Im letz­ten Jahr hat der Hen­le-Ka­ta­log mit Ser­gej Pro­kof­jew einen hoch­will­kom­me­nen Zu­wachs er­fah­ren, und die Zahl un­se­rer Aus­ga­ben sei­ner Werke wächst seit­her kon­ti­nu­ier­lich (siehe hier). Die jüngs­te Neu­er­schei­nung wird si­cher die Her­zen aller Gei­ge­rin­nen und Gei­ger höher schla­gen las­sen: Die 2. Vio­lin­so­na­te D-dur op. 94a, fes­ter Be­stand­teil des Vio­lin­re­per­toires, liegt nun erst­mals in einer ver­läss­li­chen Ur­text-Aus­ga­be vor (HN 1624).

David Ois­trach (1972)

Be­kannt­lich kom­po­nier­te Pro­kof­jew diese So­na­te ab 1942 zu­nächst für die Be­set­zung Flöte und Kla­vier, und dies unter den har­ten Be­din­gun­gen des 2. Welt­kriegs, der den Kom­po­nis­ten zur zeit­wei­li­gen Flucht aus Mos­kau nach Al­ma-Ata und Mo­lo­tow zwang. Die Fer­tig­stel­lung des neuen Werks war ur­sprüng­lich für De­zem­ber 1942 vor­ge­se­hen, doch erst im fol­gen­den Som­mer konn­te Pro­kof­jew dem be­freun­de­ten Mu­sik­funk­tio­när Lewon Atowm­jan ver­mel­den: „Die Flö­ten­so­na­te ist fast fer­tig. Ich muss noch die Re­pri­se des Fi­na­les auf­schrei­ben. Das Werk ist letzt­lich recht um­fang­reich ge­wor­den: vier Sätze, fast 40 Sei­ten“ (Brief vom 12. Au­gust 1943). Nach­dem Pro­kof­jew Ende 1943 nach Mos­kau zu­rück­ge­kehrt war, be­gann er auf An­re­gung und unter Mit­ar­beit der Gei­gen­le­gen­de David Ois­trach, die So­lo­stim­me für Vio­li­ne um­zu­ar­bei­ten. In die­ser Fas­sung wurde die So­na­te am 17. Juni 1944 in Mos­kau ur­auf­ge­führt (die Flö­ten­fas­sung er­leb­te be­reits am 7. De­zem­ber 1943 ihre Pre­mie­re).

Auch auf­grund die­ser etwas ver­wi­ckel­ten Ent­ste­hungs­ge­schich­te sind neben dem Au­to­graph gleich fünf Ab­schrif­ten der So­na­te (Par­ti­tu­ren bzw. Ein­zel­stim­men) aus dem di­rek­ten Um­feld des Kom­po­nis­ten über­lie­fert, die es neben wei­te­ren Quel­len aus­zu­wer­ten galt. Für diese wich­ti­ge und sehr an­spruchs­vol­le Auf­ga­be konn­ten wir als Her­aus­ge­be­rin die Gei­ge­rin und Mu­sik­wis­sen­schaft­le­rin Vik­to­ria Zora ge­win­nen, die seit vie­len Jah­ren zu Pro­kof­je­ws Vio­lin­so­na­ten forscht und pu­bli­ziert. Sie hat alle ori­gi­na­len Quel­len in rus­si­schen Ar­chi­ven vor Ort stu­diert und ist wie keine zwei­te ver­traut mit der kom­ple­xen Quel­len­la­ge und Druck­ge­schich­te. (Wer sich tie­fer in diese Ma­te­rie ein­ar­bei­ten möch­te: Vik­to­ria Zoras Dis­ser­ta­ti­on ist hier on­line ver­füg­bar).

Das in­for­ma­ti­ve Vor­wort un­se­rer Aus­ga­be ver­fass­te der welt­weit füh­ren­de Pro­kof­jew-For­scher Simon Mor­ri­son. Seine an­schau­li­che Dar­stel­lung der Ent­ste­hungs­ge­schich­te der So­na­te ist auf un­se­rer Web­site kos­ten­los ein­zu­se­hen.

Ver­voll­stän­digt wurde diese il­lus­tre Runde durch zwei her­aus­ra­gen­de Künst­ler von Welt­rang: Au­gus­tin Hade­lich und Charles Owen lie­fer­ten uns ihre Be­zeich­nung der Violin­stim­me bzw. den Kla­vier­fin­gersatz. Zu­sätz­lich dazu wer­den die his­to­ri­schen Vio­lin­be­zeich­nun­gen von David Ois­trach und Jo­seph Szi­ge­ti di­gi­tal in un­se­rer Henle Li­bra­ry App zu­gäng­lich sein.

(Ne­ben­bei be­merkt: Pro­kof­je­ws 1. Vio­lin­so­na­te op. 80 ist bei uns auch schon in Vor­be­rei­tung, mit dem­sel­ben ‚All-Star-Team‘…)

Erst­aus­ga­be Mos­kau 1946

Haupt­quel­le un­se­rer Edi­ti­on der 2. Vio­lin­so­na­te op. 94a ist die so­wje­ti­sche Erst­aus­ga­be von 1946, die von Pro­kof­jew au­to­ri­siert und über­wacht wurde. Pro­kof­jew per­sön­lich las die Druck­fah­nen gründ­lich Kor­rek­tur – dies ist durch die er­hal­te­nen Kor­rek­tur­bö­gen mit sei­nen Ein­tra­gun­gen, letz­ten Än­de­run­gen und sei­nem Frei­ga­be­ver­merk be­legt, die von uns aus­ge­wer­tet wur­den. Doch so­wohl der Kom­po­nist als auch die Ver­lags­lek­to­ren über­sa­hen et­li­che Ste­cher­ver­se­hen, die wir an­hand der Stich­vor­la­ge und der üb­ri­gen hand­schrift­li­chen Quel­len ver­bes­sern konn­ten.

Dabei han­delt es sich vor allem um zahl­lo­se Kor­rek­tu­ren und Prä­zi­sie­run­gen hin­sicht­lich Bo­gen­set­zung, Ar­ti­ku­la­ti­on und Dy­na­mik, die hier nicht alle im De­tail auf­ge­zählt wer­den kön­nen. Dar­über hin­aus waren et­li­che hand­fes­te No­ten- und Vor­zei­chen­feh­ler zu be­sei­ti­gen, die bis heute auch in mo­der­nen Neu­aus­ga­ben her­um­geis­tern.

So fehlt im 3. Satz in Takt 46 in den meis­ten Dru­cken ver­se­hent­lich ein Auf­lö­sungs­zei­chen im Kla­vier, das auf einen Ko­pis­ten­feh­ler in der Stich­vor­la­ge zu­rück­geht. Die frü­he­ren Hand­schrif­ten ma­chen (eben­so wie die Par­al­lel­stel­le Takt 52) aber klar, dass hier ein h1 ge­meint ist:

Erst­aus­ga­be Muz­giz 1946

Ur­text­aus­ga­be Henle 2024

We­sent­lich un­ein­deu­ti­ger ist die Vor­zei­chen­fra­ge an einer an­de­ren Stel­le: Im 2. Satz, dem Scher­zo, ist im Kla­vier in Takt 190 der ar­peg­gier­te Ak­kord fol­gen­der­ma­ßen no­tiert:

Erst­aus­ga­be Muz­giz 1946

Al­ler­dings könn­te, wie im vor­he­ri­gen Bei­spiel, ein un­be­merk­ter Ab­schrei­be­feh­ler in der Stich­vor­la­ge Schuld daran sein, dass hier ein Vor­zei­chen fehlt: Im Au­to­graph und zwei wei­te­ren Ab­schrif­ten steht ein­deu­tig ein Kreuz vor dem e1, das somit als eis1 zu spie­len wäre. In­ter­es­san­ter­wei­se ent­hält eine von dem Gei­ger Jo­seph Szi­ge­ti in den USA her­aus­ge­ge­be­ne Par­ti­tur, die eben­falls 1946 er­schien und an­geb­lich ein Ma­nu­skript aus der So­wjet­uni­on zur Vor­la­ge hatte, tat­säch­lich die­ses Vor­zei­chen:

Aus­ga­be Leeds Music 1946

Spä­te­re Neu­aus­ga­ben fol­gen un­ein­heit­lich der Les­art mit oder ohne Kreuz. In un­se­rer Edi­ti­on schen­ken wir in die­ser Frage Pro­kof­je­ws Au­to­graph das größ­te Ver­trau­en und haben das Kreuz er­gänzt, wei­sen aber mit einer Fuß­no­te auf die Pro­ble­ma­tik hin.

