Rät­sel ran­ken sich um Cho­pins Ma­zur­ka f-moll op. post. 68 Nr. 4. Han­delt es sich wirk­lich um die „letz­te In­spi­ra­ti­on des Meis­ters“? Wie könn­te es an­ders sein: Nur die To­des­nä­he des kran­ken Cho­pin im Jahr 1849 ver­moch­te, ihn in eine der­ar­tig herbe, ver­zwei­fel­te Mu­sik­spra­che zu trei­ben. So dach­ten je­den­falls viele Cho­pin-Lieb­ha­ber im 19. Jahr­hun­dert. Und trotz­dem ver­mu­tet der ame­ri­ka­ni­sche Cho­pin-Ex­per­te Jef­frey Kall­berg, das Werk stam­me ei­gent­lich aus den Jah­ren 1845/1846 (Vgl. Cho­pin’s Last Style, in: Cho­pin at the Boun­da­ries. Sex, His­to­ry, and Mu­si­cal Genre, Cam­bridge/Mass., Lon­don 1996).

Viel­leicht noch ver­blüf­fen­der: Was kann der Grund dafür sein, dass sich zwei Edi­tio­nen des Wer­kes in ihrer Länge um 40 Takte un­ter­schei­den? Eine Aus­ga­be des pol­ni­schen Cho­pin-Ex­per­ten Jan Ekier um­fasst 101 Takte (War­schau, PWM 1965) – die Ur­text­aus­ga­be im G. Henle Ver­lag bringt es auf nur 62 Takte (Mün­chen 1975/2003).

Auch vie­len Ein­spie­lun­gen des Wer­kes lie­gen of­fen­bar un­ter­schied­li­che No­ten­tex­te zu­grun­de. Auf youtube fand ich Auf­nah­men von Vla­di­mir Ash­kena­zy, Gri­go­ry So­ko­l­ov (Fas­sung “Ekier”) und Ev­ge­ny Kis­sin (Fas­sung “Henle”).

Was hat es mit die­sem fas­zi­nie­ren­den Stück Musik auf sich? Nun, ein Blick auf die ein­zi­ge er­hal­te­ne au­then­ti­sche Quel­le ge­nügt. Sie wer­den so­fort ver­ste­hen, dass die­ses – üb­ri­gens nicht da­tier­te – Skiz­zen­blatt Fra­gen auf­wirft:

Der Cel­list Au­gus­te Fran­chom­me, ein enger Weg­ge­fähr­te Cho­pins in des­sen letz­ten Le­bens­jah­ren, war der erste, der ver­such­te, eine Schnei­se ins Chaos die­ser Skiz­ze zu schla­gen. Er über­trug sie 1852 in einen auf­führ­ba­ren No­ten­text und brach­te erst­mals das Ent­ste­hungs­jahr 1849 ins Spiel. Ju­li­an Fon­ta­na, ein an­de­rer enger Freund Cho­pins, ver­öf­fent­lich­te 1855/1856 eine neue Über­tra­gung, die schnell be­kannt wurde. Unter die 1. Seite setz­te er fol­gen­den Kom­men­tar:

Diese Fas­sung des Wer­kes sowie seine ver­meint­li­chen emo­tio­na­len Ab­grün­de haben sich seit­dem im Be­wusst­sein der Cho­pin-Ge­mein­de fest­ge­setzt. Erst 1951 ent­deck­te Ar­thur Hed­ley die Skiz­ze neu, ver­glich sie mit Fon­ta­nas Ver­si­on und be­merk­te, dass dort Teile der no­tier­ten Musik fehl­ten. Von Hed­ley aus­ge­löst, ver­such­te nun jeder, der in der Cho­pin-For­schung Rang und Namen hatte, das Ma­zur­ka-Puz­zle zu einem naht­lo­sen Gan­zen zu­sam­men­zu­set­zen – ein Un­ter­neh­men, das zum Schei­tern ver­ur­teilt ist.

Der Schlüs­sel zur f-moll-Ma­zur­ka liegt darin, ein­zu­ge­ste­hen, dass es sich nicht um ein ab­ge­schlos­se­nes Werk han­delt. Kall­berg schlägt vor, es sei ein Kom­po­si­ti­ons­ver­such, den Cho­pin wie­der ver­warf – und zwar 1845/1846 in der Vor­be­rei­tung zu sei­nen Ma­zur­ken op. 63. Dem­nach wäre un­se­re skiz­zier­te Ma­zur­ka durch das eben­falls in f-moll ste­hen­de Werk op. 63 Nr. 2 er­setzt wor­den. Die Worte von der „letz­ten In­spi­ra­ti­on des Meis­ters“ wären damit frei er­fun­den.

Wen­den Sie sich aber nicht ent­täuscht ab! Die Aura des Stücks mag eine Mo­gel­pa­ckung sein – die Fas­zi­na­ti­on an der Musik bleibt. Wie nah die be­kann­ten Re­kon­struk­tio­nen an die Ab­sich­ten Cho­pins her­an­rei­chen, muss of­fen­blei­ben. Es ist je­doch ab­so­lut le­gi­tim, dass etwa Henle die Fran­chom­me-Fas­sung bringt und Ekier eine ei­ge­ne. Sie sind nicht über­zeugt? Ver­su­chen Sie sich an einer ei­ge­nen Über­tra­gung!

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