Dieses Zitat Arnold Schönbergs bringt für mich die Haltung des Komponisten zur Musik zum Ausdruck – nicht nur zu seiner eigenen, sondern zu Musik überhaupt. Die Ernsthaftigkeit, mit der Schönberg nach Wahrheit in der Musik strebte, sucht ihresgleichen. Dass diese Haltung auch eine gewisse Kompromisslosigkeit bedeutete, davon wird weiter unten noch die Rede sein…

In wenigen Tagen feiert die Welt Arnold Schönbergs 150. Geburtstag – der G. Henle Verlag feiert natürlich mit! Anlass genug, einmal innezuhalten und die Bedeutung Schönbergs für unseren Katalog zu beleuchten.

Als ich 2004 als Volontär in den G. Henle Verlag kam, sah das Programm unseres Hauses noch anders aus: Komponisten der klassischen Moderne fehlten. Das liegt daran, dass unser Katalog bis auf ganz wenige Ausnahmen nur urheberrechtsfreie Werke aufnimmt. Steht das Auslaufen eines Copyrights bevor, bereiten wir uns rechtzeitig darauf vor. 2004 war ich daher damit befasst, das Lektorat bei der Quellensuche für Werke Maurice Ravels zu unterstützen (den wir dann 2008 in unserem Katalog begrüßen konnten). In den nächsten Jahren folgten etliche Großereignisse dieser Art: Alban Berg wurde 2006 frei, Sergej Rachmaninow wurde 2014 ins Programm aufgenommen, Béla Bartók und Anton Webern folgten 2016, Richard Strauss 2020, und ganz aktuell, 2024, wurde auch Sergej Prokofjew ein Henle-Komponist. Zu Beginn der 2020er Jahre konnten wir also stolz sagen, bereits etliche Kernwerke der Neuen Musik in Henle Urtextqualität anbieten zu können. Ein Name aber fehlte: Arnold Schönberg. Uns war schon immer klar, dass wir als „Klassiker-Verlag“ auch den modernen Klassiker Schönberg in unseren Urtext-Katalog aufnehmen würden, ein Schritt den wir 2022, zum Ablauf des Copyrights in vielen Teilen der Welt, in die Tat umsetzen konnten.

Zur Planung fuhr ich selbst einige Jahre zuvor nach Wien, wo mich Therese Muxeneder im Arnold Schönberg Center (ASC) begrüßte und mich gleich in die Schatzkammer des Hauses, das Quellenarchiv, führte. Hier lagern unschätzbare Dokumente. Und die einzigartige Haltung des Teams im ASC und der Schönberg-Erben sorgt dafür, dass sie nicht hinter verschlossenen Türen gehalten werden: Ganz bewusst erleichtert man den Zugang sowohl zu den Quellen als auch zur Musik selbst, bereitet Forschenden ideale Bedingungen, damit jegliche Berührungsängste (die vielleicht so manch einer mit dieser Musik haben mag) abgebaut werden können. Das ASC wurde für unsere Quellenarbeit somit der ideale Kooperationspartner (und ich nutze die Gelegenheit, um ein großes Dankeschön an Therese Muxeneder und das ganze Team auszusprechen). Gleich bei meinem ersten Besuch legte Therese Muxeneder mir übrigens diese Visitenkarte auf den Tisch:

Damit war klar: Wir sollten nicht nur die Aufnahme Schönbergs in den Henle-Katalog auf dem Schirm haben, sondern auch gleich seinen 150. Geburtstag im Jahr 2024. Aus dieser Initialzündung ergaben sich nun in den folgenden Jahren etliche Projekte, Urtextausgaben, ein prächtiges Faksimile und vieles mehr. Wer sich einen Überblick verschaffen will, schaue einmal auf die Schönberg-Geburtstags-Kachel auf unserer Website. Wir sind froh, auf diese Weise Schönberg und seine Musik feiern zu können – ganz besonders in diesem Jahr, aber natürlich wird Schönberg dauerhaft eine tragende Säule in unserem Programm bilden.

Nun setze ich aber noch die Lektoren-Brille auf, um die Frage zu beleuchten: Was bedeutet es eigentlich, Schönbergs Musik zu edieren? Meine Kollegen Annette Oppermann und Peter Jost behandelten diese Frage anlässlich der Ausgaben der „Verklärten Nacht“ und des 2. Streichquartetts in vergangenen Blog-Einträgen. Ich selbst habe die Neuausgabe der Klavierstücke betreut. Der Sammelband mit sämtlichen Klavierstücken – in Broschur und Leinen; übrigens der einzige seiner Art! – war ein Herzensanliegen, bei dem ich meinen Horizont rasant erweitern konnte. Wer hätte z.B. gedacht, dass der Neu-Töner Schönberg in seiner Jugend ganz brahmsisch mit drei Klavierstücken begann? Stücke, die er selbst nie veröffentlicht hat, die wir aber im Anhang unseres Bandes abdrucken (Hörbeispiele sind hier verfügbar).

Drei Aspekte, welche die editorische Arbeit mit Schönberg sehr besonders machen, will ich herausgreifen.

1. Bei denjenigen Stücken, die mithilfe der Zwölftontechnik komponiert sind, galt es herauszufinden, ob Schönberg seine Methode wirklich konsistent angewendet hat. Ähnlich, wie wir den Quellen erst einmal misstrauen, wenn etwa bei Mozart eine unlogisch dissonante, harmoniefremde Note überliefert ist, muss man sich bei Schönberg fragen, ob es Absicht ist, wenn in einer Reihe z.B. auf den 9. Ton nicht der 10., sondern stattdessen der 11. folgt. Welche Konsequenz aber zieht man aus solch einem Fund? Hat sich Schönberg einfach geirrt? Ist die Abweichung von der Reihe Absicht? Welche Gründe könnte es dafür geben? In Zweifelsfällen findet man in der Henle-Urtextausgabe nun Fußnoten, die auf solche Funde hinweisen und das Für und Wider gründlich abwägen, damit Pianistinnen und Pianisten selbst entscheiden können, welche Lesart überzeugender ist.

op. 33a, T. 21–22 mit Fußnote

Bemerkung zu op. 33a, T. 22

2. Eine bei Schönbergs Klavierstücken wichtige Quellensorte sind die sogenannten Handexemplare. Dabei handelt es sich um Exemplare zumeist der Erstausgaben, in denen sich Eintragungen und Korrekturen finden. Handexemplare gibt es natürlich auch bei vielen anderen Komponisten der Musikgeschichte. Ungewöhnlich bei Schönberg ist jedoch, dass oft gleich mehrere überliefert sind, deren Eintragungen sich in den seltensten Fällen decken. Einige weisen zudem Eintragungen von anderer Hand auf, teilweise von Schülern oder Pianisten, die die betreffenden Werke mit dem Meister einstudierten. Es ist heikel und schwierig, den Status dieser Einträge zu bewerten: Handelt es sich um gültige Korrekturen, die in einer Neuausgabe zu berücksichtigen sind? Sind es nur „interne“ Hinweise und Echos von Diskussionen, die aber nicht auf eine gewollte Textänderung schließen lassen? Häufig werden in den Handexemplaren die oben angesprochenen „fehlenden“ Noten aus der Zwölftonreihe thematisiert, teilweise werden die Hinweise von Schönberg mit einer Paraphe, also einer Kurz-Unterschrift als authentisch geadelt – beanspruchen dann also eine hohe Autorität. Im folgenden Beispiel sieht man einen solchen paraphierten Eintrag, der uns Nachgeborenen aber nicht eindeutig hilft:

Handexemplar des Erstdrucks von op. 33a mit autographem Eintrag: wahrscheinlich | weg | Sch
Arnold Schönberg Center, Signatur: H 3

Soll die obere Note d3 nun „weg“ oder nicht?

