W. A. Mozart (1756–1791)

„Aller guten Dinge sind drei“ – diese Redewendung fiel mir ein, als ich mich an folgenden Text setzte. Denn zu Mozarts berühmter „Alla Turca“-Klaviersonate in A-dur habe ich hier im Henle-Blog schon zweimal geschrieben: Nummer 1 behandelte den sensationellen Budapester Fund des Mozartschen Teilautographs der Sonate und die editorischen Konsequenzen daraus. Diese führten schlussendlich zu unserer revidierten Neuausgabe. Nummer 2 entwirrte erstmals die bis dahin falsch interpretierten Wiederholungsanweisungen auf Mozarts autographer letzter Seite des „Rondo Alla Turca“. Und nun Nummer 3: In der Zwischenzeit ist doch tatsächlich eine bislang völlig unbekannte Kopistenabschrift der Sonate aus Mozarts Zeit (!) aufgetaucht. Welche erneuten editorischen Konsequenzen das für den Henle-Urtext (HN 1300) hatte – nämlich wenige – und wie schief man diesen Quellenfund in einem anderen Verlag bewertet – nämlich beim Bärenreiter Verlag – darum geht es nun in aller gebotenen Kürze.

Es war eines meiner spannendsten Erlebnisse in den letzten Jahren als Editor bei Henle: Ende 2016 wurde ich von dem Münchener Auktionshaus Zisska & Lacher eingeladen, eine völlig unbekannte Kopistenabschrift der A-dur-Sonate zu evaluieren. Ich autopsierte und beschrieb die Quelle eingehend und zog zur Frage der Datierung der undatierten Quelle den weltweit besten Kenner des Themenkomplexes: „Kopisten des 18. Jahrhunderts“ hinzu, nämlich den Musikwissenschaftler Dexter Edge. Er erkannte tatsächlich die anonyme Wiener Hand und datierte das Manuskript zuverlässig auf „spätestens Anfang der 1780er-Jahre“. Das Auktionshaus verfasste auf Basis unserer beider Vorarbeit seine ausführliche Quellen-Würdigung für den Katalog (S. 13–15, Lot 34). Die Abschrift wurde schließlich in die USA verkauft, der Eigentümer (Christopher J. Salmon) überließ mir großzügig Farbscans der Quelle.

Ich stellte die spannende Quelle mit ausführlicher Beschreibung, einigen Abbildungen und mit minutiöser Quellenbewertung im Sommer 2018 auf dem Prager Mozart-Kongress erstmals den Fachkollegen vor; inzwischen ist der Vortrag erschienen (Zu einer bislang unbekannten zeitgenössischen Abschrift von Mozarts Klaviersonate A-Dur KV 331, in: Mozart Studien 27, Wien 2020, S. 193–213).

Es genügt an dieser Stelle festzustellen, dass diese neu aufgetauchte Kopistenabschrift aus dem Blickwinkel des Urtextherausgebers durchaus von Relevanz und Bedeutung ist, aber leider nicht so spektakulär wie zunächst erhofft. Warum? Weil sie entweder unmittelbar von Mozarts Autograph oder, wahrscheinlicher, von einer Kopie des Autographs abgeschrieben wurde und keinerlei Eintragungen (etwa von Mozart selbst) enthält. Weil aber Mozarts Autograph bekanntlich nur teilweise überliefert ist (siehe mein Blog, Nummer 1), ersetzt uns die Kopie recht ordentlich die fehlenden Teile des Autographs. „Recht ordentlich“ deswegen, weil die Abschrift Schreibfehler und etliche Flüchtigkeiten enthält – wie der minutiöse Vergleich mit den zur Verfügung stehende Teilen des Autographs beweist. Den Quellenwert der neuen Abschrift noch einmal andersherum zusammengefasst: Wäre Mozarts Autograph von KV 331 vollständig überliefert, hätte die neue Quelle keinerlei editorische Bedeutung. So aber hilft sie uns sehr, die verlorenen Teile annähernd zu ersetzen.

Ich habe alle sich aus der neuen Quelle ergebenden Erkenntnisse in die nun erneut revidiert vorgelegte Urtextausgabe © 2021 eingearbeitet (HN 1300). Überdies habe ich sämtliche Lesarten und Auffälligkeiten aller Quellen in einem sehr ausführlichen download-„Kritischen Bericht“ dargestellt.

