Ti­tel­sei­te des WTK I-Au­to­graphs (D-B Mus.​ms. Bach P 415)

Das Jahr 2022 scheint an mu­si­ka­li­schen Ju­bi­lä­en be­son­ders reich zu sein: Selbst wenn wir in die­sem Forum die run­den Ge­burts­ta­ge eines John Wil­li­ams oder Elton John aus na­he­lie­gen­den Grün­den un­ge­fei­ert vor­über­zie­hen las­sen, so reicht die Pa­let­te un­se­rer Tri­bu­te in die­sem Jahr doch schon von Kuhnau über Brahms und Franck bis hin zu Alex­an­der Sk­j­ra­bin. Keine Frage, dass alle diese Kom­po­nis­ten ge­wich­ti­ge Werke hin­ter­las­sen haben und im Hen­le-Ka­ta­log zen­tra­le Po­si­tio­nen be­set­zen. Aber der Ju­bi­lar des heu­ti­gen Bei­trags stellt sie alle in den Schat­ten: Jo­hann Se­bas­ti­an Bachs Wohl­tem­pe­rier­tes Kla­vier Teil I! Diese von Bach 1722 in einer aku­ra­ten Rein­schrift mit auf­wen­di­gem Ti­tel­blatt fest­ge­hal­te­ne Samm­lung von 24 Prä­lu­di­en und Fugen „Zum Nut­zen und Ge­brauch der Lehr­be­gie­ri­gen Mu­si­ca­li­schen Ju­gend, als auch derer in die­sem stu­dio schon habil sey­en­den“ be­glei­tet seit nun­mehr 300 Jah­ren prak­tisch jeden, der sich dem Kla­vier auch nur an­satz­wei­se nä­hert und ent­spre­chend be­wegt ist ihre Ge­schich­te – auch im Henle Ver­lag, wo sie uns nun auch schon über 70 Jahre be­schäf­tigt.

Aber zu­rück ins Jahr 1722: Mit sei­ner in Fach­krei­sen heute gerne WTK I ab­ge­kürz­ten Samm­lung von „Prae­lu­dia und Fugen durch alle Tone und Se­mi­to­nia“ re­agier­te Bach da­mals auf die Be­mü­hun­gen um die bis heute gül­ti­ge, tem­pe­rier­te Sim­mung von Kla­vier­in­stru­men­ten, bei der alle Ton­ar­ten gleich gut klan­gen und ohne Um­stim­mung mu­si­zier­bar waren. Glei­cher­ma­ßen als Übungs­ma­te­ri­al zur Er­lan­gung pia­nis­ti­scher Fä­hig­kei­ten wie als Bei­spiel­samm­lung zur schöp­fe­ri­schen Durch­drin­gung des Kon­tra­punkts ge­dacht, wand­te sich die Samm­lung zu­nächst mal an Bachs ei­ge­ne Schü­ler und Kin­der. Zahl­rei­che noch heute er­hal­te­ne Ab­schrif­ten von Schü­lern und En­kel-Schü­lern Bachs be­le­gen die brei­te und nach­hal­ti­ge Ver­brei­tung zu Leb­zei­ten des Kom­po­nis­ten. Aber auch da­nach soll­te das WTK I – im Ge­gen­satz zu vie­len an­de­ren Kom­po­si­tio­nen des Tho­mas­kan­tors – nicht in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten: Um die Mitte des 18. Jahr­hun­derts fin­det man Ab­schrif­ten davon in Ver­kaufs­ka­ta­lo­gen an­ge­bo­ten. Au­to­ren wie Fried­rich Mar­purg oder Jo­hann Phil­ipp Kirn­ber­ger druck­ten Aus­zü­ge dar­aus in ihren mu­sik­theo­re­ti­schen Schrif­ten ab. Samm­ler wie Gott­fried van Swie­ten nah­men es in ihre Bi­blio­thek auf, wo die nächs­te Kom­po­nis­ten­ge­ne­ra­ti­on es stu­die­ren konn­te – wie durch Ab­schrif­ten, Be­ar­bei­tun­gen oder brief­li­che Äu­ße­run­gen eines Wolf­gang Amadé Mo­zart oder Lud­wig van Beet­ho­ven ein­drück­lich be­legt.