3. An den letztgenannten Aspekt (Schönbergs Unterschreiben von Korrekturen) schließt sich eine letzte Beobachtung an: Schönberg wollte über den veröffentlichten Notentext seiner Werke die größtmögliche Kontrolle haben. Pedantisch, ja fast zwanghaft wirkt es, wie er Korrekturen signiert, wie er Änderungen, die er erst im Drucklegungsprozess einführt, in alle früheren Quellenstadien zurück-überträgt. Auch die Anweisungen an Verlag und Notenstecher sind oft minutiös, jeder Aspekt soll bis ins Kleinste geregelt werden. Wurden seine Vorstellungen nicht umgesetzt, reagierte Schönberg empört und wütend und ließ es in seinen Beschwerden nicht an Deutlichkeit mangeln. In der autographen Stichvorlage für die Suite op. 25 (siehe hier) finden sich auf der ersten Notenseite wütende Einträge, darunter: „Ich bitte dringendst, mir mitzuteilen, wer es sich herausgenommen hat, an meinem Manuskript Änderungen, die deutlich gegen meine Absicht gerichtet sind, vorzunehmen!“. Und später, in einem Brief an den Verleger, beschwert sich Schönberg über die „Geschmacklosigkeit“ jener Eingriffe. Dabei hatte er den Stich minutiös mit einer Anleitung in die richtige Richtung lenken wollen:

Arnold Schönberg Center, Signatur: T22.04G

Man könnte nun denken, Notentexte, die so exakt vorbereitet wurden, seien leicht zu edieren. Eigentlich müsste man doch als moderner Editor nur seinen Anweisungen folgen – oder? Auch hier liegt die Sache komplexer. Denn fast etwas erleichtert muss man feststellen, dass Schönberg (äußerst menschlich) hinter seinen eigenen Ansprüchen immer wieder zurückblieb. So übertrug er Korrekturen dann eben doch nicht in alle Quellenschichten, übersah Details, trug Änderungen nicht an allen Stellen ein, die betroffen waren, etc., etc. So gab es auch hier für uns Herausgeber und Lektoren etliche harte Nüsse zu knacken, wie man unter den Beispielen oben schon sehen konnte. Entscheidungen waren zu fällen, und oft mussten wir unsere Ratlosigkeit ehrlich eingestehen und die Unsicherheit an die Musikerinnen und Musiker weitergeben.

Mit diesem Ringen um die bestmögliche Textgrundlage möchte ich schließen und dabei an das Zitat vom Anfang des Beitrags erinnern. Denn Schönbergs Musik und sein Ringen um sie sind stets von dieser Ernsthaftigkeit, ja auch Kompromisslosigkeit geprägt, der alles bloß Dekorative oder Ornamentale fremd ist: Sie soll immer „wahr“ sein. Und diesem hohen Anspruch versuchen wir auch mit unseren Urtextausgaben gerecht zu werden.

Herzlichen Glückwunsch, Arnold Schönberg! Wir sind stolz darauf, diesen Klassiker der Moderne nun auch im Henle-Katalog zu beheimaten!

 

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Eine Antwort auf »Arnold Schönberg zum 150. Geburtstag – die Wahrheit in der Musik (und in der Edition)«

  1. Dr. Matthias Thiemel sagt:

    Arnold Schönberg ist meines Erachtens kaum genug hoch zu schätzen, musikalisch und gedanklich kaum zu überschätzen – selbst dann, wenn man auf die ihm zeitweilig eigene Klangwelt mit “zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen” verzichten möchte.
    Er bewegt sich auf der anspruchsvollen Höhe der bedeutendsten Komponisten.

    Vielen Dank für diese Hinweise und alle Editionen der Werke der Wiener Schule im Henle-Verlag!

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