Anhänger von sogenannten „True Crime“-Formaten, also von Berichten über wahre Kriminalfälle, wissen nur allzu gut, welche große Rolle der Zufall bei der Aufklärung von Verbrechen spielt. Da werden wochen- oder monatelang Hinweise verfolgt, die ins Nichts führen – dann aber zeigt sich eine Querverbindung, die zur heißen Spur wird. Oder bei einer erneuten Zeugenbefragung kommt ein bislang nicht bekanntes oder nicht beachtetes Detail zum Vorschein, das den Tathergang in einem neuen Licht zeigt. Jedenfalls ist häufig vom „Kommissar Zufall“ die Rede, wenn es um den Durchbruch zur Aufklärung eines Kriminalfalles geht. Zwar ist die Quellenrecherche des Henle-Lektoren-Teams nicht mit den Ermittlungen von Kriminalbeamten zu vergleichen, aber Berührungspunkte ergeben sich insofern, als manchmal detektivisches Gespür zu der entscheidenden Nachfrage benötigt wird. Oder eben – und davon soll im Folgenden die Rede sein – Kommissar Zufall zum Einsatz kommt.
Sergej Prokofjew komponierte 1920 für die damals eng befreundete Sängerin Nina Koshetz fünf „Lieder ohne Worte“, also Vokalisen, die als Fünf Melodien für Singstimme und Klavier 1922 im Druck erschienen und bis heute nur sehr selten aufgeführt werden. Anders verhält es sich mit deren Bearbeitung für Violine und Klavier, die Prokofjew 1925 auf Anregung der Geiger Joseph Szigeti, Cecilia Hansen und vor allem Paul Kochański unternahm. In dieser Fassung gehören die Fünf Melodien zu den beliebtesten Kammermusikwerken Prokofjews und haben einen festen Platz im Konzertrepertoire erobert.
Für die Henle-Urtext-Edition der Version für Violine und Klavier waren daher zwei Quellengruppen zu berücksichtigen: die Quellen zur Originalfassung Opus 35 einerseits sowie die zur Bearbeitung Opus 35a andererseits. Zwar ist der Fundort des Autographs zu Opus 35 nicht bekannt, aber an einem für die Prokofjew-Forschung wohlbekannten Ort, nämlich im Serge Prokofiev Foundation Archive an der Columbia University in New York, werden Fotokopien davon aufbewahrt, die zeigen, dass die eigenhändige Handschrift auch als Stichvorlage für die Erstausgabe diente. Anders sah es lange mit dem Autograph bzw. der Stichvorlage zur Violin-Bearbeitung aus – alle Recherchen dazu, sowohl vom Herausgeber der neuen Edition, Fabian Czolbe, als auch von mir als dem zuständigen Lektor, verliefen zunächst im Sande.
Eine Anfrage an die British Library in London mit Bezug auf das dort angeschlossene Archiv des Verlags Boosey & Hawkes brachte dann den Durchbruch – und hier kommt der Zufall ins Spiel. Chris Scobie, der leitende Bibliothekar für Musikhandschriften und Musiksammlungen, erinnerte sich, als er hörte, dass wir eine Neuausgabe zu Prokofjews Fünf Melodien planen, an ein Exemplar der Erstausgabe von Opus 35 mit autographen Eintragungen im Besitz der British Library. Wie sich bald herausstellte, handelte es sich um die lang gesuchte Quelle. Keine Frage: Ohne diese Anfrage und den gezielten Hinweis von Chris Scobie hätten wir nie Kenntnis vom Fundort dieser Quelle erhalten. Warum aber blieb dieser ja doch prominente Fundort in der Prokofjew-Literatur unbekannt (siehe Opus 35a)? Die Antwort hat mit der hybriden Eigenart der Quelle – Druck und Handschrift zugleich – zu tun. Die Basis bildet ja die gedruckte Originalfassung von 1922, und so wurde das Dokument laut Auskunft von Chris Scobie bis 2017 in der British Library unter die Drucke mit typischer Signatur (K.11.e.23) einsortiert. Erst danach wurde die Quelle – sozusagen in Würdigung der handschriftlichen Eintragungen, die ja keine privaten Anmerkungen, sondern kompositorische Notate für die Einrichtung zu einer Bearbeitung sind – den Musikhandschriften (mit neuer Signatur MS Mus. 1822) zugeordnet. Bis heute ist diese mutmaßliche Stichvorlage für Opus 35a leicht zu übersehen, denn sie erscheint bei der Suche im Katalog der British Library auf den ersten Blick als „normale“ Erstausgabe der Originalfassung Opus 35:
Erst beim Anklicken des Titels erfährt man den Bezug zur Bearbeitung Opus 35a und die Quellenart als Handschrift:
Dass Prokofjew für die Bearbeitung nicht den gesamten Notentext neu niederschrieb, liegt auf der Hand: Der Klavierpart ist – von einer viertaktigen Kürzung in Nr. 3 abgesehen – nur unwesentlich geändert, und auch der Vokalpart bleibt bei seiner Verwandlung zur Geigenstimme in der Substanz unverändert. Insofern bot es sich an, ein Exemplar der Originalausgabe als Vorlage für alle Änderungen zu nehmen. Bei den Eintragungen lassen sich deutlich zwei verschiedene Hände unterscheiden, eine feine, gut lesbare Niederschrift, die, wie Vergleiche mit anderen Handschriften zeigen, Prokofjew selbst zuzuschreiben ist, und eine eher ungelenke, grobe, die mutmaßlich vom Geiger Kochański stammt. Von Prokofjew stammen alle Eintragungen in Tinte (Klavier) und ein Teil der Änderungen in Bleistift (Klavier, aber auch Violine), der andere Teil wohl von Kochański (ausschließlich Violine). Allerdings ist nicht immer zweifelsfrei zu entscheiden, von wem die eine oder andere Bezeichnung herrührt.