Ti­tel­blatt der Erst­aus­ga­be von N. Sim­rock (D-LÜh Mus S 116)

Im Zuge der ab Mitte der 1790er-Jah­re bei ver­schie­de­nen Ver­la­gen in Fort­set­zungs­samm­lun­gen er­schie­ne­nen Oeu­vres com­plet­tes der Kla­vier­wer­ke eines Mo­zart oder Haydn wand­te sich das ver­le­ge­ri­sche In­ter­es­se auch Bach zu. Um 1800 gaben mit Hans Georg Nä­ge­li (Zü­rich), Ni­ko­laus Sim­rock (Bonn) und dem Bu­reau de Mu­si­que Hoff­meis­ter & Küh­nel (Wien/Leip­zig) gleich drei Un­ter­neh­men in di­rek­ter Kon­kur­renz Druck­aus­ga­ben des WTK I her­aus. Die­sen ers­ten Dru­cken soll­te im 19. Jahr­hun­dert eine wahre Flut fol­gen. Prak­tisch jeder Ver­lag, der etwas auf sich hielt, hatte (min­des­tens) eine Aus­ga­be im Pro­gramm. Denn an­ge­sichts der päd­ago­gi­schen Be­deu­tung der Samm­lung fan­den sich immer mehr Pia­nis­ten, die in ge­zielt „für die Pra­xis be­zeich­ne­ten“ Aus­ga­ben jene von Bach in sei­ner Nie­der­schrift nicht fest­ge­hal­te­nen Pa­ra­me­ter wie Tempo, Dy­na­mik, Fin­gersatz oder Phra­sie­rung er­gänz­ten. Carl Czer­nys 1837 bei Pe­ters in Leip­zig er­schie­ne­ne Aus­ga­be steht am An­fang die­ser Tra­di­ti­on von „in­struk­ti­ven Aus­ga­ben“, die in der 2. Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts von Pia­nis­ten und Kom­po­nis­ten wie Carl Rei­ne­cke, Ro­bert Franz oder Fer­ruc­cio Bu­so­ni mit immer mehr In­for­ma­tio­nen zu Aus­füh­rung und Ver­ständ­nis des Werks an­ge­rei­chert wur­den.

Das Prä­lu­di­um C-Dur (BWV 846) in der Aus­ga­be von Fer­ruc­cio Bu­so­ni

Dass in die­sen Aus­ga­ben mit­un­ter nicht mehr ganz klar er­kenn­bar war, was im No­ten­text nun ei­gent­lich wirk­lich von Bach und was vom Her­aus­ge­ber stamm­te, liegt auf der Hand – und führ­te zur un­ver­meid­li­chen Ge­gen­be­we­gung, die wir heute mit dem Be­griff Ur­text ver­bin­den. So legte Franz Kroll bei Pe­ters schon 1862 einen von (fast) allen Zu­sät­zen be­frei­ten No­ten­text vor, der auch Grund­la­ge sei­ner Edi­ti­on für die Alte Bach-Ge­samt­aus­ga­be war, die bis heute als Mei­len­stein der Bach-For­schung gilt. Wei­te­re (mehr oder min­der) text­kri­ti­sche Edi­tio­nen in an­de­ren Ver­la­gen folg­ten, frei­lich immer be­glei­tet von den in­struk­tiv be­zeich­ne­ten Aus­ga­ben, die beim brei­ten Pu­bli­kum so gut an­ka­men und sich über Ge­ne­ra­tio­nen auf dem Markt hiel­ten.

Genau diese be­zeich­ne­ten Aus­ga­ben waren be­kannt­lich einer der zen­tra­len Be­weg­grün­de für Gün­ter Henle, 1948 einen Ver­lag zu grün­den, in dem es aus­schließ­lich um Ur­text ging. Und auch hier kam und kommt dem WTK I eine wi­chi­ge Be­deu­tung zu: Er­schie­nen 1950 ran­giert es neben Kla­vier­wer­ken von Mo­zart, Beet­ho­ven und Schu­bert im Hen­le-Ka­ta­log unter den ers­ten 10 Ti­teln – und ge­hört bis heute zu den Best­sel­lern des Ver­lags. Otto von Irmer er­öff­ne­te das Vor­wort zu sei­ner Aus­ga­be da­mals mit der pro­gram­ma­ti­schen Fest­stel­lung:

Diese Ur­text-Aus­ga­be gibt dem „Wohl­tem­pe­rier­ten Kla­vier“ die von Bach ge­woll­te Frei­heit der Ge­stal­tungs­mög­lich­keit wie­der. Denn Bach hat Tempo und Dy­na­mik nie­mals fest­ge­legt, son­dern aus dem in­ne­ren Ge­setz des Wer­kes frei ent­wi­ckeln las­sen. Jede Vor­schrift eines Her­aus­ge­bers würde das Werk zur Er­star­rung brin­gen und den Zu­gang zum ei­gent­li­chen Wesen der Bach­schen Musik ver­sper­ren.

Vor­wort der Ir­mer-Aus­ga­be (1950)

Die­sen rei­nen Ur­text aus der brei­ten hand­schrift­li­chen Über­lie­fe­rung des Wer­kes erst ein­mal her­aus­zu­fin­den, war frei­lich keine leich­te Auf­ga­be. Denn in man­cher Ab­schrift war nicht nur der In­halt der Samm­lung, son­dern auch Bachs Hand­schrift so gut ko­piert, dass sie spä­ter irr­tüm­lich als wei­te­res Au­to­graph be­wer­tet wurde. So ging man bis in die 50er-Jah­re des 20. Jahr­hun­derts noch von vier Au­to­gra­phen zum WTK I aus, in denen eine Viel­zahl ver­meint­lich au­to­ri­sier­ter Va­ri­an­ten über­lie­fert war, deren chro­no­lo­gi­sche Ein­ord­nung und Be­wer­tung edi­to­ri­sche Pro­ble­me auf­warf.

Die in un­se­rem Ver­lags­ar­chiv meh­re­re Ord­ner fül­len­de Kor­re­spon­denz zwi­schen dem Her­aus­ge­ber und Gün­ter Henle be­legt, dass die kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit den Quel­len in stän­di­ger Be­rück­sich­ti­gung der ak­tu­el­len Bach-For­schung auch nach Er­schei­nen der Aus­ga­be fort­ge­setzt und durch ex­ter­ne Be­ra­ter un­ter­stützt wurde. Bei jeder neuen Auf­la­ge des WTK I wur­den die neu­es­ten Er­kennt­nis­se ein­ge­ar­bei­tet: So ging man 1960 dann nur noch von einem Au­to­graph aus, das als „zu­ver­läs­sigs­te Quel­le“ bei den Va­ri­an­ten be­vor­zugt wurde. An­de­rer­seits nahm man mehr Ver­zie­run­gen aus den Schü­ler-Ab­schrif­ten aus Bachs di­rek­tem Um­feld auf, die wich­ti­ge Hin­wei­se auf die zeit­ge­nös­si­sche Auf­füh­rungs­pra­xis die­ser Musik gaben.

Bis in das Jahr 1997 wurde der Text immer wie­der in­tern auf den Prüf­stand ge­stellt, dann war die Zeit reif für eine grund­le­gen­de Re­vi­si­on der Aus­ga­be: Auf Basis der zahl­rei­chen Neu­er­kennt­nis­se der Bach-For­schung sich­te­te Her­aus­ge­ber Ernst-Gün­ter Hei­nemann er­neut sämt­li­che Quel­len und legte eine Neu­aus­ga­be vor, in der das Vor­wort erst­mals eine de­tail­lier­te Be­wer­tung der Über­lie­fe­rung und die Be­mer­kun­gen eine Ein­ord­nung der Va­ri­an­ten in ver­schie­de­ne Re­vi­si­ons­stu­fen des Werks lie­fern. Als Stich­vor­la­ge der Neu­aus­ga­be dien­te da­mals die ak­tu­el­le Auf­la­ge der Ir­mer-Edi­ti­on. Wäh­rend der mu­si­ka­li­sche Haupt­text fast un­ver­än­dert blieb, gab es bei den Ver­zie­run­gen und Va­ri­an­ten einen gro­ßen Kor­rek­tur­be­darf, durch den das WTK I auf den ak­tu­el­len For­schungs­stand ge­ho­ben wurde – wie man es von den Ur­text-Aus­ga­ben des Henle Ver­lags er­war­ten darf.

links: Stich­vor­la­ge für die re­vi­dier­te Aus­ga­be; rechts: aus den Be­mer­kun­gen der re­vi­dier­ten Aus­ga­be

Der prak­ti­sche As­pekt sei­ner Ur­text-Aus­ga­ben war Gün­ter Henle frei­lich auch ein be­son­de­res An­lie­gen, wes­we­gen die Kla­vier­aus­ga­ben des Ver­lags von An­be­ginn mit Fin­gersatz aus­ge­stat­tet wur­den. Auch hier spie­gelt das WTK I ver­schie­de­ne Epo­chen der Ver­lags­ge­schich­te wider: In den 50er-Jah­ren er­schien die Aus­ga­be mit dem Fin­gersatz von Walt­her Lampe, einem be­kann­ten Pia­nis­ten und an­ge­se­he­nen Päd­ago­gen, bei dem Gün­ter Henle in jun­gen Jah­ren selbst Un­ter­richt ge­nom­men hatte. Lampe nahm da­mals als enger Be­ra­ter Gün­ter Hen­les regen An­teil an den ers­ten Ver­lags­pro­duk­ten und steu­er­te wich­ti­ge prak­ti­sche Er­fah­run­gen zu den Edi­tio­nen bei. 1973 wurde Lam­pes Fin­gersatz bei einer Neu­auf­la­ge des Werks durch eine spar­sa­me­re Be­zeich­nung von Hans-Mar­tin The­o­pold er­setzt, 2007 soll­te schließ­lich kein Ge­rin­ge­rer als András Schiff ge­won­nen wer­den, um die in­zwi­schen er­schie­ne­ne Neu­aus­ga­be durch seine spiel­prak­ti­schen An­ga­ben zu adeln. Der ge­fei­er­te Bach-In­ter­pret lie­fert zur ak­tu­el­len Aus­ga­be des WTK I aber nicht nur sei­nen wohl­über­leg­ten Fin­gersatz, son­dern erläu­ert in einem aus­führ­li­chen Vor­wort auch seine Vor­stel­lun­gen zur klang­li­chen Ge­stal­tung des Wer­kes.

Die reich­hal­ti­ge Kor­re­spon­denz zwi­schen dem Pia­nis­ten und Ver­lags­lei­ter Wolf-Die­ter Seif­fert sowie Lek­tor Ernst-Gün­ter Hei­nemann gibt noch heute Ein­blick, wie in­ten­siv hier vor Er­schei­nen der Aus­ga­be jedes De­tail dis­ku­tiert wurde. So hatte man of­fen­bar an einem ge­mein­sa­men Abend die Aus­füh­rung des in­tri­ka­ten Ar­peg­gi­os am Ende des d-moll-Prae­lu­di­ums (T. 25 f.) dis­ku­tiert, aber nicht nie­der­ge­schrie­ben – wes­we­gen Wolf-Die­ter Seif­fert den Ma­es­tro Schiff dann per Email um „ein ‚Bach­au­to­graph‘ aus Ihrer Hand“ bit­tet, das die Sach­la­ge klärt.

links: T. 25f. des Prä­lu­di­ums in d-Moll; rechts: aus den Be­mer­kun­gen

Um­ge­kehrt er­läu­tert Schiff dem Ver­lags­lek­tor Hei­nemann in einem aus­führ­li­chen Schrei­ben zu Fin­gersatz­fra­gen, warum er in der gis-moll-Fu­ge die Ton­wie­der­ho­lung am Schluss des The­mas ohne Fin­ger­wech­sel spielt und il­lus­triert seine mu­si­ka­li­sche As­so­zia­ti­on an die­ser Stel­le mit der Text­un­ter­le­gung „et in­car­na­tus est“.

Schiff an Hei­nemann, 05.08.2006

Na, neu­gie­rig ge­wor­den auf un­se­ren Ju­bi­lar WTK I? Dann spü­ren Sie die­ser Deu­tung des gro­ßen Bach-In­ter­pre­ten doch gleich in un­se­rer Aus­ga­be nach… oder leh­nen Sie sich ein­fach zu­rück und lau­schen Sie der wun­der­ba­ren Ge­samt­auf­füh­rung durch András Schiff.

 

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2 Antworten auf »Wenn das kein Grund zum Feiern ist: 300 Jahre WTK I!«

  1. Kirmeier Konrad sagt:

    Hallo Frau Oppermann!
    Es freut mich das nun zu diesem Thema bei Henle zum 300. Geburtstag des WTK 1 ein Blogbeirag erschienen ist. Das Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach sollte da aber auch erwähnt werden.
    Interessant ist vor allen Dingen, dass Sie in Ihrem Beitrag John Williams erwähnen,
    der ja nun in alten Jahren hier in Deutschland auch zu seinen Live Konzerten kommt.
    Ich bin mir ziemlich sicher, dass Mr. Williams ein großer Freund des Musikgottes Bach und Beethoven ist. Was er wohl zum 300. Jubiläumsjahr sagt?
    Wäre doch interessant?

    Freundliche Grüße
    Konrad Kirmeier

  2. Kirmeier Konrad sagt:

    Mein Betrag zum 300. Geburtstag https://youtu.be/m7d7EbNrd0o
    Präludium und Fuge in Es. Um einiges langsamer als Andras Schiff das spielt.

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