Die wenigen neuen (!), für jeden Klavierspieler sicherlich interessanten Lesarten, die sich aus der Kopistenabschrift ergeben, sind in den Hauptnotentext der neuen Urtextausgabe oder in eine Fußnotenbemerkung eingeflossen. Hier seien sie für meine Blog-Leser zusammengefasst (AB = Abschrift, A = Autograph, EA = Erstausgabe):

Satz Takt Stelle Bemerkung
1 1 Anfang AB: „sotto voce“ (A verloren), (siehe Abbildung 1)
EA „p“ statt „sotto voce“.
Text aus EA übernommen, AB in Fußnotenbemerkung, denn kein Stecher ändert derartiges „aus freien Stücken“.
1 26 oben, 3. Achtelnote, untere Note des Akkords AB: d1 (A verloren),
EA: e1.
Text aus AB übernommen, EA in Fußnotenbemerkung und im Apparat kommentiert, weil Stichfehler in EA anzunehmen ist.
1 29 oben, 4.letzte 16tel-Note AB: h1 (A verloren),
EA: gis1.
AB als Schreibfehler bewertet (A dürfte gis1 haben), weil Akkord abweichend von z.B. T. 11); Lesart von AB in Fußnotenbemerkung.
1 48 unten, letzte Note AB mit Unteroktave (A verloren), (siehe Abbildung 2)
EA: nur e1.
Text aus AB übernommen (A dürfte Oktave haben), EA in Fußnotenbemerkung und im Apparat kommentiert, weil Stichfehler in EA vermutet.
1 54 oben, 9. Note AB: d1 (A verloren),
EA: e1.
Text aus AB übernommen (A dürfte d1 haben), EA in Fußnotenbemerkung und im Apparat kommentiert, weil vermutlich Stichfehler in EA.
2 65 Ganzer Takt Takt fehlt (!) in AB (A verloren); (siehe Abbildung 3)
EA mit sicherlich korrektem Text.
Könnte (!) nicht AB hier eine Frühfassung von A überliefern? (Wäre musikalisch immerhin möglich).
2 82/83 und 83/84 Unten Haltebögen über Taktstrich nur in AB (A verloren); Bemerkung im Apparat
3 1 Überschrift AB: „Allegrino“, kein „Alla Turca“ (A verloren, dürfte identisch mit AB sein);
EA: „Alla Turca“, was wir zusammen mit „Allegrino“ (mit Fußnotenbemerkung und ausführlichem Kommentar im Apparat) übernommen haben.
3 42 Oben AB mit Bogen zu 16tel-Noten des 1. und zu 2. 4tel (A verloren);
EA keine Bögen.

Abbildung 1: Ausschnitt aus AB, Beginn 1. Satz.

Abbildung 2: Ausschnitt aus AB; 1. Satz, T. 48.

Abbildung 3: Ausschnitt aus AB; 2. Satz, T. 62-66, ohne T. 65.

Bevor Sie nun aber diese Hinweise in Ihre textlich überholte Notenausgabe übertragen, empfehle ich den Erwerb der neuen Henle Urtext-Ausgabe HN 1300 © 2021, mit vollständig korrektem Notentext, ausführlichem Vorwort und knappem Kritischen Apparat.

Auch wenn es der Herausgeber der Bärenreiter-Ausgabe der A-dur-Sonate (BA 11816, © 2020) völlig anders – und meines Erachtens völlig falsch – sieht, so muss abschließend betont werden, dass professionelle Quellenkritik an folgenden Tatsachen nicht vorbeikommt: Die handschriftliche Überlieferung der drei Klaviersonaten KV 330–332 (Autographe und die neue Kopistenabschrift von KV 331) dokumentiert die Überlieferungsstufe „1“ der Sonaten. Mit Erscheinen der textlich überarbeiteten Erstausgabe bei Artaria (Wien, 1784) liegt Stufe 2 und damit die „Fassung letzter Hand“ vor. Denn:

  • Mozart hat die Stichvorlage für Artaria, und damit die Erstausgabe als solche nachweislich autorisiert.
  • die Textveränderungen des Drucks gegenüber den Autographen von KV 330 und 332 sind zum Teil bedeutsam und müssen in stilistischer Hinsicht einzig und allein Mozart zugeschrieben werden (in der A-dur-Sonate sind Mozarts Verbesserungen gegenüber Stufe 1 letztlich marginal).