Da verbürgt ist, dass Kochański weite Teile der Bearbeitung des Vokalparts für die Violine übernahm, könnte es durchaus sein, dass Prokofjew bei seinen Eintragungen auf Entwürfe Kochańskis zurückgriff, worauf dieser dann im Gegenzug nochmals weitere Änderungen (u.a. Ottava-Bezeichnungen, Oktavierungen, Doppelgriffe u.ä.) notierte.
Aber kann man überhaupt von einer Stichvorlage sprechen? Die Funktion der handschriftlichen Eintragungen als Einrichtung für eine Veröffentlichung ist unzweifelhaft, aber es fehlen der Quelle die sonst üblichen Verlags- und Sticheintragungen wie Plattennummer oder Zeilen- und Seitenumbrüche. Zumindest für letztgenannten Punkt waren Eintragungen für die Einteilung der Seiten allerdings insofern nicht nötig, als das Layout von Opus 35 in der Bearbeitung für 14 der 16 Seiten übernommen werden konnte (lediglich die erwähnte Kürzung in Nr. 3 führte auf den Seiten 10 und 11 zu abweichenden Umbrüchen). Ausschließen kann man nicht, dass Prokofjew nochmals die Quelle für eine Stichvorlage abschrieben ließ, zumal der Vergleich mit der Erstausgabe von Opus 35a noch zahlreiche Änderungen zeigt, aber dieser Aufwand erscheint doch ziemlich unwahrscheinlich. Plausibler erscheint, dass die Londoner Quelle tatsächlich als Stichvorlage diente und die erwähnten Änderungen in den verschollenen Druckfahnen vorgenommen wurden. Diese Änderungen – häufig Verfeinerungen für Bogensetzung und Artikulation – mindern zwar den Wert der Quelle, aber es verbleiben noch genügend zweifelhafte Stellen, die mit Hilfe dieser Quelle als Zwischenglied zwischen der Erstausgabe der Originalfassung und der neu gesetzten Erstausgabe der Bearbeitung geklärt werden können. Dazu ein Beispiel:
In der Originalfassung folgt im Vokalpart in Nr. 4 in Takt 11 (und im Paralleltakt 21) auf die Halbe Note gis1 die Viertelnote his:
In der Erstausgabe der Bearbeitung für Violine Opus 35a haben wir dagegen in Takt 11 die Folge gis2 – gis1:
Die Viertelnote his als Leitton zum nachfolgenden cis1 erscheint so plausibel, dass man das gis1 in Takt 11 für einen Druckfehler halten könnte, zumal in der Parallelstelle die Leittönigkeit gewahrt blieb (lediglich um eine Oktave höher versetzt als Folge his1-cis2). Die entsprechende Stelle in der Londoner Quelle zeigt aber, dass his bewusst zu gis1 geändert wurde und daher die Erstausgabe korrekt ist:
Die Besitzer der Quelle lassen sich leider nur lückenhaft verfolgen. Möglicherweise verschenkte Prokofjew sie, nachdem die Bearbeitung im Druck erschienen war, vielleicht sogar an Kochański selbst. Spätestens 1990 wurde sie, wie die Nachforschungen von Chris Scobie ergaben, bei Sotheby’s angeboten, und zwar mit ausdrücklichem Hinweis auf die Rarität des Dokuments:
Die British Library erwarb sie fünf Jahre später aus dem Katalog von Lisa Cox Music Ltd. – wer sie davor in Besitz hatte, lässt sich nicht mehr ermitteln. Beruhigend jedoch, dass sie jetzt öffentlich zugänglich ist und dass der Zufall dafür gesorgt hat, dass die neue Urtext-Edition (HN 1539) in Kürze auf der Basis aller verfügbaren Quellen erscheinen wird.