ein Werk allein überliefert). Bei den autograph überlieferten Stücken ist die Frage nach dem Komponistenwillen meist leicht zu beantworten. Schwieriger wird es bei den Werken, die nur in Abschriften erhalten sind. Denn die Vielzahl der Quellen überliefert eine Vielzahl von Varianten – ein Zeichen dafür, dass die Werke Frobergers außerordentlich beliebt und in der improvisatorischen Aufführungspraxis der Zeit fest verankert waren. Hier gilt es auszuwählen, was wohl dem Willen Frobergers nahe kommt und was nicht. Kein ganz leichtes Unterfangen, außerdem soll der Notentext unserer Ausgabe übersichtlich bleiben, weshalb nur die plausibelsten solcher Varianten dokumentiert werden.
Blickt man aus der Vogelperspektive auf diese Edition, so stellt man fest, dass man doch immer wieder vor ähnlichen Problemen steht – und das sind, abgesehen von der Variantenproblematik, vor allem Vorzeichenfragen. Da unsere Suiten-Ausgabe noch nicht erhältlich ist (sie erscheint erst Ende des Jahres), hier ein paar Beispiele, die ich der oben erwähnten Auswahlausgabe entnommen habe. Und vielleicht legt sich der ein oder andere Leser daraufhin diesen „Appetizer“ zu, sollte er noch nicht im heimischen Notenschrank stehen.
Die „Mayerin“-Suite besteht aus dem Liedthema (Prima Partita), gefolgt von fünf Variationen (Seconda, Terza, Quarta, Quinta, Sesta Partita); die letzten beiden Sätze bilden eine Courante über das Liedthema (inklusive Double, also wiederum eine Variation der Courante) sowie eine Sarabande über das gleiche Thema. Allen Sätzen liegt das gleiche motivisch-harmonische Schema zugrunde, das nur in der Partita Sesta, einer von Chromatik durchsetzten Variation nennenswert aufgebrochen wird. Froberger variiert in den anderen Sätzen vor allem durch Umspielungen und Passagenwerk abwechselnd in beiden Händen. Die Frage ist nun: Sollen die harmonischen Verläufe in den Sätzen wirklich absolut deckungsgleich mit dem Thema sein? Schauen wir uns das Ende von T. 6 an:
Das Lied wendet sich hier nach E-dur, Zwischendominante zum folgenden A-dur, das über D-dur schließlich in die Grundtonart G-dur führt. Was passiert mit diesem „E-dur“ nun in den folgenden Variationen? Die Seconda und Terza Partita bilden es ziemlich originalgetreu ab, in der Quarta Partita jedoch stellt sich die Stelle so dar:
Das Auflösungszeichen in unserer Edition steht nicht in der Quelle, es handelt sich um ein bloßes Warnvorzeichen, denn erinnern wir uns: gemäß den Notationsgewohnheiten ungefähr bis Bach, gilt ein Vorzeichen jeweils nur für die folgende Note und nicht für den ganzen Takt, geschweige denn für alle Oktavlagen (dazu siehe den Blogbeitrag vom 12.05.2014). Also: Von E-dur ist hier keine Spur, das liegt vor allem an der fehlenden Terz; aber auch die Noten c2 und d2 klingen „komisch“, wenn man das so salopp sagen darf. „Komisch“ kam das auch Guido Adler vor, der in seiner bis heute grundlegenden Edition die beiden Noten zu cis2 und dis2 änderte. Offenbar war ihm dieser Gedanke aber spät gekommen, denn die Vorzeichen sind ganz offensichtlich erst später auf den Platten ergänzt worden.
Kann es sein, dass Froberger die Vorzeichen einfach vergessen hat? Sah er, trotz alter Vorzeichenregel, das Kreuzvorzeichen vor dis1 in der ersten Takthälfte auch weiterhin für gültig an, auch in der oberen Oktave? War für ihn der Bezug zum Thema so stark, dass er „E-dur“ als selbstverständlich erachtete? Und hat Froberger das Vorzeichen vor c2, das dann zu cis2 wird, einfach vergessen? Oder hören wir mit „modernen Ohren“ einfach falsch, und die Noten c2–d2 stellen überhaupt kein Problem dar?
Die meisten dieser Fragen sind wohl nicht endgültig zu entscheiden. Nur die Sache mit dem „E-dur“ als zwingender Bezug zum Thema kann relativ schnell entkräftet werden. In der Courante etwa schreibt Froberger an der gleichen Stelle e-moll. Es ist also keinesfalls so, dass die Variationen harmonisch deckungsgleich mit dem Thema sein müssen.
Schauen wir zum Schluss noch auf die Quinta Partita. Hier finden wir nun, an der gleichen Stelle, die Note cis, die wir in der Quarta Partita so vermisst haben. Ein dis ist hingegen auch hier nicht notiert.
An dieser Stelle stimmt Guido Adler übrigens mit unserer Edition überein.
Die Ursachen für die Problematik dieser Stelle liegen auf zwei Ebenen:
1) Wie zuverlässig ist die Setzung von Vorzeichen in den Quellen? Schreibt Froberger konsequent nach der „alten Regel“, wonach ein Vorzeichen immer nur für die unmittelbar folgende Note gilt?
2) Wie eng ist das Verhältnis Thema-Variation zu sehen? Diese Frage stellt sich in unserem in Vorbereitung befindlichen Gesamtband der Suiten immer wieder. Denn auch wenn Froberger abgesehen von der Mayerin keine „Variationen“ im engeren Sinne schreibt, so kommen doch zahllose Doubles vor, die jeweils den Hauptsatz variierend umspielen. Und auch die einzelnen, eigentlich unabhängigen Sätze einer Suite weisen harmonische und motivische Gemeinsamkeiten auf, sind also häufig als freie Variationenreihen angelegt. Muss ein Herausgeber, wenn die Quellen unklar sind (siehe Punkt 1), die harmonischen Gegebenheiten immer an das Grundmodell des Themas angleichen?
Diese und ähnliche Fragen sind bei der Froberger-Edition tägliches Brot, und ich bin gespannt, was die Blog-Leserschaft dazu meint!