Ur­text­aus­ga­be Henle 2024

Eine in­ter­es­san­te no­ta­ti­ons­tech­ni­sche Be­son­der­heit in der Erst­aus­ga­be, die in allen spä­te­ren und bis heute auf dem Markt be­find­li­chen Aus­ga­ben be­sei­tigt wurde, ist in un­se­rer Neu­aus­ga­be erst­mal wie­der­her­ge­stellt. Pro­kof­jew wünsch­te für die Ar­ti­ku­la­ti­ons­be­zeich­nun­gen aus­drück­lich eine Un­ter­schei­dung beim Auf­ein­an­der­tref­fen von Bogen und Punkt: In be­stimm­ten Fäl­len no­tier­te er den Punkt ab­sicht­lich au­ßer­halb des Bo­gens, etwa bei die­sem wie­der­keh­ren­den Motiv im Scher­zo:

Erst­aus­ga­be Muz­giz 1946

Pro­kof­jew än­der­te sogar in den Kor­rek­tur­fah­nen et­li­che Stel­len, an denen der Ste­cher ei­gen­mäch­tig diese No­ta­ti­on nor­ma­li­siert hatte, zu­rück zu sei­ner in­di­vi­du­el­len Schreib­wei­se. Wie auch immer man diese Nu­an­ce beim Spie­len in­ter­pre­tie­ren mag, ist es doch wich­tig, den Wunsch des Kom­po­nis­ten hier zu re­spek­tie­ren – man weiß ja, wie exakt auch etwa Béla Bartók bei der No­ta­ti­on genau die­ser Kom­bi­na­ti­on von Bogen und Punkt war.

Ur­text­aus­ga­be Henle 2024

Man­che Fra­gen konn­ten aber auch mit allen Mit­teln der Phi­lo­lo­gie nicht end­gül­tig ge­löst wer­den… So fin­det sich in sämt­li­chen Quel­len im 4. Satz die fol­gen­de klei­ne Va­ri­an­te in T. 5 und T. 126, bei zwei an­sons­ten ab­so­lut iden­ti­schen Par­al­lel­stel­len:

Ur­text­aus­ga­be Henle 2024, T. 5

Ur­text­aus­ga­be Henle 2024, T. 126

Das a im zwei­ten Fall ist im D-dur-Kon­text der „nor­ma­le­re“ Ton, aber auch das h im ers­ten Fall klingt gut und viel­leicht sogar etwas in­ter­es­san­ter. Ob Pro­kof­jew diese Ab­wei­chung wirk­lich ge­wollt hat – oder sich bloß bei der Wie­der­ho­lung der Stel­le nicht mehr an das kecke h von Takt 5 er­in­ner­te…? (Ver­mut­lich ver­strich ei­ni­ge Zeit da­zwi­schen, siehe oben sein Brief­zi­tat: „Ich muss noch die Re­pri­se des Fi­na­les auf­schrei­ben“!) Wir haben die Ab­wei­chung quel­len­ge­treu be­las­sen und über­las­sen den In­ter­pre­ten die Ent­schei­dung, ob sie hier eine An­glei­chung zu der einen oder an­de­ren Lö­sung vor­neh­men möch­ten.

Etwas rät­sel­haft bleibt auch Pro­kof­je­ws Tem­po­vor­stel­lung im Fi­na­le. In den Tak­ten 67 und 145 steht je­weils die An­ga­be Poco meno mosso, so dass zwi­schen­durch si­cher­lich wie­der zum Tempo I, also zum Al­le­gro con brio zu­rück­zu­keh­ren ist (vgl. zuvor die ana­lo­gen Tem­po­wech­sel in T.30 und 54). In sämt­li­chen Quel­len fehlt eine sol­che An­ga­be je­doch. Daher ist nicht klar, ob das schnel­le­re Haupt­tem­po be­reits in T. 72 zu Be­ginn des nächs­ten Ab­schnitts wie­der er­reicht wird, oder doch erst in T. 122 bei der Wie­der­kehr des Haupt­the­mas – oder ob das Tempo viel­leicht auch stu­fen­wei­se über den gan­zen Ab­schnitt hin­weg ge­stei­gert wer­den soll. Viel­leicht gibt hier­zu David Ois­trachs spä­te­re Ton­auf­nah­me einen Hin­weis, wenn­gleich auch dies keine ver­bind­li­che Vor­ga­be dar­stellt.

Wir haben in un­se­rer Edi­ti­on letzt­lich dar­auf ver­zich­tet, das Tempo I an einem be­stimm­ten Ort zu er­gän­zen, und wei­sen statt­des­sen per Fuß­no­te auf diese of­fe­ne Frage hin – hier ist das in­di­vi­du­el­le mu­si­ka­li­sche Emp­fin­den der aus­füh­ren­den Mu­si­ker ge­fragt. Ge­nie­ßen Sie zum Ab­schluss, wie groß­ar­tig Au­gus­tin Hade­lich und Charles Owen die 2. Vio­lin­so­na­te in­ter­pre­tie­ren und ach­ten Sie dabei doch auch ein­mal auf die Tem­po­ge­stal­tung im Fi­na­le:

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