Unser Henle-Blog hat sich in diesem Jahr größtenteils mit zwei Themenbereichen befasst: zum einen stellten wir die Gattung Streichquartett unter dem Motto „Henle4Strings“ in den Mittelpunkt, und daneben erinnerten wir an mehrere Gedenktage großer Komponisten (Skrjabin, Brahms, Franck, Kuhnau) oder ihrer Werke (Bachs Wohltemperiertes Klavier). Zum Jahresende fügen sich diese beiden Stränge in bester kontrapunktischer Manier zusammen: der heutige Blogbeitrag ist dem 175. Todestag Felix Mendelssohn Bartholdys gewidmet, der am 4. November 1847 starb, kurz vor seinem Tod aber noch sein letztes bedeutendes Werk fertigstellen konnte – das f-moll-Streichquartett op. post. 80.
Genaugenommen begehen wir 2022 gleich zwei Mendelssohn-Gedenkjahre, denn auch Felix’ Schwester Fanny Hensel (geb. Mendelssohn) starb 1847, ein halbes Jahr vor ihrem Bruder, am 14. Mai. Im Henle-Katalog findet sich übrigens auch ein Band mit bezaubernden Klavierwerken, die wir aus ihrem Nachlass erstmals herausgegeben haben, und auf die an dieser Stelle ausdrücklich hingewiesen sei (HN 392).
Welch schweren Schicksalsschlag Fannys völlig unerwarteter Tod für Felix bedeutete, der seine ältere Schwester abgöttisch liebte, lässt sich kaum ermessen. Nach zeitgenössischen Berichten sank er beim Erhalt der Nachricht mit einem Schrei ohnmächtig zu Boden. Ohnehin gesundheitlich schwer angegriffen durch anstrengende Konzertreisen und chronische Überarbeitung, war Felix Mendelssohn anschließend nur noch ein Schatten seiner selbst. Der englische Musikschriftsteller Henry Chorley, der ihn im August 1847 besuchte, beschreibt ihn als gebeugt gehenden, stark gealterten Menschen, der von Todesahnungen heimgesucht wurde.
Henry F. Chorley: Modern German Music, London 1854, Kapitel „The Last Days of Mendelssohn“, S. 387.
Erholung suchte Mendelssohn in der Schweiz, wohin er mit seiner Familie und seinem Bruder Paul reiste. Die Zeit von Ende Juni bis Mitte September verbrachte er zuerst in Thun, dann in Interlaken. Entgegen manchen biographischen Darstellungen, nach denen Mendelssohns Schaffenskraft nach Fannys Tod zum Erliegen kam, lässt sich durchaus eine bald wieder einsetzende Produktivität feststellen. Zur Arbeit an seinem letzten Streichquartett f-moll finden sich erste Hinweise bereits am 6. Juli, als Mendelssohn in seinem Tagebuch musikalische Notizen zu einem „Allegro für Quartett“ macht, der Beginn des späteren Scherzos. Ab Ende Juli finden sich in Mendelssohns Korrespondenz wieder vermehrt Anspielungen darauf, dass er „Noten schreibe“. Henry Chorley berichtet von seinen Gesprächen mit dem Komponisten: „He had composed much music, he said, since he had been at Interlachen; and mentioned that stupendous quartett in F minor […] besides some English service-music for the Protestant church.“ Zu ergänzen ist hier Mendelssohns intensive Arbeit an seinem Opernprojekt Die Lorelei, das Fragment blieb, zu dem er aber immerhin mehrere vollständige Nummern und umfangreiche Skizzen und Entwürfe notierte. Das Autograph des f-moll-Streichquartetts ist auf der letzten Seite datiert mit „Interlaken September 1847“, und es ist wohl keine unangemessene Spekulation, in dem hochdramatischen Werk voller schmerzlicher Ausbrüche und Stimmungsschwankungen eine Art musikalische Trauerbewältigung zu sehen.