Zu (1): Quellen- und Textkritik.

Die Mozarts Korrekturen enthaltenden Stichvorlagen zu KV 330–332 sind verschollen. Die zum Teil markanten Textabweichungen der Erstausgabe gegenüber der autographen bzw. abschriftlichen Überlieferung müssen zwangsläufig in dem „missing link“ der Stichvorlage stehen. Das nicht-zur-Verfügung-Stehen dieses „missing link“ ist der Normalfall fast jeder Mozart-Edition. Bei der Bewertung der Erstausgabe als Quelle geht es, wie bei aller Quellenkritik, einzig und allein um die Beweisführung der Autorisation der Quelle/n. Und diese wird in aller Regel bei Fehlen beweishaltiger Dokumente über die Plausibilität von Indizien geführt.

Im Falle von KV 330–332 liegt der Fall denkbar einfach und klar vor uns: Mozart selbst hat seine handschriftlichen Stichvorlagen für den Stich/Druck der Sonaten an Artaria geschickt oder bei ihm vorbeigebracht: „Nun habe ich die 3 Sonaten auf clavier allein … dem Artaria zu Stechen gegeben“ (Brief vom 12. Juni 1784 an seinen Vater nach Salzburg). Mehr Autorisierung geht kaum.

Dass die Erstausgabe markante Stichfehler enthält, ist natürlich überhaupt kein Argument gegen deren Quellenwert, sondern allein Beweis dafür, dass Mozart die Korrekturfahnen nicht interessiert haben – was im Übrigen ebenfalls in der Mozart-Edition notorisch der Fall ist. Und selbst wenn, rein hypothetisch (!), die Textabweichungen der Erstausgabe gegenüber dem Autograph auf eine/n Dritte/n zurückgehen sollten – der Name von Josepha Aurnhamer fällt spekulativ im Vorwort des Bärenreiter-Herausgebers – dann muss das mit der Zustimmung des Autors Mozart geschehen sein, denn, ich wiederhole mich gerne: Er selbst hat sie „zu[m] Stechen gegeben“ und damit den Textstand von Artarias Druck autorisiert.

Diese Quellenbewertung hat freilich Konsequenzen: Sofern nämlich kein evidenter Fehler der Erstausgabe oder eine grobe Ungenauigkeit vorliegt, was durch Vergleich mit dem (Teil)Autograph und/oder der Kopistenabschrift nachgewiesen werden kann, so weist der Druck den besseren, in den Urtext zu übernehmenden Notentext auf; die handschriftliche Lesart ist dann schlicht überholt, weil Vorgeschichte (Stufe 1).

Um nur ein Beispiel zu geben: Wenn in der Erstausgabe dynamische Zeichen stehen, die im Autograph NOCH fehlen, dann muss das auf Mozarts Eingriff in der (verlorenen) Stichvorlage zurückgehen, philologisch gesprochen sind solche Ergänzungen also autorisiert (z.B. 1. Satz, Takte 28–30; 2. Satz, Takte 19 und 20).

Abschrift, 1. Satz, T. 27-30 ohne Dynamikangaben.

Erstausgabe, 2. Satz, T. 27-30 mit Dynamikangaben.

Dennoch bleibt Mozarts Handschrift und zum Teil auch die neue Kopistenabschrift von höchstem Quellenwert. Denn mit Hilfe dieser insgesamt überwundenen Stufe 1 können wir vermutliche und gesicherte Fehler des Drucks durch minutiösen Vergleich aufklären und richtigstellen. (Und dafür gibt es auch im Falle von KV 331 spektakuläre Beispiele, ich erinnere nur an den falschen Ton in Takt 3 des Menuetts). Die für uns Editoren verbindliche „Fassung letzter Hand“ steht jedoch sicher im Druck der Erstausgabe. (Eine Quellenwiedergabe beider Entwicklungsstufen – wie kurioserweise bei Bärenreiter der Fall – ist nicht nur für jeden Pianisten verwirrend, sondern schlicht eine grobe editorische Fehlentscheidung.)[1]

Zu (2): Stilkritik.

Es bedarf zwar keinerlei weiterer Unterstützung der unter (1) dargestellten, völlig zweifelsfreien Quellenbewertung und ihrer Prämissen, aber auch text- und stilkritische Argumente belegen den gegenüber der handschriftlichen Überlieferung höheren Quellenwert der Erstausgabe von 1784. Das betrifft zwar nur marginal die A-dur-Sonate (am auffälligsten wohl in der sehr markanten „Alla Turca“-Überschrift zum dritten Satz). Gravierende Abweichungen und Verbesserungen finden sich jedoch im Erstdruck der beiden Schwester-Sonaten in C-dur KV 330 und in F-dur KV 332 gegenüber deren handschriftlichen Vorläufern. Nur zwei bemerkenswerte Stellen seien als Beweis für Mozarts nachträgliche Überarbeitung, notiert in der verschollenen Stichvorlage für Artaria, herangezogen:

  • KV 330: Die wundervolle Musik der Schlusstakte des langsamen Satzes (T. 61 mit Auftakt bis T. 64) fehlt im Autograph noch völlig, sie steht erst in der Erstausgabe. Wer könnte eine solch berührende, epiloghafte Musik komponiert haben, wenn nicht Mozart selbst?

    Erstausgabe KV 330: Ende des 2. Satzes.

  • KV 332: Die ausgeschriebenen Verzierungen der Wiederholungsteile (T. 21–40) im langsamen Satz können ebenfalls auf keinen anderen Autoren als Mozart selbst zurückgeführt werden.

    KV 332: Gegenüberstellung Autograph und Erstausgabe.

Noch einmal sei also abschließend zusammengefasst: Mozarts Autograph der A-dur-Sonate (Stufe 1) wurde vermutlich zum Zwecke des Unterrichts (vielleicht mehrfach) abgeschrieben. Eine dieser Wiener Kopien ist nun aufgetaucht und dank des Eigentümers zugänglich. Vor der Drucklegung überarbeitete Mozart den Text aller drei Klaviersonaten KV 330, 331 und 332 mehr oder weniger stark (Stufe 2) und übersandte nachgewiesenermaßen die entsprechend von ihm präparierten Stichvorlagen. Eine seriöse Urtextausgabe der Sonaten zieht also die handschriftliche und die gedruckte Überlieferung zur Erstellung des besten Textes heran, indem auf Basis der autorisierten „Fassung letzter Hand“ (= Erstausgabe Artaria 1784) ediert wird, d.h. deren Stichfehler und Flüchtigkeiten im strengen Textvergleich emendiert und im „Kritischen Bericht“ kommentiert werden.

Haben Sie Gedanken zu diesem Thema? Dann nutzen Sie gerne den Kommentarteil zu diesem Blog.

 

[1] Dass deren Herausgeber meine publizierten Forschungsergebnisse zur neuen Kopistenabschrift in seiner sich sonst so ungemein wissenschaftlich gebenden Ausgabe mit keinem Wort erwähnt, ist verglichen damit nur schlechter Stil.

Dieser Beitrag wurde unter Abschrift, Klavier solo, Klaviersonate KV 331 (W.A. Mozart), Montagsbeitrag, Mozart, Wolfgang Amadeus, Neue Quelle, Urtext abgelegt und mit verschlagwortet. Setzen Sie ein Lesezeichen auf den Permalink.

4 Antworten auf »Allerneueste Erkenntnisse zu Mozarts Klaviersonate A-dur KV 331«

  1. Otto Andreas Fickert sagt:

    Sehr geehrter Herr Seiffert,
    Sie schreiben in dem Artikel sehr ausführlich darüber, daß die Erstausgaben bei Mozart sehr oft eine fortgeschrittenere Entwicklungsstufe darstellen und etwaige Abweichungen zur Handschrift in vielen Fällen wahrscheinlich von Mozart autorisiert sind. Wie z.B. Dynamikangaben, die in der Handschrift noch fehlen, oder Ergänzungstakte (Ende des langsamen Satzes der C-Dur-Sonate). Als Musiker, der sich für derartige Fragen sehr interessiert, kann ich das sehr gut nachvollziehen!
    Könnte es vielleicht sein, daß der in ihrer Neuausgabe geänderte “falsche” Ton
    im Menuett T.3 gar kein Fehler ist, sondern ebenfalls eine “Weiterentwicklung”? Ich persönlich empfinde das cis3 mit dem anschließenden fallenden Sept-Sprung wesentlich reizvoller und überzeugender (zumal der mit dem “richtigen” a2 entstehende Akkord mit der linken Hand durch die Terzverdoppelung auch nicht wirklich überzeugt). Sie schreiben ja im Kritischen Bericht, daß in der Erstausgabe E1 in der Parallelstelle T. 33 das besagte cis3 gedruckt ist, also finden sich hier beide “Versionen”. Könnte da nicht das a2 der Handschrift “falsch” sein und das cis3 die “Korrektur” Mozarts?
    mit freundlichen Grüßen
    Otto Andreas Fickert

    • Wolf-Dieter Seiffert sagt:

      Sehr geehrter Herr Fickert,
      haben Sie vielen Dank für Ihre kritische Nachfrage zu dem in der Tat für viele Musiker ungewohnt „neuen“ a2 meiner Ausgabe statt des generationenlang gewohnten cis3 im Menuett (T. 3 und 33).
      Ich bin sicher, dass das cis3 der Erstausgabe keine gültige Lesart Mozarts, sondern ein Stichfehler ist. Warum? Weil es sich hier nicht um eine isoliert zu betrachtende Note, sondern um zwei aufeinander bezogene Zwillingsnoten handelt. Denn Anfang und Reprise jedes Menuetts müssen textgleich/notenidentisch sein. Dieser formaltechnische Sachverhalt wird ja allein schon daraus ersichtlich, dass Mozart zu Beginn des zu wiederholenden Menuett-A-Teils ab T. 31 ff. anstatt die Noten schreibend zu wiederholen, vom Kopisten pragmatisch die wörtliche Wiederholung des Menuett-Anfangs fordert: „Da capo: 7 täckt“: https://mozart.oszk.hu/index_en.html#pages (Achtung: rechte Hand von Mozart durchgängig im Sopranschlüssel notiert, i.e. eine Terz tiefer zu lesen!)
      Würde nun die Erstausgabe abweichend vom autographen a2 in Takt 3 das cis3 zeigen, wäre ich sofort bei Ihnen: Weiterentwicklung. Mozart hätte dann diese Änderung nahezu zweifellos in der fehlenden Zwischenquelle (= Artarias Stichvorlage) korrigiert. Das ist jedoch nicht der Fall: die Erstausgabe zeigt in T. 3 genauso wie das Autograph (und natürlich auch die neu aufgetauchte abschriftliche Kopie davon, diese übrigens „natürlich“ an beiden Stellen) das a2: https://s9.imslp.org/files/imglnks/usimg/2/27/IMSLP292670-PMLP01845-Mozart_-_Trois_Sonates_-K330-332-.pdf (= Erstausgabe, 1. Auflage, S. 20).
      Woher kommt dann eigentlich das allen Klavierspielern so vertraute cis3? Nun, es stand zunächst ausschließlich als Stichfehler der Erstausgabe im hinteren Reprisentakt 33 (siehe Link).
      Es muss sich nicht einmal um einen Stichfehler Artarias gehandelt haben. Denn das falsche, weil vom “erstgeborenen Zwilling” T. 3 abweichende, cis3 könnte auch ein unbemerkter Fehler des Schreibers der – verlorenen – Stichvorlage gewesen sein. Denn in seiner Vorlage war vermutlich die rechte Hand noch durchgängig im Sopranschlüssel notiert (siehe Autograph); wie schnell kann man sich hier mal terz-verschreiben. Und der Stecher der Erstausgabe benötigt als Vorlage nicht nur den Notentext der rechten Hand im „modernen“ Violinschlüssel, sondern er benötigt auch die ausnotierte Wiederholung der Reprise (für seine Einteilung der Stichplatten). Kurz – und natürlich rein hypothetisch auf Basis jahrzehntelanger Editionserfahrung: Ich gehe eher von einem unbedacht abgestochenen Schreibfehler der Vorlage aus.
      Wie fand also das falsche cis3 in T. 33 der Erstausgabe dann überhaupt seinen Weg auch in T. 3 und in alle modernen Notenausgaben? Ich bin der Frage im Zusammenhang meiner Neurevision von KV 331 natürlich akribisch nachgegangen:
      Erst im dritten Nachdruck (= 4. Auflage) der Erstausgabe geschah dann der „verhängnisvolle“ Fehler. Der Stecher (oder ein „Lektor“ Artarias) hatte beim notwendig gewordenen Neustich der „Menuett-Platte“ Seite 20 bemerkt, dass die beiden unbedingt gleichlautenden Stellen bisher voneinander abwichen. Ein Unding. Aber anstatt das falsche cis3 in T. 33 zum a2 zu korrigieren, übernahm er den falschen Reprisenton cis3 nach vorne: https://digibib.mozarteum.at/ismretroverbund/content/pageview/1380696 (= Erstausgabe, 4. Abzug/4. Auflage, S. 20).
      Das Schicksal nahm seinen Lauf: Die wenig später 1798 in Leipzig erschienene Ausgabe der Sonate bei Breitkopf & Härtel basiert auf der 4. Auflage Artarias und übernahm somit auch unwissentlich diesen Fehler. Diese Ausgabe der „Oeuvres Complettes“ (Band 1, darin „Sonate II“, ab S. 18 ff.) hatte dann Vorbildcharakter für ALLE Nachdrucke der berühmten Sonate in allen Verlagen.
      Bis zum Erscheinen der revidierten Urtextausgabe bei Henle 2015.

  2. Lieber Herr Seiffert,
    dies vorab: Sie ärgern sich zu Recht darüber, daß die Bärenreiter-Ausgabe von KV 331 Ihre Forschungsergebnisse nicht erwähnt („schlechter Stil“). Soll ich mich auch ärgern, daß Sie auf meinen Mail-Kommentar zu Ihrem ersten KV 331-Blog von Anfang 2020 nicht reagiert haben?
    Nun zum eigentlichen Punkt. Ich habe in meiner ersten Zuschrift die Meinung vertreten, daß der Legato-Bogen in der EA in der rechten Hand von Takt 59 des ersten Satzes von KV 331ein Stichfehler ist, genauer gesagt: ein versehentlicher falscher Zusatz des Stechers. (Ich habe dieses Versehen in meiner ersten Mail dies auch psychologisch plausibel zu machen versucht.) Zu dieser Einschätzung gelangte ich insbesondere durch die Kenntnis des Budapester Autographs, das ja mittlerweile sogar in einer Übertragung in IMSLP leicht zugänglich vorliegt. Aber auch unabhängig davon hätte eine kritische Betrachtung des Notentextes der EA zu dieser Auffassung führen können. Es ist nämlich nicht einsichtig, weshalb Takt 59 mit einem Bogen versehen wurde, die Takte 60–62 und Takt 71 f. ohne Bogen auskommen sollen. Das Argument, hier sei stillschweigend ein simile anzunehmen (so wie es das Neue Mozartausgabe ergänzt durch die verbale Angabe für Takt 60–62 – dort gezählt als Takt 6–8 – und dann in Takt 71/72 bzw. 17/18 durch gepunktete Bögen; die alte Mozart GA hatte keine Hemmungen, die Bogenzusätze unkommentiert vorzunehmen, seltsamerweise aber hat sie die linke Hand bezüglich der Legato-Notation gegenüber der EA geändert), dieses Simile-Argument greift nicht angesichts des Umstandes, daß in Variation III links minutiös jedesmal taktweise ein Bogen in der EA gesetzt ist. (In der zweiten Variation liegen die Dinge etwas anders.)
    Das zweite Argument ist ein spieltechnisches. Die fraglichen Oktaven sind ohne Pedal im vorliegenden Tempo legato nicht exakt spielbar. Vielmehr gilt wohl, daß die unbezeichneten Sechzehntel den Typus des „ordentliche Fortgehens“ repräsentieren (Marpurg: Sowohl dem Schleifen [Legato] als Abstossen [staccato] ist das ordentliche Fortgehen entgegen gesetzet, welches darinnen besteht, daß man ganz hurtig kurz vorher, ehe man die folgende Note berühret, den Finger von der vorhergehenden Taste aufhebet. Dieses ordentliche Fortgehen wird, weil es allezeit voraus gesetzet wird, niemahls angezeiget; Anleitung zum Clavierspielen (1755), S. 29) und in dieser Anschlagsart auch spielbar sind. Daß Sie dieses Argument wohl nicht gelten lassen wollen, wundert mich angesichts der Autorenmitteilung zu Ihrer Person, daß „Musik […]für mich schon als Kind (obligatorischer Klavierunterricht) und dann als Jugendlicher (Keyboard in mehreren Rock-, Jazz- und Tanzbands) eine größere Rolle als die Schule“ spielte. Von Interesse für mein Argument ist übrigens die Notation dieser fraglichen Stelle bei der Ausgabe von Sigmund Lebert:
    https://s9.imslp.org/files/imglnks/usimg/5/5e/IMSLP00220-Mozart_-_Piano_Sonata,_K_331.pdf
    Lebert ging davon aus, daß das „ordentliche Fortgehen“ den Interpreten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kein Begriff mehr ist und daß diese – nunmehr spielbare – Oktavenanschlagsart am besten durch die Non-Legato Vorschrift (Bogen + Punkte) wiederzugeben sei.
    Nochmals ganz direkt: nach meiner Auffassung hätte bei einer kritischen Ausgabe des gedruckten Notentextes der Takt 59 in der rechten Hand ohne Bogen wiedergegeben werden sollen und der Bogen der EA lediglich im kritischen Apparat erwähnt werden können. In der jetzigen Form der Publikation ist die Aufgabe des Herausgebers, eine definitive Quellenbewertung dieser Stelle vorzunehmen und durch die gedruckten Noten auch wiederzugeben, nicht optimal erfüllt. Auch wäre – wenn man schon im Notentext die falsche Version abdruckt bzw. beibehält – eine Formulierung im kritischen Bericht wie in „59 o: In A1, AB, ABPR fehlt Bogen; gemäß E1, E4 gesetzt.“ für den Spieler irreführend, da das Wort „fehlend“ impliziert, daß eigentlich etwas vergessen oder übersehen wurde. „Keine Bogen gesetzt“, „weist keinen Bogen auf“ oder ähnliches wäre da eindeutiger. (Daß Ihre Angabe zu Takt 58 einen zutreffenden Sachverhalt benennt, sie hier explizit erwähnt.)
    Erwähnen muß ich noch, daß mir die Bärenreiter-Ausgabe der Sonate momentan nicht vorliegt (der örtliche Musikalienhändler hat gerade dieser Tage den Notenhandel aus Kostengründen eingestellt). Auch hat unsere UB keinen Band der Mozart Studien angeschafft hat und Ihr Vortrag scheint online derzeit unzugänglich.
    Mit freundlichen Grüßen
    Ihr Hartmuth Kinzler


