Erst­aus­ga­be A. Gut­heil, Re­print

Wohl zu kei­nem an­de­ren Werk haben wir in den letz­ten Jah­ren so viele Nach­fra­gen von Mu­si­kern, Kun­den und Händ­lern er­hal­ten, wann denn end­lich die Hen­le-Aus­ga­be dazu er­schei­nen werde… Die Rede ist na­tür­lich von einem der größ­ten „Schlacht­rös­ser“ der Kla­vier­ge­schich­te, dem 3. Kla­vier­kon­zert d-moll op. 30 von Ser­gej Rach­ma­ni­now.

Die Edi­ti­on des mo­nu­men­ta­len Kon­zerts mit 1162 Tak­ten hat etwas Zeit in An­spruch ge­nom­men, aber seit Au­gust 2023 ist un­se­re Ur­text-Aus­ga­be des Kla­vier­aus­zugs (HN 1452) nun auf dem Markt – Zeit für einen klei­nen Rund­gang durch ihre au­ßer­ge­wöhn­li­chen Ei­gen­schaf­ten!

Es ist ein merk­wür­di­ges Phä­no­men, dass selbst die be­lieb­tes­ten und meist­ge­spiel­ten Werke v. a. des 20. Jahr­hun­derts oft nur in ver­al­te­ten und un­be­frie­di­gen­den Aus­ga­ben vor­lie­gen. Zu Rach­ma­ni­nows 3. Kla­vier­kon­zert waren bis­her le­dig­lich ver­klei­ner­te fo­to­me­cha­ni­sche Nach­dru­cke der Erst­aus­ga­be von 1910 im Mu­sik­han­del er­hält­lich, die mit ihrem schwer les­ba­ren No­ten­bild das Ein­stu­die­ren des an­spruchs­vol­len Werks nicht ge­ra­de er­leich­ter­ten. Al­lein schon durch das mo­der­ne und groß­zü­gi­ge­re No­ten­bild und den ge­sto­chen schar­fen Druck hebt sich die Hen­le-Aus­ga­be von allen an­de­ren Aus­ga­ben ab:

links: Erst­aus­ga­be A. Gut­heil, Re­print; rechts: Henle Ur­text

Zum Ver­gleich: wäh­rend die Erst­aus­ga­be mit 78 No­ten­sei­ten aus­kommt, um­fasst die Hen­le-Aus­ga­be 110 No­ten­sei­ten – das etwas häu­fi­ge­re Um­blät­tern scheint uns ein an­nehm­ba­rer Preis für den Vor­teil der au­gen­scho­nen­den grö­ße­ren No­ten­sys­te­me… Und auf viel­fa­chen Kun­den­wunsch im Vor­feld haben wir uns für die große Ka­denz im 1. Satz etwas Be­son­de­res aus­ge­dacht: Weil die sehr schwe­re Os­sia-Ka­denz im Klein­stich etwas müh­sam zu lesen ist, haben wir sie auf einem Ein­le­ge­blatt noch ein wei­te­res Mal im Groß­druck ab­ge­bil­det, für ein be­son­ders be­que­mes Ein­stu­die­ren:

Aber na­tür­lich ist eine Henle Ur­text­aus­ga­be nicht nur op­tisch, son­dern auch in­halt­lich höchs­ten An­sprü­chen ver­pflich­tet. Un­se­res Wis­sens nach haben wir in der Vor­be­rei­tung un­se­rer Neu­aus­ga­be zum ers­ten Mal über­haupt das Par­ti­tur­au­to­graph (als De­po­si­tum in der Bri­tish Li­bra­ry be­find­lich) für eine kri­ti­sche Edi­ti­on aus­ge­wer­tet. (Aus recht­li­chen Grün­den kön­nen wir hier keine Ab­bil­dun­gen aus dem Au­to­graph ver­öf­fent­li­chen.)

Als Haupt­quel­le un­se­rer Edi­ti­on dien­te die Erst­aus­ga­be (er­schie­nen 1910 in Mos­kau im Ver­lag A. Gut­heil), die wie üb­lich sehr ver­läss­lich war, da Rach­ma­ni­now sie selbst über­wach­te und au­to­ri­sier­te. Gleich­wohl ergab unser ge­nau­er Ver­gleich mit dem Au­to­graph et­li­che of­fen­sicht­li­che Ver­se­hen des Ste­chers, die auch der Kom­po­nist beim Kor­rek­tur­le­sen über­sah. Selbst einen ve­ri­ta­blen No­ten­feh­ler konn­ten wir ent­de­cken und gemäß Au­to­graph kor­ri­gie­ren, näm­lich in der Ka­denz gegen Ende des 1. Sat­zes:

1. Satz, T. 354, Erst­aus­ga­be A. Gut­heil mit Stich­feh­ler h1

1. Satz, T. 354, Hen­le-Edi­ti­on mit kor­ri­gier­ter Note a1 gemäß Au­to­graph (vgl. auch Ak­kord in der lin­ken Hand)

Dar­über hin­aus konn­ten wir an zahl­rei­chen Stel­len mit­hil­fe des Au­to­graphs Un­ge­nau­ig­kei­ten hin­sicht­lich Ar­ti­ku­la­ti­on und Bo­gen­set­zung kor­ri­gie­ren oder ver­ges­se­ne dy­na­mi­sche An­ga­ben er­gän­zen.

Im 2. Satz fin­det sich in T. 46 in der Erst­aus­ga­be eine rhyth­mi­sche Merk­wür­dig­keit: Die punk­tier­te Vier­tel in der rech­ten Hand und die an­schlie­ßen­de letz­te Trio­le­nach­tel gehen ma­the­ma­tisch nicht auf:

Das Au­to­graph gibt dar­über Auf­schluss, dass Rach­ma­ni­now die letz­te Zähl­zeit zu­erst kor­rekt duo­lisch no­tier­te:

Ver­mut­lich stör­te ihn aber das „Da­zwi­schen­klap­pern“ der rech­ten Hand gegen die Trio­le der lin­ken Hand; si­cher­lich geht die An­glei­chung zum trio­li­schen Rhyth­mus in der rech­ten Hand auf den Kom­po­nis­ten zu­rück. Um den ge­wünsch­ten Rhyth­mus for­mal kor­rekt dar­zu­stel­len, glei­chen wir in un­se­rer Edi­ti­on die No­ta­ti­on an die ana­lo­ge Stel­le in T. 42 an, mit Über­bin­dung statt Punk­tie­rung:

Wie für alle Rach­ma­ni­now-Aus­ga­ben im Hen­le-Ver­lag war für den Fin­gersatz wie­der­um der Jahr­hun­dert­vir­tuo­se Marc-An­dré Ha­me­lin ver­ant­wort­lich. Viele Pas­sa­gen wer­den mit sei­nen Fin­gersatz­vor­schlä­gen, die aus sei­ner jahr­zehn­te­lan­gen Auf­füh­rungs­er­fah­rung mit dem Kon­zert stam­men, si­cher­lich be­que­mer spiel­bar. Doch damit nicht genug: für ei­ni­ge be­son­ders kniff­li­ge Takte bie­tet Ha­me­lin trick­rei­che Vor­schlä­ge für eine al­ter­na­ti­ve Ver­tei­lung der Noten auf die Hände an, die die Spiel­bar­keit deut­lich er­leich­tern.

1. Satz, T. 32, Henle Ur­text

1. Satz, T. 32, al­ter­na­ti­ve Ver­tei­lung auf die Hände

Diese Al­ter­na­ti­ven sind in der Druck­aus­ga­be eben­falls auf dem oben er­wähn­ten Ein­le­ge­blatt ab­ge­druckt, so dass man sie beim Üben neben die Par­ti­tur stel­len und kon­sul­tie­ren kann.

1. Satz, T. 391, Henle Ur­text

1. Satz, T. 391, al­ter­na­ti­ve Ver­tei­lung auf die Hände

Noch be­que­mer funk­tio­niert das in un­se­rer Henle Li­bra­ry App, in der das Kla­vier­kon­zert na­tür­lich eben­falls in di­gi­ta­ler Form er­hält­lich ist. Hier kann man eine fan­tas­ti­sche neue Funk­ti­on („Va­ria­ti­ons“) nut­zen, die das wahl­wei­se Ein­blen­den ver­schie­de­ner Va­ri­an­ten eines oder meh­re­rer Takte im fort­lau­fen­den No­ten­text er­laubt:

Henle Li­bra­ry App: neue Funk­ti­on „Va­ria­ti­ons“

Diese Funk­ti­on er­laubt auch das Wäh­len der be­vor­zug­ten Ka­denz und Aus­blen­den der nicht be­nö­tig­ten Sys­te­me der an­de­ren Ka­denz:

Henle Li­bra­ry App: beide Ka­den­zen

links: Haupt­ka­denz; rechts: Os­sia-Ka­denz

Wir hof­fen, dass wir allen Pia­nis­ten so ein idea­le Grund­la­ge zum Ein­stu­die­ren die­ses mo­nu­men­ta­len Kon­zerts bie­ten kön­nen – nur spie­len müs­sen Sie noch selbst…

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