Die Frage im Titel mei­nes heu­ti­gen Blogs ist be­wusst pa­ra­dox und pro­vo­zie­rend ge­stellt. Ir­gend­et­was muss ja ediert wor­den sein, sonst gäbe es nicht diese wun­der­ba­re neue Ur­text­aus­ga­be im Ka­ta­log des G. Henle Ver­lags. Aber tat­säch­lich haben wir es bei die­ser Edi­ti­on mit einem phi­lo­lo­gi­schen Son­der­fall zu tun, der auf den ers­ten Blick un­pro­ble­ma­tisch, ja fast möch­te ich sagen: er­leich­ternd wirkt – sich bei nä­he­rer Be­schäf­ti­gung al­ler­dings als ziem­lich un­be­quem ent­puppt.

Die bei­den Violin­stü­cke Chan­son de nuit und Chan­son de matin von Ed­ward Elgar ge­hö­ren si­cher­lich zu den Ever­greens des Gei­gen­re­per­toires. Wer nicht weiß, worum es sich han­delt, soll­te ein­mal hier rein­hö­ren:

Spä­tes­tens beim Chan­son de matin wer­den die meis­ten von Ihnen einen Aha-Ef­fekt haben und sagen „Ach, DAS ist das Chan­son de matin.“

Elgar sind mit die­sen Stü­cken für sein In­stru­ment, die Vio­li­ne, nach Salut d’amour er­neut zwei Ohr­wür­mer ge­lun­gen, die aus un­se­rem mu­si­ka­li­schen Ge­dächt­nis nicht mehr weg­zu­den­ken sind.

Die Par­al­le­le zum Salut d’amour ist nicht weit her­ge­holt, denn Elgar ahnte schon bei den Ver­hand­lun­gen mit sei­nem Ver­le­ger No­vel­lo, dass die bei­den neuen Werke einen ver­gleich­ba­ren Er­folg haben wür­den wie das Salut. Da­mals (das Vor­gän­ger­werk er­schien 1889) war Elgar noch we­ni­ger er­fah­ren auf dem Mu­si­ka­li­en­markt und hatte sich von sei­nem Ver­lag – in die­sem Fall Schott – mit einem re­la­tiv ge­rin­gen Pau­schal-Ho­no­rar ab­spei­sen las­sen. Eine Ent­schei­dung, die er spä­ter be­reu­te, denn Salut ent­wi­ckel­te sich schon bald zu einem wah­ren Best­sel­ler. Nun, fast 10 Jahre spä­ter, ver­such­te Elgar ge­gen­zu­steu­ern. Im Ok­to­ber 1897 bot er zu­nächst Chan­son de nuit dem Ver­lag No­vel­lo an und schrieb: „Ich wünsch­te, Sie könn­ten Ver­trags­be­stim­mun­gen fest­le­gen, die mir eine ge­wis­se Ge­winn­be­tei­li­gung zu­si­chern wür­den: Das letz­te von mir ver­fass­te Violin­stück, das ich be­dau­er­li­cher­wei­se vor ei­ni­gen Jah­ren für einen ge­rin­gen Fest­be­trag ver­äu­ßert habe, ver­kauft sich jetzt gut – mei­nes Wis­sens wur­den al­lein im Ja­nu­ar 3.000 Ex­em­pla­re davon ver­kauft“. Es half nichts, auch No­vel­lo über­re­de­te Elgar zu einem Pau­schal­ho­no­rar, das dem­je­ni­gen von Schott sehr ähn­lich war.

Ed­ward Elgar (1857–1934)

No­vel­lo schau­te sich sogar noch eine wei­te­re Stra­te­gie von sei­nem Kon­kur­renz­ver­lag ab. Elgar hatte Salut d’amour ur­sprüng­lich mit einem deut­schen Titel über­schrie­ben: Lie­bes­gruß. Der Schach­zug von Schott, diese Über­schrift ins Fran­zö­si­sche zu über­tra­gen, ver­half dem Werk ver­mut­lich erst zum in­ter­na­tio­na­len Er­folg. Und auch das 1897 ver­öf­fent­li­che Chan­son de nuit hieß ur­sprüng­lich an­ders: Even­song soll­te die Me­lo­die laut Elgar hei­ßen. Erst No­vel­lo über­re­det den Kom­po­nis­ten, auch die­sen Titel zu än­dern. Zwei Jahre spä­ter, 1899, er­schien schließ­lich das Chan­son de matin. Elgar schrieb dies­mal an No­vel­lo: „Bei­ge­fügt über­sen­de ich das M.S. eines ein­fa­chen Stücks für Vio­li­ne und Kla­vier. Mei­ner Skiz­ze (die ich letz­te Woche ge­fun­den und seit­dem fer­tig aus­ge­ar­bei­tet habe) ent­neh­me ich, dass es als Ne­ben­stück zu dem ge­dacht war, das Sie be­reits haben. Der Titel wurde, wie Sie sich viel­leicht er­in­nern, zu Chan­son de Nuit ge­än­dert – also habe ich vor­ge­schla­gen, die­ses ,hei­te­re‘ Stück Chan­son de Matin zu nen­nen“.

Wo aber lie­gen nun die ein­gangs an­ge­kün­dig­ten edi­to­ri­schen Pro­ble­me? Er­neut ziehe ich zum Ver­gleich Salut d’amour heran. Denn die Quel­len­über­lie­fe­rung ist bei die­sem Stück als ideal zu be­zeich­nen: Wir be­sit­zen ein ers­tes Au­to­graph von El­gars Hand, eine au­to­gra­phe Stich­vor­la­ge, in der Elgar so­wohl die Kla­vier­par­ti­tur als auch die se­pa­ra­te Violin­stim­me ein­zeln aus­schrieb, eine Erst­aus­ga­be, die von Elgar au­to­ri­siert ist, und sogar (wie zum Be­weis dafür) ein Ex­em­plar aus El­gars Be­sitz mit einer hand­schrift­li­chen Wid­mung an seine Frau Alice (siehe den Kri­ti­schen Be­richt). Und bei den Chan­sons? In die­sem Fall sind al­lein die bei­den Erst­aus­ga­ben über­lie­fert, die spä­ter zu einer Dop­pel­aus­ga­be ver­eint und somit im Bün­del ver­kauft wur­den. Die Kor­re­spon­denz mit dem Ver­lag, aus der ich oben schon zi­tiert habe, zeigt, dass auch diese Aus­ga­ben de­fi­ni­tiv von Elgar au­to­ri­siert sind. Den­noch: Es ist be­dau­er­lich, dass kei­ner­lei au­to­gra­phes Ma­te­ri­al er­hal­ten ist. Skiz­zen, Erst­nie­der­schrif­ten, Stich­vor­la­gen, all das muss als ver­schol­len gel­ten.

Ru­pert Mar­shall-Luck

Worin liegt hier­bei das Pro­blem? Wir Ur­tex­t­her­aus­ge­ber su­chen stets nach der spä­tes­ten au­to­ri­sier­ten Quel­le, der Fas­sung letz­ter Hand, und legen diese Quel­le un­se­rer Aus­ga­be zu­grun­de. Ru­pert Mar­shall-Luck, unser El­gar-Ex­per­te, hat daher so­wohl beim Salut als auch bei den Chan­sons die je­wei­li­ge Erst­aus­ga­be als Haupt­quel­le ge­wählt. Jede Quel­le je­doch, sei sie noch so gut und au­to­ri­siert, weist al­ler­dings Feh­ler oder zu­min­dest Un­ge­nau­ig­kei­ten auf. Haben wir wei­te­re, frü­he­re Quel­len, kön­nen wir diese Feh­ler einer spä­ten Quel­le auf­de­cken und ge­ge­be­nen­falls gemäß der frü­he­ren Über­lie­fe­rung kor­ri­gie­ren. Eine Viel­zahl von Quel­len kann daher ei­ner­seits ver­wir­rend sein, an­de­rer­seits er­leich­tert sie uns Her­aus­ge­bern in vie­len Fäl­len die Ent­schei­dung. Der No­ten­text ist dann viel bes­ser ab­ge­si­chert.

Was tut ein Her­aus­ge­ber aber, wenn er nur eine ein­zi­ge Quel­le zur Ver­fü­gung hat? Ver­ein­facht ge­sagt: die Quel­le re­pro­du­zie­ren. Über­all dort, wo Zwei­fel an der Rich­tig­keit einer Les­art auf­kom­men, muss er dann ohne wei­te­re Quel­len­ba­sis ent­schei­den, ob er ein­greift und än­dert oder eben nicht. Eine ver­meint­lich „leich­te“ Edi­ti­on mit nur einer Quel­le wird somit zu einem Ri­sik­oun­ter­neh­men, denn immer be­steht die Ge­fahr, diese Quel­le will­kür­lich zu ver­fäl­schen.

Chan­son de nuit, Erst­aus­ga­be, T. 43 ff., se­pa­ra­te Violin­stim­me

Chan­son de nuit, Erst­aus­ga­be, T. 43 ff., Kla­vier­par­ti­tur

Ru­pert Mar­shall-Luck ist in un­se­rer Aus­ga­be vor­bild­lich be­hut­sam mit die­ser miss­li­chen Aus­gangs­la­ge um­ge­gan­gen. Es galt Par­al­lel­stel­len zu ver­glei­chen und zu über­le­gen, ob Ab­wei­chun­gen der Erst­aus­ga­be Ab­sicht oder Ver­se­hen sind. In einem nächs­ten Schritt muss­ten die der Kla­vier­par­ti­tur über­leg­te Violin­stim­me und die se­pa­rat ein­ge­leg­te Stim­me mit­ein­an­der ver­gli­chen wer­den. Denn wir kön­nen an­neh­men (wie­der­um auf der Grund­la­ge von Salut d’amour), dass Elgar für die Kla­vier­par­ti­tur und die ein­zel­ne Violin­stim­me ge­trenn­te au­to­gra­phe Stich­vor­la­gen beim Ver­lag ein­reich­te – es kön­nen also in bei­den Quel­len­tei­len au­to­ri­sier­te Les­ar­ten über­lie­fert sein, bei denen es gilt, sich zu ent­schei­den und diese Ent­schei­dung gut zu be­grün­den. Ru­pert Mar­shall-Luck hat auf diese Weise viele Ab­wei­chun­gen vor allem im Be­reich von Dy­na­mik­an­ga­ben ent­deckt (siehe bei­spiels­wei­se T. 43 ff.) und dabei fest­ge­stellt, dass die se­pa­ra­te Violin­stim­me der Erst­aus­ga­be idio­ma­ti­scher und schlüs­si­ger be­zeich­net ist als die über­leg­te Stim­me in der Kla­vier­par­ti­tur. Um­ge­kehrt feh­len ver­ein­zelt Dy­na­mik­an­ga­ben in der se­pa­ra­ten Violin­stim­me, die aus der Kla­vier­stim­me über­nom­men wer­den kön­nen. All diese Ent­schei­dun­gen hat sich Ru­pert Mar­shall-Luck nicht leicht ge­macht, und weil au­to­gra­phe Quel­len zur Be­stä­ti­gung feh­len, sind sämt­li­che Fein­jus­tie­run­gen die­ser Art in den Ein­zel­be­mer­kun­gen un­se­rer Edi­ti­on nach­ge­wie­sen.

Es gab also doch et­li­ches zu „edie­ren“ (um die Ein­gangs­fra­ge wie­der auf­zu­grei­fen). Der Be­mer­kungs­teil ist ein Zeug­nis die­ses Mo­sa­iks von Ein­zel­ent­schei­dun­gen – das al­ler­dings ein äu­ßerst über­zeu­gen­des Ge­samt­bild lie­fert und somit einen sehr zu­ver­läs­si­gen und gut ab­ge­si­cher­ten No­ten­text die­ser bei­den char­man­ten Vio­lin-Me­lo­di­en lie­fert. Wir wün­schen viel Ver­gnü­gen bei der Neu­ent­de­ckung die­ser bei­den Chan­sons!

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