Nein, die Über­schrift ist kein Tipp­feh­ler. Die kürz­lich er­schie­ne­ne Janáček-Aus­ga­be heißt na­tür­lich Auf ver­wach­se­nem Pfade (HN 1505). Wenn man sich aber als Her­aus­ge­ber und Lek­tor auf die Suche nach dem gül­ti­gen Ur­text die­ses Wer­kes macht, muss man sich wahr­lich auf ver­schlun­ge­ne Pfade be­ge­ben. Aber be­gin­nen wir von vorn.

Unter den zahl­rei­chen Pro­jek­ten, die über mei­nen Schreib­tisch wan­dern, gibt es immer wie­der sol­che, die ich als be­son­de­re Her­zens­an­ge­le­gen­hei­ten be­zeich­nen würde. Der Ver­wach­se­ne Pfad ge­hört si­cher dazu. Nach­dem im G. Henle Ver­lag ja schon ei­ni­ge re­prä­sen­ta­ti­ve Ur­text-Aus­ga­ben von Wer­ken Janáčeks er­schie­nen sind (immer in Ko­ope­ra­ti­on mit der Uni­ver­sal Edi­ti­on, Wien), habe ich mich be­son­ders dar­auf ge­freut, end­lich den Ver­wach­se­nen Pfad an­ge­hen zu kön­nen, si­cher Janáčeks be­deu­tends­tes Kla­vier­werk. Her­aus­ge­ge­ben wer­den un­se­re Janáček-Aus­ga­ben von Jiří Zahrádka, dem wich­tigs­ten Ex­per­ten welt­weit und Lei­ter der Janáček-Ab­tei­lung des Mäh­ri­schen Mu­se­ums in Brünn – wo daher alles be­gann. Zu­sam­men mit Heinz Stol­ba von der Uni­ver­sal Edi­ti­on tra­fen wir uns dem An­lass ent­spre­chend im Janáček-Haus, das nicht nur ein Mu­se­um mit ori­gi­na­len Räu­men be­her­bergt, son­dern auch ein ein­zig­ar­ti­ges Ar­chiv mit allen re­le­van­ten Quel­len zu Leben und Werk des Kom­po­nis­ten. Bei die­sem Tref­fen prä­sen­tier­te Zahrádka uns das ori­gi­na­le Quel­len­ma­te­ri­al für den Ver­wach­se­nen Pfad (Ma­nu­skrip­te und Dru­cke), und wir hat­ten Ge­le­gen­heit die edi­to­ri­schen Grund­sät­ze, aber auch In­halt und Um­fang un­se­rer Aus­ga­be zu dis­ku­tie­ren. Denn wie so oft bei Janáček hat der Kla­vier­zy­klus eine lange und ver­wor­re­ne Ent­ste­hungs­ge­schich­te, in deren Ver­lauf immer wie­der Ein­zel­stü­cke hin­zu­kom­po­niert, ver­wor­fen, für eine zwei­te Reihe vor­ge­se­hen und dann aber doch nicht voll­endet wur­den. Wir waren uns schnell einig, dass un­se­re Aus­ga­be alles mu­si­ka­li­sche Ma­te­ri­al ent­hal­ten muss, das im Zu­sam­men­hang mit dem Ver­wach­se­nen Pfad über­lie­fert ist – keine leich­te Auf­ga­be.

Leoš Janáček (1854–1928)

Dies ist nicht der Ort, die Ent­ste­hungs­ge­schich­te zu du­pli­zie­ren, die Zahrádka mus­ter­gül­tig und de­tail­liert in un­se­rem Vor­wort aus­brei­tet. Nur so­viel sei ge­sagt: Die Mi­nia­tu­ren ent­stan­den ur­sprüng­lich für Har­mo­ni­um, zu­nächst nur sechs Stü­cke, von denen fünf 1901/1902 im Druck er­schie­nen. Erst Jahre spä­ter be­fass­te sich der Kom­po­nist er­neut mit die­sem Werk, das er nun aus­drück­lich als Kla­vier­zy­klus be­zeich­ne­te. Zudem kom­po­nier­te er neue Stü­cke hinzu, so­dass der Zy­klus 1908 schließ­lich zehn Stü­cke um­fass­te, die üb­ri­gens erst in die­ser Zeit ihre poe­ti­schen Titel er­hiel­ten (der Titel Auf ver­wach­se­nem Pfade für den Ge­samt­zy­klus hin­ge­gen stand schon in der frü­hes­ten er­hal­te­nen Quel­le aus der Zeit um 1900 fest). Bis zur Ver­öf­fent­li­chung der nun zehn­tei­li­gen Samm­lung ver­gin­gen je­doch noch ein­mal drei Jahre. Merk­wür­di­ger­wei­se ist aus dem Er­schei­nungs­jahr 1911 über­lie­fert, dass sich Janáček nun schon mit einer „zwei­ten Reihe“ be­schäf­tig­te, die sogar in einer Zeit­schrift an­ge­kün­digt wurde. Diese blieb aber Torso, nur ein ein­zi­ges Stück die­ser neuen Reihe er­schien im Druck, ein zwei­tes ist in einem Ma­nu­skript er­hal­ten. Ein drit­tes blieb un­voll­endet.

Wie soll­ten wir damit um­ge­hen? Uns schien die beste Lö­sung, zu­nächst die zehn Stü­cke der ers­ten Reihe zu ver­öf­fent­li­chen und daran die zwei voll­ende­ten Stü­cke der zwei­ten Reihe an­zu­schlie­ßen. In einem An­hang bringt un­se­re Aus­ga­be zwei Stü­cke, die Janáček so­zu­sa­gen un­ter­wegs auf dem Pfad aus der ers­ten Reihe bei­sei­te­ge­legt hatte. Und auch das un­voll­ende­te Stück aus der zwei­ten Reihe steht bei uns im An­hang – in der Form, wie Janáček es zu­nächst sau­ber ab­schrei­ben ließ, bevor er be­gann, in die­ses Ma­nu­skript mit Blei­stift Än­de­run­gen ein­zu­tra­gen. Die Kor­rek­tu­ren sind näm­lich kaum le­ser­lich, wi­der­sprüch­lich und lü­cken­haft, so­dass sich eine end­gül­ti­ge Form des Stü­ckes nicht re­kon­stru­ie­ren lässt. Uns er­schien es wich­tig, auch die­sen Ein­druck zu ver­mit­teln, wes­halb un­se­re Aus­ga­be im An­schluss an den No­ten­text eine vier­sei­ti­ge Re­pro­duk­ti­on der Ori­gi­nal­quel­le des un­voll­ende­ten Stü­ckes ent­hält. So kön­nen sich alle ein Bild davon ma­chen, was den Kom­po­nis­ten hier mög­li­cher­wei­se um­trieb.

Es war also schon eine Her­aus­for­de­rung, al­lein den In­halt der Aus­ga­be zu be­stim­men. Eine noch schwie­ri­ge­re Auf­ga­be war je­doch ein­deu­tig das edi­to­ri­sche Vor­ge­hen, denn wie der Ent­ste­hungs­pro­zess ver­mu­ten lässt, ist die Quel­len­la­ge un­über­sicht­lich. Nur ein Stück ist als Au­to­graph er­hal­ten (aus der zwei­ten Reihe), aber zahl­rei­che Ab­schrif­ten, Dru­cke aus ver­schie­de­nen Sta­di­en und auch Kor­rek­tur­fah­nen mit Janáčeks Ein­tra­gun­gen zeu­gen von der jah­re­lan­gen Be­schäf­ti­gung mit die­sem Zy­klus. Ob­wohl wir eine vom Kom­po­nis­ten au­to­ri­sier­te Erst­aus­ga­be zu­min­dest der ers­ten Reihe be­sit­zen, wirft der No­ten­text an un­zäh­li­gen Stel­len Fra­gen auf, die es zu klä­ren gilt.

Brünn, Mäh­ri­sches Lan­des­mu­se­um, In­sti­tut für Mu­sik­ge­schich­te, Janácek-Ar­chiv, Si­gna­tur A 7449. Wie­der­ga­be mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung.

Eine Ur­sa­che für die vie­len Un­klar­hei­ten mag Janáčeks schwer les­ba­re Hand­schrift sein. Um Ihnen ein Bild davon zu ver­mit­teln, rechts eine Seite des Au­to­graphs von Nr. 2 aus der zwei­ten Reihe. Vie­les ist hier nur skiz­zen­haft an­ge­deu­tet. Die Auf­ga­be von Ko­pis­ten war es, diese Au­to­gra­phe in deut­lich les­ba­re Ma­nu­skrip­te zu über­tra­gen, wobei na­tür­lich Feh­ler pas­sier­ten. Die Ab­schrif­ten wur­den von Janáček durch­ge­se­hen, teils er­neut ab­ge­schrie­ben, schließ­lich dem Ver­lag zum Druck über­ge­ben. Im Her­stel­lungs­pro­zess un­ter­lie­fen dem No­ten­s­te­cher wie­der­um Feh­ler, die Janáček durch Kor­rek­tur­le­sun­gen zu be­sei­ti­gen ver­such­te. Er­hal­te­ne Kor­rek­tur­fah­nen zeu­gen davon, dass der Kom­po­nist tat­säch­lich sehr genau hin­schau­te. Aber alle Feh­ler sah er nicht und alle Un­klar­hei­ten be­sei­tig­te er auch nicht; miss­ver­ständ­li­che Kor­rek­tu­ren sorg­ten gar für neue Ver­wir­rung.

Kor­rek­tur­ab­zug mit Janáčeks An­no­ta­tio­nen; Brünn, Mäh­ri­sches Lan­des­mu­se­um, In­sti­tut für Mu­sik­ge­schich­te, Janácek-Ar­chiv, Si­gna­tur A 7428. Wie­der­ga­be mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung.

So kommt es dazu, dass unser Her­aus­ge­ber Zahrádka bei vie­len Text­fra­gen von der au­to­ri­sier­ten Erst­aus­ga­be aus­ge­hend immer wie­der durch alle Quel­len­schich­ten zu­rück­ge­hen muss­te. Er be­wies dabei ar­chäo­lo­gi­sches Ge­spür, denn stets ging es darum, äl­te­re Werk­schich­ten frei­zu­le­gen und da­durch Ant­wor­ten auf un­se­re Fra­gen an den über­lie­fer­ten No­ten­text zu fin­den. Zwei Bei­spie­le möch­te ich her­aus­grei­fen.

In Nr. 2 aus Reihe I sind in T. 33 und 34 Noten in der Un­ter­stim­me der rech­ten Hand un­klar. Es geht um die Noten ges1 und f1, beide un­mit­tel­bar um den Takt­strich herum.

Aus Nr. 2: Ein ver­weh­tes Blatt

In den äl­tes­ten Quel­len – den bei­den Ab­schrif­ten zur Har­mo­ni­um­fas­sung – steht in T. 33 ges1, wie in un­se­rer Aus­ga­be. In der Erst­aus­ga­be der Har­mo­ni­um­fas­sung und in allen nach­fol­gen­den Quel­len steht al­ler­dings es1. Eine nach­träg­li­che Än­de­rung Janáčeks? Im Kor­rek­tur­ab­zug, den Janáček sah, steht je­den­falls es1, un­kor­ri­giert. In T. 34 steht in der Erst­aus­ga­be des Ge­samt­zy­klus als erste un­te­re Note des2 (glei­che Note wie Ober­stim­me! So auch im Kor­rek­tur­ab­zug, wie­der­um un­kor­ri­giert). Alle frü­he­ren Quel­len haben je­doch f1. In bei­den Fäl­len haben wir den frü­hen Quel­len den Vor­zug ge­ge­ben, weil wir glau­ben, dass es sich bei den spä­te­ren Les­ar­ten um Ver­se­hen han­delt, die Janáček schlicht­weg durch­gin­gen. Fuß­no­ten in un­se­rer Aus­ga­be ma­chen je­doch auf beide Al­ter­na­ti­ven auf­merk­sam.

