Viele Leser (und Spieler!) werden es schon bemerkt haben: Nach und nach revidieren wir unsere Urtextausgaben der Klavierwerke von Johann Sebastian Bach. Wie bei allen Revisionen, die wir in den letzten Jahren im Lektorat angestoßen haben, gilt auch hier: der bisher erhältliche Urtext ist keineswegs falsch oder schlecht. Revidiert wird der Notentext nur dann, wenn die Forschung zu dem jeweiligen Komponisten neue Erkenntnisse zutage gefördert hat (etwa wenn neue Quellen aufgetaucht sind) oder wenn man die Kommentierung der Ausgabe auf den neuesten wissenschaftlichen Stand bringen möchte. Meine Kollegin Annette Oppermann hat vor einigen Jahren zum Thema „Revision“ einen Blog-Beitrag geschrieben, auf den ich hier unbedingt verweisen möchte.
Oft ist es bei einer Revision so, dass sich im eigentlichen Notentext gegenüber der bisherigen Ausgabe gar nicht so viel ändert. Das ist beruhigend, denn es zeigt doch, dass der Henle-Urtext keineswegs ein Verfallsdatum hat! Oft erfüllt uns diese Erkenntnis mit großem Respekt vor unseren Vorgängern: Obwohl ihnen manche musikwissenschaftliche Erkenntnis oder gar Quelle noch nicht zur Verfügung stand, lagen sie mit ihrer Sicht auf den Notentext doch goldrichtig!
Die Revision der Sechs Partiten BWV 825–830 (auch weiterhin wahlweise erhältlich mit oder ohne Fingersatz) ist im Grunde ein solcher Fall, bei dem die Neubeschäftigung mit den Quellen keine fundamentale Zeitenwende eingeläutet hat. Wie denn auch? Denn für ein Werk von Johann Sebastian Bach ist die Überlieferung der Partiten ein Traum. Der Zyklus war dem Komponisten so wichtig, dass er ihn im Selbstverlag im Druck erscheinen ließ. Musik zu drucken war in Bachs Zeit keineswegs eine Selbstverständlichkeit – in der Regel dienten Abschriften der Verbreitung musikalischer Werke. Bach veröffentlichte die Partiten zunächst in Einzeldrucken und fasste sie 1731 schließlich in einem Sammeldruck als „Opus 1“ zusammen, der in den Folgejahren zwei weitere Auflagen erfuhr. Offensichtlich eine Erfolgsgeschichte. Dass Bach den Druck beaufsichtigte, ist unbestritten, er korrigierte auch in den verschiedenen Auflagen immer wieder den Notentext. Wie kann es also bei einer solchen Quellenlage Unschärfen im Notentext geben, wo wir doch einen von Bach selbst freigegebenen und sorgfältig korrigierten Druck als Grundlage haben?
Klar, auch dieser Druck ist nicht fehlerfrei und lässt hier und da Interpretationsspielraum offen. Aber das ist nicht das eigentliche Problem. Viel stärker wiegt, dass in vielen der überlieferten Druckexemplare handschriftliche Ergänzungen zu finden sind, deren Bedeutung erst in jüngster Zeit vollständig erkannt wurde. Man wusste von diesen Ergänzungen auch schon in der „alten“ Ausgabe. In der Zwischenzeit sind jedoch weitere Korrekturexemplare aufgetaucht, die man damals noch nicht kannte. Und auch in der Bewertung traut sich die Forschung heute etwas weiter vor als in früherer Zeit, indem sie mit größerer Sicherheit annimmt, dass die meisten dieser Ergänzungen und Korrekturen direkt oder indirekt auf Bach selbst zurückgehen. Abgesehen von diesen annotierten Druckexemplaren gibt es eine parallele abschriftliche Überlieferung, über die man ebenfalls heute mehr weiß als zu den Zeiten der ersten Partiten-Ausgabe im G. Henle Verlag. Zu allen Details sei die Lektüre von Vorwort und Quellenbewertung von unserem Herausgeber Ullrich Scheideler empfohlen.
Was bedeutet das aber nun konkret für unsere revidierte Ausgabe? Vereinfacht könnte man es vielleicht so sagen: An den „harten Fakten“ des Notentextes hat sich durch die Revision wenig geändert. Durch die breitere Quellenbasis und die neuen Erkenntnisse ist der Text jedoch nun „offener“ geworden. Ullrich Scheideler bietet in seiner Edition weitaus mehr Alternativen an als die bisherige Ausgabe.
Die allermeisten Ergänzungen in den annotierten Druckexemplaren beziehen sich auf Ornamente. Teilweise hat es den Anschein, als habe Bach im Unterricht exemplarisch zeigen wollen, wie man einen Notentext im Extremfall auszieren kann. Ob all diese hinzugefügten Ornamente wirklich zu spielen sind – das ist die Frage. Auch wissen wir nicht, ob Bach sie als tatsächlichen Bestandteil des fixierten Notentextes verstanden wissen wollte. Daher übernimmt unsere Ausgabe diese Vielzahl von Ornamenten nicht „blind“ in den Notentext, sondern kennzeichnet die Herkunft dieser Zusätze durch eckige Klammern. Einer der am stärksten verzierten Sätze ist das Menuett II aus der B-dur-Partita, das in der neuen Edition nun so aussieht:
Die Ergänzungen in [ ] sind für den Pianisten als „ad libitum“ zu verstehen. Jeder sollte einmal ausprobieren, wie sich die Musik verändert, wenn man wirklich alle Zusätze spielt – und dann auswählen, was nach seinem Geschmack am besten zum Charakter des Tanzsatzes passt.
Einige Sätze sind in den annotierten Druckexemplaren so reich verziert worden, dass wir uns für einen Parallelabdruck der ornamentierten Variante im Anhang entschieden haben.
Ein Unikum ist in diesem Zusammenhang die Gigue der Partita a-moll. Die korrigierten Druckexemplare überliefern hier im zweiten Teil zahlreiche Notenkorrekturen, bei denen tief in die Struktur der Musik eingegriffen wurde. Irgendjemandem (Bach selbst?) scheint es nicht gefallen zu haben, dass die Umkehrung des Themas in der ursprünglichen Druckfassung nicht konsequent gespiegelt wurde. Der Themenkopf lautet nämlich in der Umkehrung so:
Die beiden Wechselnoten gis1 werden zu den Noten dis, harmonisch zwar überzeugend, aber müssten diese Wechselnoten in der Umkehrung nicht konsequent nach oben statt nach unten gerichtet sein?
Genau in diesem Sinne wurde in etlichen Exemplaren korrigiert:
Die „Bearbeiter“ gehen dabei unterschiedlich weit, denn diese Themenkorrektur zieht im weiteren Verlauf der Gigue Konsequenzen nach sich, die musikalisch nicht durchgängig als gelungen zu betrachten sind. Ullrich Scheideler hat die überzeugendste „korrigierte“ Variante in den Hauptteil der Ausgabe übernommen (die Gigue a-moll ist also zweimal hintereinander abgedruckt). Die eher spekulativen und weniger gelungenen Varianten sind hingegen nur als Notenbeispiel im kritischen Bericht enthalten
Also auch hier bietet die neue Ausgabe Varianten an, „öffnet“ den Text, und überlässt es dem Pianisten, eine Wahl zwischen den gleichermaßen quellenbasierten Lesarten zu treffen.
Für mich persönlich am spektakulärsten ist hingegen eine Variante, die nicht in den annotierten Druckexemplaren überliefert ist, sondern in einer Abschrift. Eine gewisse Bach-Nähe muss man bei dieser Abschrift aus verschiedenen Gründen unterstellen. Sie enthält unter anderem die langsame Einleitung der Partita c-moll in einer so stark verzierten Variante, dass die Struktur des bisher bekannten Notentextes geradezu überwuchert wird. Auch wenn diese Verzierungspraxis durchaus auf Bachs Umfeld zurückzuführen ist – ob der Komponist eine Spielweise, die aus der Improvisation geboren ist, wirklich im Druck seines Werkes fixiert hätte sehen wollen, bleibt fraglich. Daher findet sich diese Variante nur im Kritischen Bericht unserer Ausgabe als Notenbeispiel wieder – hier seien beide Fassungen einmal gegenübergestellt:
Die Abbildung der Quelle finde sich hier.
Ich hoffe, diese Schlaglichter machen Sie neugierig auf die revidierte Ausgabe der Partiten. Es gibt wahrlich eine Fülle derartiger Varianten zu entdecken, die für den spielerischen (aber immer quellengestützten!) Umgang mit diesem Notentext eines der wichtigsten Klavierwerke Bachs äußerst anregend sind. Dabei hilft nicht zuletzt der für die Revision neu erstellte Fingersatz des Pianisten William Youn, ein Fingersatz, der sich durch eine ganz besondere Ergonomie auszeichnet und äußerst sensibel den Sinn- und Phrasierungseinheiten der Musik Bachs nachspürt – die Neuausgabe ist also in mehr als einer Hinsicht ein wahrer Augenöffner!
Phantastisch. Ich finde das irrsinnig spannend. Danke für diese Arbeit. Die Henle-Ausgabe war von jeher mein Liebling, wenn ich Bach einstudiere. Das mag komisch klingen: Für mich strahlt Henles Druck- und Revisionsarbeit eine irrsinnige Liebe und Wertschätzung für Bachs Werk aus, deshalb spiele ich gerne daraus.