Auch wenn der Chorsatz „Freude schöner Götterfunken“ aus der 9. Symphonie vermutlich zu den bekanntesten Beethoven-Melodien gehört, so ist Beethovens Popularität und musikgeschichtliche Bedeutung heute doch in erster Linie mit seinem Instrumentalwerk verknüpft: Die 32 Klaviersonaten als das „Neue Testament der Klaviermusik“, die 9 Symphonien als Meilenstein der Symphonik, die Streichquartette als Inbegriff der Goetheschen Vorstellung eines Gesprächs unter „vier vernünftigen Leuten“. So weit so gut, aber als Lektorin für Vokalmusik im Henle-Verlag sehe ich das naturgemäß etwas anders – und lade Sie hiermit zu einem kleinen Streifzug durch die ganze Vielfalt von Beethovens Vokalwerk ein, die wir bei Henle für Sie bereithalten.
Schon mengenmäßig ist Beethovens Output für die menschliche Stimme immens, wie ich als Redakteurin des neuen Beethoven-Werkverzeichnisses vor einigen Jahren en detail nachvollziehen durfte: Unter den dort im 1. Band aufgeführten Opera 1–138 nehmen sie nur knapp ein Fünftel ein. Aber hätten Sie gedacht, dass die dem 2. Band vorbehaltenen Werke ohne Opuszahl (die sogenannten „WoOs“) mit WoO 87–205 und 220–228 noch einmal weit über einhundert Vertonungen umfassen, die von Einlagearien über Chorwerke, Volksliedbearbeitungen und Klavierliedern bis hin zu Kanons und Musikalischen Scherzen reichen?
Zwar kann man bei den über 70 Kanons und Scherzen kaum von einem klassischen „Werk“ im emphatischen Sinne sprechen, zumal wenn es sich um die (erstaunlich zahlreichen!) Vertonungen des Vornamens „Tobias“ handelt, mit denen Beethoven seine Briefe an den Verleger Tobias Haslinger schmückte. Auch der mit Eselslauten unterlegte Kanon „Esel aller Esel“ WoO 227 zählt sicher nicht zur musikalischen Weltliteratur… Aber es finden sich unter diesen Gelegenheitskompositionen auch reizende musikalische Miniaturen wie der sechsstimmige Kanon auf Goethes Worte „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ WoO 185 oder das nachgerade philosophische „Wir irren allesamt, nur jeder irret anderst“ WoO 198, das in Beethovens letztem Lebensjahr entstand und mit seinen vier Takten gewissermaßen die letzte „vollendete Komposition“ darstellt. Die oft verschlüsselten Rätselkanons gaben Beethovens Zeitgenossen wie heutigen Editoren Stoff zum Knobeln, da es oft gar nicht trivial ist, herauszufinden, wo und in welcher Lage die nächste Stimme einsetzen soll. Insofern dürfen wir besonders gespannt sein auf den in Vorbereitung befindlichen Band der Beethoven-Gesamtausgabe, der diesen Werken gewidmet sein wird. (Schon jetzt Nachhören kann man diese selten aufgeführten Sätze übrigens bequem im Digitalen Archiv des Beethovenhauses – schnuppern Sie doch mal rein!)
Ebenfalls mit Einschränkungen zum „Vokalwerk“ zu zählen ist Beethovens Beitrag zu George Thomsons enzyklopädischem Unternehmen, schottische, irische und walisische Volkslieder in Bearbeitungen zeitgenössischer Komponisten wie Beethoven, Haydn, Weber oder Hummel zu veröffentlichen. Hier erhielt der Komponist die Melodien der Lieder nämlich von Thomson vorgegeben und sollte dazu „nur“ einen Begleitsatz für Klaviertrio komponieren. Zu diesem machte der Auftraggeber klare Angaben, ob er hier ein Vorspiel oder dort ein Zwischenspiel haben wollte, und forderte mitunter Umarbeitungen, wenn ihm der Klaviersatz technisch zu anspruchsvoll oder der „unschuldigen Melodie“ nicht angemessen erschien. Dass Beethoven trotz solcher Restriktionen zwischen 1810 und 1820 über 160 solcher Bearbeitungen schuf, von denen ein Großteil inzwischen in der Beethoven-Gesamtausgabe erschienen ist, lässt sich durch die eher geringe Honorierung kaum erklären. Vielmehr muss den Schöpfer großer Kammermusik hier wohl auch ein gewisser Ehrgeiz erfasst haben. Denn in seiner Begleitung knüpft Beethoven zu den vorgegebenen Melodien, die vom fröhlichen Rundtanz bis zum melancholischen Air reichen, immer neue und überraschende Bezüge, die diese heute leider wenig bekannten Stücke für die Sänger zu einem Fest und für die Zuhörer zu bester musikalischer Unterhaltung machen.
Während die Volksliedbearbeitungen noch ihrer Anerkennung durch das heutige Publikum harren, haben die Beethovenschen Klavierlieder sich diese natürlich schon lange errungen. Der wunderbare Zyklus „An die ferne Geliebte“ op. 98 markiert darin sicherlich einen Höhepunkt, und das berühmte „Flohlied“ aus Goethes Faust gehört wohl zu den originellsten – nicht zuletzt, weil Beethoven hier kraft einer Fingersatzangabe (den gebunden, aber durchweg mit dem Daumen zu spielenden 32tel-Figuren am Schluss) sogar das Knicken der lästigen Flöhe vertont.
Aber auch andere Lieder lohnen die nähere Beschäftigung: So haben wir mit der Beethoven-Lied-Spezialistin Helga Lühning vor einigen Jahren einen Band mit Beethovens Goethe-Vertonungen zusammengestellt, in dem sich nicht nur das zu Herzen gehende „Freudvoll und leidvoll“ des Klärchen aus dem Egmont findet, sondern auch die Mignon aus Wilhelm Meisters Lehrjahren zu Wort kommt. Neben dem berühmten „Kennst du das Land?“, mit dem Beethoven 1810 seine Sechs Gesänge op. 75 eröffnete, steht in unserem Band auch das kleine Schwesterwerk „Sehnsucht“ WoO 134, in dem er das Gedicht „Nur wer die Sehnsucht kennt“ vertonte – und zwar gleich vier Mal! Denn als er 1808 den Auftrag zur Vertonung eines Goethe-Gedichts für die literarische Zeitschrift Prometheus erhielt, hatte er zwar genügend Ideen, aber offenbar keine Zeit, sie zu einem rundum gelungenen Lied auszuarbeiten. So übersandte er den vermutlich einigermaßen verdutzten Herausgebern der Zeitschrift sein Autograph mit mehreren Versionen, worauf er vorne notierte „Nb: Ich hatte nicht Zeit genug, um ein Gutes hervorzubringen, daher Mehrere Versuche“. In der Zeitschrift erschien 1808 nur die erste der vier Versionen, aber zwei Jahre später sollten alle vier in einer eigenen Ausgabe erscheinen und damit schon den Zeitgenossen einen höchst interessanten Einblick in die musikalische Phantasie des Meisters gewähren.
Ebenfalls Einblick in Beethovens Werkstatt gibt eine andere eigens für die Praxis zusammengestellte Sammlung im Henle-Katalog mit einzelnen Sopran-Arien sowie einem Duett und einem Terzett. Sie enthält nämlich neben dem berühmten „Ah! perfido“ op. 65 auch so weitgehend Unbekanntes wie Szene und Arie „No, non turbati“ WoO 92a nach einem Text von Pietro Metastasio, die aus Beethovens Unterricht bei Antonio Salieri im Winter 1801/02 stammt. Die autographen Handschriften lassen drei Stufen nachvollziehen: Beethovens erste Niederschrift der Partitur, dann Korrektureinträge Salieris und schließlich eine erneute Niederschrift der Singstimme, in der Beethoven teils Salieris Korrekturen (vor allem der Diktion) berücksichtigt, teils aber auch andere Veränderungen vornimmt. Die synoptische Darstellung der drei Stufen, die Herausgeber Ernst Herttrich für die Beethoven-Gesamtausgabe gewählt hatte, war für eine praktische Ausgabe natürlich keine Option – aber die beiden musizierbaren Versionen vor und nach Salieris Eingriffen konnten wir in unsere Ausgabe übernehmen und mit dem Klavierauszug von Joseph Kanz erstmals beide für die Praxis nutzbar machen.
Sind Sie neugierig geworden? Dann blättern Sie doch mal bei Beethoven vokal im Henle-Katalog – wir wünschen viel Vergnügen!
Während der Corona-Lockdown habe ich mich mal wieder mit Beethoven beschäftigt: diesmal das Vokalschaffen durchgespielt. Und da kamen selbstverständlich die Bekannten und dessen Beziehungen vorbei, wie z.B. zwischen Gegenliebe WoO 118 und der Chorphantasie, oder dem Punschlied WoO 111 und dem Ritterballett. Und da stiess ich auch auf eine für mich bis dann unbekannte Beziehung: Selbstgespräch WoO 114 mit dem C-dur Klavierkonzert op.15.
Es handelt sich hier um T. 51-57 des Liedes (hier https://www.beethoven.de/de/work/view/4847404134170624/%26quot%3BSelbstgespr%C3%A4ch%26quot%3B%2C+Lied+f%C3%BCr+Singstimme+und+Klavier+WoO+114?fromArchive=5937910725476352
zwischen 1’13 und 1’21) und
T.15-20 des Finales des Konzertes (hier https://www.beethoven.de/de/work/view/5158520055922688/Konzert+f%C3%BCr+Klavier+und+Orchester+Nr.+1+%28C-Dur%29+op.+15?fromArchive=5150891422253056
zwischen 0’13 und 0’17 ).
Interessanterweise wurde die Komposition des WoO 114 höchtstwahrscheinlich noch in Bonn in 1792 angefangen. Aber die älteste Skizzen für das Konzert (einschliesslich des Rondo-Themas des Schlusssatzes) sollten erst in 1793 in Wien entstanden sein. Interessant: Eine Art von unbewusster Selbstzitierung?