Das zwei­te Bei­spiel stammt aus Nr. 5, Reihe I. In T. 10 lau­tet die 2. Note der rech­ten Hand in der Erst­aus­ga­be ein­deu­tig es2. In der Ab­schrift hin­ge­gen (in die­sem Fall die ein­zi­ge frü­he­re Quel­le) steht ein e2, mit Warn­vor­zei­chen ♮. Was ist rich­tig? Die frühe Fas­sung oder die späte? Ein Blick in den Kor­rek­tur­ab­zug ent­hüllt Er­staun­li­ches. Der Ste­cher der Erst­aus­ga­be hatte näm­lich ur­sprüng­lich ein e2 ge­sto­chen, al­ler­dings ohne Warn­vor­zei­chen. Janáček er­gänz­te im Fah­nen­ab­zug ein Kor­rek­tur­zei­chen vor die­ser Note und schrieb in den ent­spre­chen­den Rand­ver­merk ein­deu­tig ein ♮.

Aus­schnitt aus Abb. oben

Der Ste­cher, der Janáčeks Kor­rek­tu­ren um­setz­te, ver­las sich aber of­fen­sicht­lich, ach­te­te nicht auf den Rand­ver­merk und in­ter­pre­tier­te das Kor­rek­tur­zei­chen als ♭. So er­schien die Erst­aus­ga­be und auch ein Nach­druck (zu Janáčeks Leb­zei­ten) mit es2, ohne dass der Kom­po­nist pro­tes­tiert hätte. Das es2 hat durch T. 2 eine ge­wis­se Plau­si­bi­li­tät, aber der ab­wei­chen­de har­mo­ni­sche Kon­text und Janáčeks Ein­tra­gung im Kor­rek­tur­ab­zug las­sen kei­nen Zwei­fel, dass ei­gent­lich e2 ge­meint ist.

Dies sind nur zwei Bei­spie­le für die wahr­haf­tig „ver­schlun­ge­nen Pfade“, die unser Her­aus­ge­ber Zahrádka gehen muss­te, um aus der Quel­len­la­ge einen zu­ver­läs­si­gen Ur­text zu de­stil­lie­ren. Ins­ge­samt haben wir uns je­doch be­müht, mög­lichst viele Ei­gen­hei­ten der No­ta­ti­on Janáčeks spür­bar wer­den zu las­sen. So be­wah­ren wir man­che rhyth­mi­sche No­ta­ti­on, die nach mo­der­nen Maß­stä­ben un­ge­wöhn­lich er­scheint, be­wusst, wenn die Aus­füh­rung ein­deu­tig ist. Auch Noten, die nach har­mo­ni­schem Kon­text ei­gent­lich en­har­mo­nisch um­ge­deu­tet wer­den müss­ten, haben wir so wie vom Kom­po­nis­ten no­tiert be­las­sen. Janáčeks ganz in­di­vi­du­el­le Ton­spra­che, die sich mit­un­ter auch in ei­gen­wil­li­ger No­ta­ti­on aus­drückt, wird so in die­ser neuen Ur­text­aus­ga­be trans­pa­rent.

Ein gro­ßer Dank an Jiří Zahrádka und Heinz Stol­ba dafür, dass wir uns ge­mein­sam auf die­sen Ver­wach­se­nen Pfad (hier in einer schö­nen Auf­nah­me von Ivan Klánský) be­ge­ben konn­ten!

Der große Pia­nist Lars Vogt steu­er­te den Fin­gersatz für diese Aus­ga­be bei. Tra­gi­scher­wei­se ver­starb er, kurz nach­dem er mir seine letz­ten Kor­rek­tu­ren über­mit­tel­te hatte. Diese Musik bleibt für mich immer mit Lars Vogt ver­bun­den!

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