    Prof. i. R. Dr. Hartmuth Kinzler

    Universität Osnabrück
    Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik
    Fachbereich 03 (Erziehungs- und Kulturwissenschaften)
    D-49069 Osnabrück
    http://www.musik.uos.de

    Professor für Theorien der Musik und musikalischen Analyse

    Universität Osnabrück, FB 3
    – Forschungsstelle Musik- und Medientechnologie –
    – Research Department for Music and Media Technology –
    http://www.fmt.uni-osnabrueck.de

    TEL (+)541/969-4147 bzw. 969-4647
    FAX (+)541/969-4775

    e-mail: hkinzler@uos.de
    http://www.musik.uni-osnabrueck.de/institut/mitarbeiterInnen/ehemalige_professorInnen/prof_dr_hartmuth_kinzler.html

    TEL priv. (+)541/45265
    D-49078 Osnabrück
    In der Barlage 102

    • Wolf-Dieter Seiffert sagt:

      Sehr geehrter Herr Kinzler,
      ich bin Ihnen für Ihre ausführliche Wortmeldung sehr zu Dank verpflichtet. Und kann es kurz machen: Sie haben mich, nach nochmaliger Inspektion der Quellensituation, vollständig überzeugt: Besagter Legatobogen muss weg. Ich werde ihn in der nächsten Auflage tilgen und den Kommentar im Krit. Bericht umdrehen (dem Sinne nach: “irrtümlicher Bogen in Erstausgabe”). Zwar ergänzen Stecher nicht nach eigenem Gutdünken Zeichen, aber in diesem Falle scheint mir ein Versehen durchaus plausibel — siehe Kontext.
      So gibt es nichts auf der Welt, das man nicht noch ein bisschen besser machen kann – in KV 331/1, 59 DANK IHNEN, lieber Herr Professor Kinzler!
      Mit herzlichen Grüßen, Ihr Wolf-Dieter Seiffert

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert