Gabriel Fauré (1845–1924)

Fauré ist für das Raffinement seiner Tonsprache bekannt: Die tragenden Parameter Melodik, Rhythmik und Harmonik erscheinen in seinen Kompositionen extrem nuanciert, im Gegenzug werden grelle Effekte vermieden und Kontraste zu vielfältigen Schattierungen abgestuft. Gerade bei der Harmonik, die zwischen Diatonik, Chromatik und modalen Anklängen changiert, führt dies oft zu subtilen Verfremdungen bis hin zu Ambivalenzen.

Beispiele dafür finden sich im 1876–83 entstandenen 1. Klavierquartett c-moll op. 15 an zahlreichen Stellen. So etwa im Finale, wo Fauré beim Übergang von Takt 144 zu 145 von F7 zu E7 moduliert, aber die es-Oktave im Klavierbass nicht zu e erhöht, sondern beibehält (und bereits im Autograph eigens mit b-Vorzeichen markiert):

Erstausgabe, Satz IV, T. 142–145

Der irisierende Klang zwischen es (Klavierbass) und e (Klavierdiskant sowie Viola, dort als fes notiert) lässt sich hier immerhin auf die Tradition des Orgelpunktes, über dem sich auch dissonierende Harmonien frei entfalten können, zurückführen.

Demgegenüber springen in Opus 15 zwei andere Stellen ins Auge, wo Querstände mit der regulären Harmonik der Zeit nicht mehr erklärbar sind und für die man leider – da das Autograph nur für das Finale erhalten ist – nicht auf die eigenhändige Notierung des Komponisten zurückgreifen kann:

1) Im Kopfsatz, Takte 109 und (notengetreu wiederholt) 111, erscheint im Kontext einer fis-moll-Harmonik der melodische Vorhalt his (3. Note der rechten Hand), der allerdings erst im nachfolgenden Takt zu cis aufgelöst wird. Dagegen wird his im gleichen Takt noch zwei Mal wiederholt (6. und 11. Note), wobei sich durch das h eine Oktave höher dazwischen (7. Note) eine subtile Reibung his/h einstellt:

Erstausgabe, Satz I, T. 108–111

Während für die 11. Note die Wiederholung von his unstrittig sein dürfte, sieht es auf den ersten Blick so aus, als ob vor der 6. Note versehentlich ein Auflöser fehlt, so dass man die Stelle wie folgt korrigieren müsste:

T. 109 mit Auflösungszeichen

Gestützt wird eine solche Korrektur durch eine heute unauffindbare Quelle, die in der Eulenburg-Ausgabe von 1979, herausgegeben von Robert Orledge, zitiert wird: ein Druckexemplar, das Fauré selbst zu Aufführungen benutzt haben soll und in dem just zu diesen beiden Takten im 1. Satz Auflöser vor die jeweils 6. Note von Hand eingetragen sein sollen (allerdings ohne Ergänzung des # vor die jeweils 11. Note).

Aber ist die Sache wirklich so einfach? Man fragt sich nämlich erstens, warum die Korrektur, sollte sie tatsächlich authentisch sein, nicht in einer der zahlreichen Neuauflagen des Drucks zu Faurés Lebzeiten ausgeführt wurde. Zweitens müsste dann ein doppeltes Versehen vorliegen: Fauré hätte den Auflöser vor der 6. Note u n d das # vor der 11. Note vergessen. Könnte es nicht doch sein, dass Fauré his als durchgehenden Leitton für die Auflösung im nachfolgenden Takt beibehalten wollte und dabei den Querstand in Kauf nahm?

 

2) Im 3. Satz, Takt 34 liegt im Klavierbass ein ähnlicher Querstand h/b/h vor:

Erstausgabe, Satz III, T. 33–36

Auch hier scheint auf den ersten Blick ein klarer Fehler vorzuliegen: Fauré moduliert im 2/4-Takt in Achtelschritten, das heißt in Takt 34 von H über C7 zu f usw. Die H-dur-Harmonie auf Zählzeit 1 wird jedoch empfindlich durch das b im Klavierbass (das eigentlich erst zum C-dur-Septakkord danach zu gehören scheint) gestört.

Dementsprechend bietet sich nachfolgende Korrektur an:

T. 34 mit H statt B

Auch hier stellt sich die Frage, warum diese Stelle in späteren Auflagen nicht korrigiert wurde, und ob tatsächlich Fauré und/oder der Notenstecher gleich zwei Fehler (falsches Vorzeichen vor 2. Note, fehlendes Vorzeichen vor 5. Note im Klavierbass) übersehen haben. Könnte es nicht auch hier sein, dass die fremde Note b, die ja nicht direkt mit h zusammenklingt, zu den Fauré’schen Ambivalenzen gehört, mit denen er seine Werke würzt?

Fabian Kolb, der Herausgeber unserer Neuausgabe des 1. Klavierquartetts, die Anfang 2022 erscheinen wird, hat sich nach intensiver Diskussion dafür entschieden, die Stellen wie in der Erstausgabe zu belassen, aber durch Fußnoten auf mögliche alternative Lesarten hinzuweisen:

1)

Henle Ausgabe, Satz I, T. 107–109

2)

Henle Ausgabe, Satz III, T. 34–37

Auch Pascal Rogé, der den Fingersatz für den Klavierpart der Henle-Edition übernommen und das Werk fest in seinem Repertoire hat, spricht sich für die Lesarten der Originalausgabe an beiden Stellen aus und hält solche kleinen Dissonanzen für ausgesprochen Fauré-typisch – „Subtilitäten“, die allerdings eher der Interpret als der Zuhörer wahrnimmt, denn sie treten nicht exponiert und betont, sondern versteckt und flüchtig auf, was wiederum für Faurés Raffinement spricht …

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