Nach seiner Rückkehr ins heimatliche Leipzig Mitte September 1847 traf sich Mendelssohn häufig mit seinem engen Freund, dem Pianisten und Komponisten Ignaz Moscheles. Dessen Tagebucheinträgen verdanken wir weitere persönliche Einblicke in die letzten Tage des Komponisten. Am 5. Oktober 1847 notiert Moscheles: „Den ganzen Nachmittag bei Mendelssohn bei freundlichster Aufnahme und gemüthlichen Mittheilungen über hiesige Kunstverhältnisse. Er spielte mir sein letztes Quartett vor; alle vier Stücke in F-moll. [Anmerkung: das Adagio steht in der Paralleltonart As-dur]. Der leidenschaftliche Charakter des Ganzen und die düstere Tonart schienen mir ein Ausdruck seines tieferschütterten Seelenlebens; er kämpfte noch mit dem Schmerz über den Verlust seiner Schwester.“ (Aus Moscheles’ Leben, Bd. 2, Leipzig 1873, S. 177)
Bei einem gemeinsamen Spaziergang wenige Tage später antwortete Mendelssohn auf die Frage nach seinem Befinden: „Wie es mir geht? Grau in grau geht es mir.“ Sein letztes Quartett, das er Moscheles nur am Klavier vorgespielt hatte, sollte er nicht mehr in realer Gestalt zu hören bekommen – nach mehreren Schlaganfällen starb er am Abend des 4. November. Bis zur postumen Uraufführung des f-moll-Quartetts verging ein ganzes Jahr: es wurde zu seinem Gedenken am 1. Todestag, dem 4. November 1848, erstmals aufgeführt und weitere zwei Jahre später im Druck veröffentlicht. Für unsere Urtextausgabe (HN 678) ist folglich das Autograph die einzige relevante Quelle. Das Manuskript befindet sich heute in der Krakauer Biblioteka Jagiellońska und kann auf deren Website in ausgezeichneter Qualität studiert werden:
Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Mus. ms. autogr. Mendelssohn 44/9
Wir besitzen also glücklicherweise die komplette Niederschrift des Streichquartetts. Doch ist das Quartett auch „vollendet“? Die Quellensituation scheint ja auf den ersten Blick ideal zu sein: Ein vom Komponisten vollständig notiertes und trotz zahlreicher Korrekturen gut leserliches Partiturautograph – was könnte es authentischeres geben?
Doch die Sache stellt sich etwas problematischer dar, wenn man Mendelssohns übliche Arbeitsweise kennt (worin er vielen anderen Komponisten ähnelt). Die erste Niederschrift stellte in der Regel nur den ersten Schritt eines längeren Prozesses dar, der bis zur endgültigen Veröffentlichung im Druck noch etliche Überarbeitungen und Änderungen mit sich brachte.
Seine rund 10 Jahre zuvor entstandenen drei Streichquartette Opus 44 geben ein anschauliches Beispiel dafür, wie lange sich das kompositorische Weiterarbeiten hinzog. Das Autograph des e-moll-Quartetts op. 44 Nr. 2, das als erstes der Sammlung entstand, ist auf der letzten Notenseite datiert auf den 18. Juni 1837, den Abschluss der Komposition. Doch schon einen Monat später erfahren wir aus einem Brief Mendelssohns an seinen Freund Ferdinand Hiller, den er kurz zuvor getroffen hatte: „Die Änderungen in dem Violinquartett aus e moll habe ich großentheils nach Deinem Rathe gemacht, und es hat sehr dabei gewonnen […]“ (23. Juli 1837). Die intensiven Umarbeitungen, Streichungen, Ergänzungen und Einklebungen im Autograph, die man im Digitalisat der Berliner Staatsbibliothek ausgiebig studieren kann stehen sicherlich in Verbindung mit dieser erwähnten Umarbeitung, können aber zum Teil auch auf die darauffolgende Probenphase für die Uraufführung durch Ferdinand David und seinen Quartettkollegen zurückgehen.
Streichquartett e-moll op. 44 Nr. 2, Andante, Schlusstakte mit Streichungen und Korrekturen.
