Der 150. Geburtstag Arnold Schönbergs wird bei Henle gebührend gefeiert: pünktlich zu Jahresbeginn ist mit der Verklärten Nacht für Streichsextett (HN 1565) eines seiner populärsten Werke endlich auch im blauen Urtext-Umschlag erschienen. Unterstützt hat mich bei diesem Editionsprojekt einer der Schönberg-Spezialisten schlechthin: der Bratschist des ehemaligen Schönberg-Quartetts Henk Guittart, der auch als Dirigent viele Aufführungen von Verklärte Nacht geleitet hat. Noch bevor ich mit der Edition begonnen hatte, präsentierte er mir bereits lange Listen mit Fragen und Korrekturen zur Partitur, die aus seiner jahrzehntelangen Vertrautheit mit dem Werk resultierten. Im vergangenen Jahr haben wir dann unzählige Emails ausgetauscht mit Überlegungen zur Quellenlage im Allgemeinen und zu vielen Details der Partitur – denn genau in diesem Spannungsfeld zwischen Quellentreue und Praktikabilität galt es, einen Notentext zu konstituieren, der Urtext-Kriterien erfüllt, aber den Interpreten auch eine optimale Grundlage zum Musizieren an die Hand gibt. Warum das gar nicht so einfach war, haben wir im folgenden Interview noch einmal Revue passieren lassen.
Annette Oppermann (AO): Lieber Herr Guittart, ich begrüße Sie mit einem herzlichen Dankeschön! Ihr Beitrag zu unserer Schönberg-Ausgabe ist wahrlich nicht mit Gold aufzuwiegen – durch Ihre Geduld und Ausdauer bei der Klärung all der editorischen Detailfragen, können wir in unserer Urtext-Ausgabe erstmals viele neue und wichtige Informationen für die Ausführenden bereitstellen, über die wir im Folgenden sprechen wollen. Zum Einstieg aber eine ganz persönliche Frage: Wann und wie sind Sie eigentlich mit Schönbergs Verklärter Nacht erstmals in Berührung gekommen?
Henk Guittart (HG): Liebe Frau Oppermann, unsere Zusammenarbeit war auch für mich sehr wichtig und interessant! Zu Ihrer Frage: Ich habe die Verklärte Nacht zum ersten Mal im Jahr 1971 gehört, also im Alter von 18 Jahren, auf einer Platte, wo Zubin Mehta das Israel Philharmonic Orchestra dirigierte. Ich weiß nur noch, wie sehr ich beeindruckt war, und dass dieses Werk, zusammen mit Pierrot lunaire (was ich im selben Jahr als junger Bratschist im Vorläufer vom später von mir gegründeten Schönberg Ensemble einstudierte), für mich eine lebenslange Begeisterung, Liebe und Faszination für die Musik Arnold Schönbergs in die Wege geleitet hat.
AO: Die Verklärte Nacht hat Schönberg lange beschäftigt: Zunächst hat er das 1899 entstandene Sextett gründlich für die Drucklegung im Jahr 1905 überarbeitet. 1916/17 schuf er eine erste Fassung für Kammerorchester, die sehr erfolgreich war. Sie erweitert die Partitur um eine siebte Stimme (Kontrabass), belässt den musikalischen Grundtext aber im Wesentlichen unverändert. 1943 revidierte er diese für eine amerikanische Neuausgabe. Mit der Revision wollte Schönberg die klanglichen Schwächen der früheren Kammerorchester-Version, vor allem im Bereich von Tempo und Artikulation, beheben. Aber es gab auch pekuniäre Motive: Der in Deutschland 1933 mit Aufführungsverbot belegte Komponist war in die USA emigriert und erhielt dort keine Tantiemen aus den (vergleichsweise häufigen!) Aufführungen dieses Orchesterwerks.
Diese 1943 erschienene Orchesterpartitur gilt heute vielen Kammermusikern als wichtige Informationsquelle bei der Einstudierung des Sextetts – so zum Beispiel Henk Guittart, der das Werk nicht nur unzählige Male gespielt und dirigiert, sondern auch kürzlich eine Bearbeitung für Klaviertrio davon erstellt hat. Warum ist die Fassung von 1943 auch für die Aufführung des Sextetts so wichtig?
HG: Weil es gewissermaßen das letzte Wort Schönbergs ist über diese Musik. Ich bin deshalb auch der Meinung, dass die frühe Fassung von 1917 überflüssig oder sogar ungültig ist. Das heißt auch, dass solche Kammerorchesteraufführungen nicht die Absicht des Komponisten vertreten. Die Partitur von 1943 besteht aus einer sehr großen Besetzung, mit mindestens 64 Streichern, wobei Schönberg wunderbare Klangschichten kreiert, mit Abwechslung zwischen Tutti und solistischen Besetzungen, wie auch ab und zu das originale Sextett! Alle Korrekturen und Änderungen, die er in der Partitur von 1943 umgesetzt hat, zeigen seine Erfahrungen aus der Praxis, die er wohl aus Sextett- und Orchester-Aufführungen, auch als Dirigent, gesammelt hat. Meiner Meinung nach sind fast alle Änderungen rein musikalische Verbesserungen, nur ganz wenige haben zu tun mit der Verwandlung von Kammermusik in eine große Besetzung. Als wir im Jahr 1981 dann als erweitertes Schönberg-Quartett zum ersten Mal die Sextett-Fassung einstudiert haben, war es für mich klar, dass wir die Partitur von 1943 als Ausgangspunkt nehmen sollten. Walter Levin, Primgeiger des LaSalle Quartetts, erzählte uns später, dass sein Ensemble das auch getan hat. Ich glaube aber, dass bis jetzt nur wenige Kollegen uns in dieser Richtung gefolgt sind. Ich bin davon überzeugt, dass die neue Henle-Ausgabe dazu beitragen wird, dass die wirklichen Verbesserungen von Schönbergs Hand jetzt weitere Verbreitung finden.
AO: In unserer Urtext-Ausgabe haben wir uns allerdings trotzdem für eine klare Abgrenzung zur Orchesterfassung entschieden, da Schönberg an der Sextett-Partitur nie Zweifel geäußert und sogar ausdrücklich die solistische Freiheit der Ausführenden des Kammermusik-Werks gegenüber der Orchesterfassung beschrieben hat. Nur in einer Hinsicht haben wir eine Ausnahme gemacht: bei den Metronomangaben. Die überreich bezeichnete Partitur des Sextetts enthält vom „Sehr langsam“ des Beginns bis zum „Sehr groß“ des letzten Abschnitts auf fast jeder Seite eine oder mehrere Tempoangaben, deren exakte Umsetzung durchaus Fragen aufwirft.
Dass auch Schönberg hier mehr Information für sinnvoll hielt, belegt sein Handexemplar der Sextett-Partitur, in dem er (leider nur bis T. 181) Metronomzahlen eintrug. Daher haben wir die 1943 für die Orchesterfassung realisierte vollständige Metronomierung als eine authentische aufführungspraktische Information, die auch für die Sextett-Version interessante Vergleichswerte liefert, in unsere Edition (selbstverständlich mit entsprechender Kennzeichnung) aufgenommen.
Hingegen konnte ich mich nicht entschließen, die grundlegende Revision von Dynamik und Artikulation zu übernehmen – was Sie, Henk Guittart aber durchaus als sinnvoll empfanden. Aus welchem Grund?
HG: Weil ich fest daran glaube, dass die Fassung von 1943 gerade was Artikulation und Dynamik betrifft viele Verbesserungen enthält. Wobei ich selbstverständlich verstehe, dass man diese Änderungen eben nicht in eine Urtext-Ausgabe des Sextetts übernehmen kann.
AO: Zumal dies bedeutet hätte, dass wir die authentische Schicht von Dynamik und Artikulation der Sextett-Fassung gar nicht mehr hätten zeigen können – was sich mit dem Urtext-Gedanken definitiv nicht vereinbaren lässt. So habe ich die späte Orchesterfassung in meiner Edition nur im Ausnahmefall zurate gezogen.
Aber Ihre Perspektive auf das Werk hat uns eben auch überzeugt. Und so haben wir uns in der digitalen Version unserer Urtext-Ausgabe der Verklärten Nacht für eine ganz neue Lösung entschieden. Hier liefern Sie unseren Nutzern im Anhang eine bezeichnete Version unserer Urtext-Partitur, die sich stärker an der Orchesterfassung 1943 orientiert. Welchen Prinzipien sind Sie dabei gefolgt, Herr Guittart?
HG: Die Dynamik und Artikulation sind fast vollständig übernommen aus der Partitur von 1943, Kriterium war jeweils die Frage, ob die Änderung auch für die Kammermusikfassung richtig wäre. Es gab nur ein paar Ausnahmen. Meiner Meinung nach wird so die Sextett-Fassung noch klarer und durchsichtiger. Auch die von Schönberg in der späten Orchesterfassung eingeführte Kennzeichnung von Haupt- und Nebenstimmen habe ich gerne übernommen, weil es die Transparenz schon sehr fördert.
AO: Um die Abweichungen zum Urtext auch in dieser Version klar zu erfassen, haben wir ein Experiment gewagt: die Kennzeichnung der Änderungen durch rote Farbe. Im Druck sehr aufwendig, aber in digitaler Form – nach einigen Versuchen – vergleichsweise leicht herzustellen.
Verraten sei aber auch, dass diese Anhang-Partitur ein paar Tricks aus der Praxis enthält.
HG: Ja, zum Beispiel habe ich in Takt 47 und 49 in Bratsche 1 ein diminuendo-Zeichen ergänzt. Das konnte ich bis vor kurzem nur damit begründen, dass ich es musikalisch richtig fand. Aber seitdem ich die Aufnahme von 1929 gehört habe, in der Schönberg selber dirigiert, glaube ich noch fester daran, dass es nicht schadet, um es als Empfehlung hineinzuschreiben.
In Takt 330 glaube ich, dass die letzte Note in Bratsche 1 ges1 sein sollte, und nicht es1. Ich habe das immer so gespielt, weil es mir logisch schien. Aber es steht so in keiner Quelle. Jetzt steht es aber zu lesen in meiner Partitur.
AO: Ja, dies ist einer der seltenen Fälle, wo in der Anhangs-Partitur sogar ein Ton verändert wurde. In der Urtext-Ausgabe hingegen steht das es1, aber mit einem Hinweis auf die Bemerkungen, in denen dargelegt wird, dass der Dezimabstand zur 1. Note der absteigenden Skala (statt Oktavabstand wie sonst in T 330 f.) merkwürdig und möglicherweise ein Schreibversehen Schönbergs ist, das sich durch alle Quellen zieht. Übrigens bis in die Orchesterfassung von 1943!
HG: Dann gibt es noch auch Stellen, zu denen es in meiner Anhangs-Partitur eine konkrete Empfehlung zur leichteren Ausführung gibt. Obwohl ich finde, dass der Komponist grundsätzlich immer recht hat, kann ich nicht verstehen, warum die Violoncelli im Takt 226 die Doppelgriffe wechseln sollten, wo alle andere Instrumente eben nicht wechseln. Es bringt keine andere Farbe, nur eine mögliche Unsicherheit für beide Celli. Daher schlage ich hier einen Stimmtausch vor, der das Problem löst.
Auch für den Akkord in Takt 416 würde ich in der Praxis eine andere Lösung empfehlen: das a1 der Geige 1 könnte von der Bratsche 1 übernommen werden, deren a2 dafür die Geige 1 übernehmen könnte. Damit ist die – in dieser hohen Lage manchmal unangenehme – Quinte in der Bratsche vermieden, und die (nach etwa einer halben Stunde) möglicherweise zu tiefe leere A-Saite der Geige 1 ist dann auch kein Problem mehr. Solche Vorschläge stehen nicht in meiner Partitur, weil das meiner Meinung nach eine zu starke Änderung wäre. Aber ich nenne sie hier gerne als Geheimtipps für aufmerksame Leserinnen und Leser dieses Blogs…
AO: Vielen Dank dafür! Sind also alle Fragen zur Verklärten Nacht geklärt? Oder gibt es selbst für Sie noch Stellen, für die Sie keine schlüssige Antwort finden?
HG: Ja! Ich verstehe nicht richtig, was Schönberg gemeint hat mit dem forte in Takt 21. In Takt 20 steht ja schon forte und dann ein crescendo zum forte? Heißt das subito meno forte auf der Eins von Takt 21? Das haben wir mal ausprobiert, und dann klingt es wirklich etwas parfümiert. Oder bezeichnet es einen Höhepunkt? So empfinde ich es – und erst kürzlich habe ich festgestellt, dass es sich so auch in Schönbergs Aufnahme von 1929 anhört. Aber letztlich bleibt die Notierung rätselhaft.
AO: Und mit diesem Rätsel schließen wir diesen Blog zu unserer besonderen Ausgabe der Verklärten Nacht. Herzlichen Dank für das Interview!
Liebe Annette Oppermann,
es ist äußerst anregend, wieder einmal etwas Informatives über einen Großmeister der modernen Musik des 20. Jahrhunderts lesen zu dürfen…
Denn auch mich begleitete in meiner Jugend dieses frühe Meisterwerk Arnold Schönbergs, und ließ mich eintauchen in die nachfolgend bahnbrechende Welt der Neuen Wiener Schule.
Entstanden ist das Streichsextett ein Jahr vor den Gurre-Liedern. Über die Arnold Schönberg damals schrieb, er habe darin die „herausgehörten“ Akkorde eines Richard Wagners – das musikalische Idol seiner Jugend – zu einem Neuen und in dieser Form noch Ungehörtem zusammengefügt. (Wie so oft aus seinem Munde, wohl ein Understatement, eine intellektuelle Untertreibung!)
Bereits in der Verklärten Nacht prüfte Arnold Schönberg das Tristan-Wagnersche Tonsystem auf Herz und Nieren, auf seine emotionale wie funktionale Verwertbarkeit; genährt von dem Bewusstsein jener ihm innewohnenden narkotisierenden Modernität.
So scheint mir auch, dass jenes am Schluss Ihres Beitrages angesprochene Rätsel des 20. Taktes seine Lösung in den beiden aufeinanderprallenden Tristan-Akkorden zu finden hat…
Und dies wird bereits einen Takt zuvor angekündigt:
Vorbereitet durch die chromatisch abwärts gleitende Hauptstimme (Vc2,Va2) a-gis-g über dem Akkord e/b/d (Tristan-Akkord über dem rhythmischen Sechzehntel g), atemholend und direkt als zweiten und gleichwertigen Block auf der Drei, zum neuerlichen und eine Quarte höher gelegenen Tristan-Akkord a/es/(g)/c (wobei sich die hier nun innewohnende Hauptstimme über das fis, quasi funktionsharmonisch, und nun chromatisch aufwärts, zurückschwingt zum neuerlichen a des ersten Blockes).
Takt 20 mit Takt 21 wiederholt in einer zeitlichen Dehnung das in Takt 19 Gefundene, wobei die Hauptstimme (Vl1,Va1) nun auf dem fis endet und somit die nächste Variation ab Takt 22 vorbereitet.
Kurzum – so erklingt es in mir – stehen ab Takt 19 zwei gleichwertige Blöcke, die in sich jenes psychisch-emotionale Zwitterwesen des Tristan-Akkordes, der Starre und gleichzeitigen Suche nach Auflösung, tragen. Zuerst in Takt 19 auf der 1 und der 3, dann auf der 1 in Takt 20 und der 1 in Takt 21. Und somit nach seinem adäquaten musikalischen Ausdruck verlangt!
Mit freundlichen Grüßen
Michael Strasser, Komponist