Staatsbibliothek Berlin, Mus.ms.autogr. Mendelssohn Bartholdy, F. 29
Nicht viel anders ist die Situation bei den beiden Schwesterwerken in Es-dur und D-dur, die Mendelssohn in den folgenden Monaten und im Jahr darauf komponierte. Für alle drei Quartette aus Opus 44 wurden für die Aufführungen handschriftliche Stimmen erstellt, die anschließend als Stichvorlagen für die Erstausgabe bei Breitkopf & Härtel dienten. Natürlich nicht, ohne dass Mendelssohn darin vorher noch inhaltliche Änderungen eintrug… Bei der Übersendung der Stimmen an den Verlag entschuldigte sich Mendelssohn dementsprechend:
„[Sie] erhalten hiebei das Manuscript meiner Drei Violinquartette; entschuldigen Sie, daß es damit so lange gedauert hat – ich habe aber an den Stimmen gekratzt und gemalt, daß mir fast die Geduld verging; jetzt, hoffe ich, sollen sie richtig sein.“ (Brief vom 16. November 1838)
Doch auch in der darauffolgenden Korrekturphase der Druckfahnen nahm der Komponist immer noch weitere Änderungen vor, wie aus diesen zwei zerknirschten Begleitbriefen hervorgeht:
„Hiebei die Correctur des d dur Quartetts. Ich habe leider wieder meiner übeln Gewohnheit nachgehangen und noch 3–4 Stellen verändert, aber da ist nun einmal Hopfen und Malz an mir verloren, und ich kann nichts thun als um Entschuldigung bitten.“ (Brief vom 31. Januar 1839)
„[Sie] erhalten hiebei die letzte Correctur meiner 3 Quartette. […] Entschuldigen Sie gütigst, daß ich so oft und so lange nachcorrigire; es ist eine böse Gewohnheit, die ich gern ablegen möchte und nicht kann.“ (Brief vom 25. Februar 1839)
Exemplarisch für Mendelssohns Änderungswut sei folgende Stelle aus dem Scherzo des Es-dur-Quartetts op. 44 Nr. 3 vorgestellt, wo der Komponist offenbar damit rang, die parallele Stimmführung der beiden Violinen in Terzen mit der motorischen Bewegung der Viola in Einklang zu bringen. Im Autograph lässt die Viola in T. 6 auf der 5. Zählzeit ein Achtel aus, um eine Dissonanz mit dem tonartfremden e der 2. Violine zu vermeiden:
Bei den Proben des David-Quartetts für die Uraufführung wurde offenbar eine Variante erprobt, die auch in die Erstausgabe der Stimmen übernommen wurde: Hier behält die Viola die durchgehende Achtelfiguration bei, was spielpraktisch schlüssiger wirkt, aber durch das es auf Zählzeit 5 eine harte Reibung mit dem e der 2. Violine erzeugt:
Die spätere Erstausgabe der Partitur enthält eine neue Lösung des Problems: nun weicht die 2. Violine auf das g aus, wodurch die Dissonanz zur Viola vermieden wird, allerdings auf Kosten der Parallelführung in Unterterzen zur 1.Violine analog T. 5:
In diesem Punkt scheint die Partitur den besten Text zu bieten, allerdings ist auch sie voller Ungereimtheiten und „Verschlimmbesserungen“, die wahrscheinlich auf Eingriffe eines damaligen Verlagslektors zurückgehen, so dass unsere Urtextausgabe (HN 443) doch die Erstausgabe der Stimmen als Hauptquelle wählte (im obigen Beispiel aber der Partiturlesart folgt).
Aber zurück zum letzten Quartett f-moll, das seine Opuszahl 80 erst bei der postumen Veröffentlichung 1850 erhielt: wie hätte es wohl ausgesehen, wenn Mendelssohn es selbst in Druck gegeben hätte…? Sicher wäre dies erst nach ausgiebigen Proben und nach der Uraufführung geschehen, und mit Sicherheit hätte Mendelssohn an vielen Stellen noch letzte Hand angelegt. Aber selbst, wenn Mendelssohn länger gelebt hätte, auch noch viele Jahre länger, ist nicht einmal gewiss, ob er sich überhaupt jemals zu einer finalen Druckfassung des Quartetts entschließen hätte können. Das beste Beispiel eines solch „vollendet-unvollendeten“ Meisterwerks bietet seine berühmte Symphonie A-dur, komponiert bereits 1833. Die sogenannte „Italienische“, eines der beliebtesten Werke im romantischen sinfonischen Repertoire, wurde von Mendelssohn zeitlebens nie für publikationsreif erachtet, und seine tiefgreifenden Revisionsarbeiten daran blieben ein unvollendeter Torso. Die meisten Konzertgänger wissen vermutlich nicht, dass die Italienische Symphonie bis heute nur in der von Mendelssohn verworfenen Erstfassung von 1833 aufgeführt wird. Doch andererseits: wer würde diese von Anfang bis Ende hinreißende Symphonie als „unfertig“ oder überarbeitungsbedürftig betrachten? Gleiches gilt ganz sicher auch für das f-moll-Quartett, das seit 175 Jahren die Hörer in seinen Bann zieht. Hören Sie es sich zu diesem Gedenktag doch wieder einmal an – zum Beispiel in dieser packenden Live-Aufnahme unserer Freunde vom Aris Quartett: