Kenner unter unseren Lesern werden wissen, dass zur berühmten Eröffnung von Bachs Wohltemperiertem Klavier I ein zusätzlicher Takt durch die Musikwelt geistert, bekannt unter dem Namen „Schwencke-Takt“. Die Henle-Urtextausgabe des Werkes umfasst 35 Takte, mit dem „Schwencke-Takt“ hat das Stück 36 Takte. Falls er tatsächlich in das Präludium einzufügen wäre – und das wird zu diskutieren sein – müsste zwischen Takt 22 und 23 Folgendes stehen:

Schaut man sich ein wenig im Internet um, bestätigt sich, dass dieser ominöse Einschub tatsächlich nach wie vor für Verwirrung sorgt. In Diskussionsforen werden verschiedene Ausgaben verglichen, die den Takt aufweisen oder eben nicht. Und manch einer stellt die berechtigte Frage: Was ist hier nun Bach und was nicht?

Die Quellenlage zum Wohltemperierten Klavier ist spätestens seit Erscheinen der „Neuen Ausgabe Sämtlicher Werke“ eindeutig geklärt. Die wichtigste Quelle für den Notentext ist das Autograph, in das Bach selbst in mehreren Stadien Korrekturen eintrug und das somit die gültige Gestalt des Notentextes eindeutig überliefert. Das Autograph des C-dur-Praeludiums umfasst 35 Takte, kommt also ohne den „Schwencke-Takt“ aus.

Bachs Autograph wurde jedoch immer wieder abgeschrieben. Diese Abschriften dienten erneut als Vorlage für weitere Abschriften, sodass sich ein weit verzweigtes Netz von Handschriften erhalten hat, die zum Teil direkt, zum Teil auf Umwegen auf Bachs Autograph zurückgehen. Einer der Kopisten war der Hamburger Musikdirektor Christian Friedrich Gottlieb Schwencke (1767–1822). Er fertigte eine Handschrift des Wohltemperierten Klaviers I an, die sich nur über mehrere heute verschollene Zwischenstufen auf das Autograph zurückführen lässt. In dieser Abschrift Schwenckes taucht zum ersten Mal jener zu einiger Berühmtheit gelangte Takt auf.

Ob Schwencke den Takt selbst ergänzte, oder ob er bereits in einer der verschollenen Vorlagen stand, lässt sich nicht mehr klären. Wichtiger ist vielleicht die Frage, wie man überhaupt auf die Idee kommen konnte, das Präludium um einen Takt zu verlängern. Fehlt in Bachs Autograph etwas?

Nun, das Stück lässt sich fast durchgängig in regelmäßige Gruppen von je vier Takten unterteilen. Allerdings eben nur fast. Ein Takt mehr – und die Regelmäßigkeit wäre vollkommen! Schwencke hatte daher das Gefühl, die drei Takte 21–23 müssten um einen vierten erweitert werden, zumal die harmonische Abfolge von T. 22 nach T. 23 in der Tat abrupt und kühn wirkt. Vermutlich dachte Schwencke, dieser Takt sei in der Überlieferung versehentlich abhanden gekommen und fügte ihn in den Notentext ein. Dennoch: Dass Bach die Unregelmäßigkeit und Stauchung der Takte 21–23 beabsichtigte, daran besteht kein Zweifel, an der Eindeutigkeit der Quellenlage ist nicht zu rütteln.

Hermann Keller schreibt in seinem Büchlein über das Wohltemperierte Klavier: „Schwencke war ein gebildeter und kenntnisreicher Musiker, der wohl nicht daran dachte, Bach verbessern zu wollen“ (Hermann Keller, Das Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach, Kassel etc.: Bärenreiter 1965, S. 40). Offenbar war aber genau das der Fall. Die vermeintliche Verbesserung fand ihren Weg in Drucke des Wohltemperierten Klaviers; der „Schwencke-Takt“ schaffte es allmählich, sich in der Überlieferungsgeschichte einzunisten.

Den Anfang machte die Ausgabe im Bonner Verlag Simrock (1801 oder 1802), als deren Herausgeber Schwencke selbst gilt. Auch in der Peters-Ausgabe durch Carl Czerny aus dem Jahr 1837 taucht der Takt auf. In weiteren Ausgaben des 19. Jahrhunderts wird zwar bisweilen die Herkunft des Phantom-Taktes richtig gestellt. Der große Erfolg der Czerny-Ausgabe – die auch heute wieder über Internet-Portale wie die „Petrucci Music Library“ greifbar ist – sorgte aber dafür, dass der „Schwencke-Takt“ große Verbreitung fand. Wenig hilfreich in diesem Zusammenhang war Charles Gounods Méditation „Ave Maria“. Dieser Evergreen und Top-Seller aus den 1850er Jahren entnahm das Bachsche Praeludium der Czerny-Ausgabe und sorgte somit dafür, dass der „Schwecke-Takt“ in das kollektive Kulturgedächtnis einging.

So hält sich der „Schwencke-Takt“ hartnäckig bis in unsere Tage. Unsere Urtextausgabe des Praeludiums stellt den Sachverhalt eindeutig dar:

Der Fußnotenstern zwischen T. 22 und 23 verweist auf folgende Bemerkung:

1783 fügte der Kopist Schwencke nach T 22. einen auf der Bassnote G basierenden Takt hinzu, der von zahlreichen Ausgaben übernommen wurde. Dieser Ergänzungstakt ist nicht authentisch.

Auf dass sich niemand ernsthaft auf die Suche nach dem verlorenen Takt mache!

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25 Antworten auf »Auf der Suche nach dem verlorenen Takt: Bachs C-dur-Praeludium aus dem Wohltemperierten Klavier I«

  1. Mag. Hermann FRITZ sagt:

    “Dass Bach die Unregelmäßigkeit und Stauchung der Takte 21–23 beabsichtigte”, halte ich für unzutreffend. Hier ist keinerlei “Unregelmäßigkeit und Stauchung” vorhanden, metrisch fehlt hier nichts. Vielmehr gruppiert Bach die 35 Takte wie folgt: 3+8+8+4+8(Orgelpunkt)+4. Ungewöhnlich ist vielleicht lediglich, dass am Beginn 3 Takte sind. Dass metrisch der erste Takt leicht, der zweite schwer, der dritte leicht, der vierte schwer ist usw., ist an der Dissonanzbehandlung erkennbar, die Sekunddissonanzen der schweren Takte werden in den leichten Takten aufgelöst. Beim Spielen im Zeitraffer-Tempo wird diese metrische Struktur klar. Der Schwencke-Takt zerstört die regelmäßige 4-Takt-Struktur.

    • Kirmeier Konrad sagt:

      Vielen herzlichen Dank für Ihre Erklärung zu dem “Schwencke-Takt”.
      Mir ist es lange ein Rätsel gewesen, warum so ein Takt existiert. Ich habe deshalb jetzt endlich einmal bei Henle nachgefragt und bin so auf Ihren Kommentar gestoßen.
      Was Sie erklären kann ich zwar nicht verstehen, da ich ein musikalischer Laie bin, aber dennoch erscheint es mir logisch, was Sie schreiben.
      Ich komme für mich zum Schluss, dass dieses Präludium ohne den Schwencke-Takt anders “wirkt” als mit, und auch schön, wenn nicht schöner ist.
      Ich denke, beides darf sein.
      Bin jetzt einfach nur dankbar für eine Erklärung zu einem Rätsel, das mich jahrelang beschäftigt hat. Ob es die richtige Erklärung ist, sei dahingestellt, aber es ist eine.

    • C. Hirdes sagt:

      Ihre Sichtweise, wie Bach die Takte gruppiert, ist faszinierend. Vielen Dank dafür! Gedanklich erst bei Takt Vier mit einer “geraden Einheit” zu beginnen, liegt nicht gerade nahe, ergibt aber eine schlüssige Struktur, meine ich. Der erste “Achterblock” beinhaltet dann sogar zwei mal die selbe “Harmoniefolge”, wenn ich die Septimen mal ignoriere (C, am, D, G).
      Gounod ist offenbar nicht auf diese Idee gekommen, sondern beginnt ab dem (wiederholten) Takt Eins mit zwei “Viererblöcken”, was die Melodieführung angeht – aber er hatte ja auch die falsche Notenausgabe :)
      Ihre Ausführungen über sich abwechselnde “metrisch leichte” und “schwere” Takte verstehe ich allerdings leider nicht. So sind doch etwa Takt Eins (leicht) und Vier (schwer) identisch …?

  2. Kirmeier Konrad sagt:

    Hallo Herr Müllemann,

    die Sache mit dem “Schwencke”-Takt beschäftigt mich wieder.

    Meine Frage die sich mir stellt ist die: Warum existiert dieses Präludium zweifach.
    Einmal als Einleitung des Wohltemperierten Klaviers, das widerrum einen Zyklus darstellt, und dann im Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach. Das gleiche gilt ja auch für die Aria aus den Goldbergvariationen.

    In beiden Ausgaben erscheint das Präludium ohne diesen Schwencke-Takt.
    Könnte es sein das aber gerade im Notenbüchlein der Takt doch dazu gehört??

    Rätsel über Rätsel findet man in der Musik, wenn man einmal tiefer eintaucht.
    Und gerade ungelöste Rätsel sind besonders reizvoll….

    Viele Grüsse
    Konrad Kirmeier

    • Lieber Herr Kirmeier,

      besten Dank dafür – ja, ich stimme Ihnen zu: die Sache bleibt spannend und rätselhaft. Ich habe mir auf Ihre Anregung hin das Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach noch einmal vorgenommen und gesehen, dass nicht nur der Schwencke-Takt “fehlt”, sondern darüber hinaus etliche weitere Takte, die jedoch (im Unterschied zum Schwencke-Takt!) zweifellos authentisch sind. Im Notenbüchlein springt das Präludium von Takt 15 (Ende S. 1 des Notats) unvermittelt nach Takt 21 (Beginn von S. 2 des Notats). Vermutlich ein Versehen. Mysteriös ist allerdings, dass die zweite Seite des Notats im Notenbüchlein viel später notiert wurde; die ursprünglich beschriebene Seite wurde vorher herausgetrennt. Übersah Anna Magdalena Bach, die Schreiberin, bei der erneuten Niederschrift von S. 2 einfach T 16-20?

      Was hier genau geschah, lässt sich heute leider nicht mehr rekonstruieren. Allerdings bestätigt das Fehlen des Schwencke-Takte in beiden Fassungen, dass dieser Takt mit Bach selbst nichts zu hat.

      Dass im Notenbüchlein Stücke vorkommen, die wir auch aus anderen Zusammenhängen kennen, ist nicht ungewöhnlich (über die von Ihnen genannten Beispiele hinaus sind dies auch etwa Teile der französischen Suiten und der Partiten). Das liegt am Charakter des Büchleins, das als Sammelhandschrift Musik aus ganz unterschiedlichen Kontexten zwischen zwei Buchdeckel brachte; teilweise handelt es sich um beliebte Werke, die bereits existierten, teilweise um Musik, auf die Bach später wieder zurückgriff und sie weiterkomponierte oder in andere Werkzusammenhänge stellte. Und es finde sich ja auch etliche Stücke darin, die überhaupt nicht von Bach selbst stammen.

      Wir dürfen also weiter spekulieren und rätseln!

      Mit herzlichen Grüßen,
      Norbert Müllemann

      • Kirmeier Konrad sagt:

        Lieber Herr Müllemann!
        Vielen Dank für die Recherche und die vielen Antworten.
        Möge uns der göttliche Bachgeist Weisheit zu diesen Sachverhalten schenken.
        Freundliche Grüße
        Konrad Kirmeier

  3. Kirmeier Konrad sagt:

    Eigentlich ist das C-Dur Präludium ohne Takte 16-20 auch ganz schön.
    Warum die Takte fehlen?
    Aber dieses Musikstück ist auch so anhörbar.
    Wer hat die Takte 16-20 zugefügt?
    Vielleicht sollen die gar nicht dabei stehen in diesem Notenbüchlein?
    Darf etwas mit einem göttlichen Anspruch verändert werden?

    • …man vermutet, dass das Fehlen dieser Takte ein Unfall ist, denn die Seite wurde (aus welchen Gründen auch immer) später neu geschrieben, und es ist möglich, dass Anna Magdalena Bach (es ist ihre Handschrift) an der falschen Stelle begonnen hat. Das ist ein klassischer Kopistenfehler. Aber Sie haben Recht – niemand weiß, ob das Fehlen der Takte nicht vielleicht doch Absicht ist. Fest steht jedenfalls, dass in der Hauptquelle zum Wohltemperierten Klavier die betreffenden Takte stehen. Von dieser Seite ist also kein Zweifel möglich…

      • Konrad Kirmeier sagt:

        Danke für die Antwort.
        Ja, das die Takte in der Hauptquelle stehen und der “Schwencke-Takt” auch nicht zur “Hauptquelle” gehört, daran habe ich keinen Zweifel mehr.
        Für mich dreht es sich nur um das Erscheinen dieses Präludiums im Notenbüchlein.
        Da stehen viele wunderschöne Stücke drin, wo der Komponist als “unbekannt” angegeben wird.
        Deshalb um so rätselhafter das Ganze ist.
        Ich glaube das mit dem Schwencke-Takt ist damit ganz gut zu erklären, das irgendwelche Kopisten oder wer auch immer, der Meinung waren, da kann man etwas weglassen 0der dazufügen, und wer merkt das schon.
        Das ist ja auch ein, wenn nicht der Hauptgrund, warum es den Henle-Verlag gibt.

  4. Kirmeier Konrad sagt:

    Lieber Herr Müllemann,

    das erste “Corona-Jahr” ist vorüber.

    Ich denke für jeden Menschen auf dieser Welt ist die Welt heute, wenn auch nur ein klein wenig, anders als noch vor einem Jahr.
    Mich hat der erste Lockdown intensiv in die Musik mit dem Wohltemperierten Klavier Band 1 von J.S. Bach eintauchen lassen, womit die “Frei-“Zeit bekanntlich sehr gut kompensiert werden kann, so das keine “Lange”-Weile aufkommt.
    Gerade das erste Präludium daraus ist eine Wissenschaft für sich. Schwencke-Takt hin oder her.
    Mir stellt sich heute die Frage nach dem Tempo und dem Instrument was für diese Musik auch enorm wichtig ist. Gerade weil der Schwencke-Takt und dieses Präludium damit ins kolletive Musikgedächtnis gewandert ist, und auch immer in einem hohem Tempo gehört wird. Bei mir fängt meine erste Erinnerung an dieses Stück mit der Fernsehsendung im BR “die Sprechstunde” an. Da ist es in einem schnellen Tempo und einer instrumentalen Variante zu hören. Gegen Ende des Stückes wiederholen sich Phrasen und verklingen dann. Ich höre da gar nicht einmal heraus ob der Schwencke-Takt drin ist oder nicht.
    Egal. Für mich hat es gereicht um dem Impuls nachzugehen und um nach diesem Stück in einem Musikgeschäft nach den Noten zu fragen, und bin so zu meiner ersten Henle-Urtext-Ausgabe vom Präludium und der dazugehörigen Fuge gestossen…
    Ich glaube das dazugehörige Instrument ist das sogenannte Clavichord und das Tempo ist um vieles langsamer als man es heute immer hört.
    Das schöne an der Musik Bachs ist, dass das Tempo sekundär ist, und sogar das Instrument, sonst hätte ich auch schon lange aufgehört “Klavier” zu spielen, da ich gar keines mehr stellen könnte, und dessen Lautstärke auch immer ein Problem mit den Nachbarn bereitet. Das Kopfhörer spielen hat leider meinen Ohren auch nicht gut getan. So spiele ich heute nur noch bei Zimmerlautstärke mit einem guten japanischem Keyboard mit nur 5 Oktaven, welche einem originalem Clavichord der Firma Neupert aus Bamberg sehr ähnlich sind….

    So weit wieder für heute.
    Freundliche Grüsse
    Konrad Kirmeier

  5. Wenz sagt:

    Also ich persönlich pfeife auf angebliche Expertisen zu dieser Frage.
    Greift man Akkorde statt Sechszehntel bemerkt man
    eine ganz klare Harmonie im ganzen Präludium.
    Der Schwencke Takt klingt falsch und überflüssig.
    Schlimmer noch, der göttliche Klang Bachs wird unterbrochen.

    • Kirmeier Konrad sagt:

      Vielleicht hat Friedrich Gottlieb Schwencke den Takt auch zugefügt um dem Präludium einen eigenen Charakter und eine Solo-Lebensberechtigung zu geben, das auch außerhalb vom WTK Band 1 und des Notenbüchleins für Anna Magdalena Bach existieren darf???

  6. Kirmeier Konrad sagt:

    Je langsamer das Stück gespielt wird umso schöner fügt sich die Stelle , wo der Kopist Schwencke den Takt reinnimmt.
    Je schneller gespielt umso abrupter wird die Stelle und braucht den Takt wohl auch zum abrunden…?

  7. Kirmeier Konrad sagt:

    Schade, das keine Kommentare mehr kommen…
    Für mich lebt nun dieses Präludium in zwei Formen.
    Einmal mit den Takten 16-20, und einmal ohne diese.
    Der Schwencketakt ist für mich überflüssig geworden, dank dieser Diskussion.
    Vielen Dank dafür!

  8. Raimund sagt:

    Nachdem ich jüngst eine Ausgabe mit diesem Schwencke-Takt in die Hände bekam und mich etwas wunderte, kramte ich meine alten Klaviernoten hervor. Und siehe da: ich habe als ca. 8-jähriger Klavierschüler am Ende des Taktes 22 einen Takt 23 eingefügt, mit Bleistift. Nicht genau den Schwencke Takt, aber jedenfalls einen Takt. Weil mir da ein Takt fehlte.

    • Kirmeier Konrad sagt:

      Sehr interessant und mysteriös zugleich.
      Das Rätsel geht weiter.
      Es ist aus meiner heutigen Sicht nur über das Tempo zu lösen.

  9. Kirmeier Konrad sagt:

    Ich habe heute dieses Präludium einmal ohne die vier Takte 16-20 der Originalquelle eingespielt und bei YouTube hochgeladen.

  10. Yuval Dvoran sagt:

    Vielen Dank für die interessanten Erläuterungen – aber leider widersprechen Sie sich in Ihrem kleinen Artikel selber. Sie stellen zunächst wohl zu Recht fest: “Ob Schwencke den Takt selbst ergänzte, oder ob er bereits in einer der verschollenen Vorlagen stand, lässt sich nicht mehr klären.”, stellen den Sachverhalt in der Fußnote zur Ausgabe aber offenbar deutlich anders dar: “1783 fügte der Kopist Schwencke nach T 22. einen auf der Bassnote G basierenden Takt hinzu, der von zahlreichen Ausgaben übernommen wurde. Dieser Ergänzungstakt ist nicht authentisch.” Dass aus dieser Ambiguität in den Quellen eine vermeintliche Tatsache in der Ausgabe geschaffen wird, ist bedauerlich – schließlich lässt sich ohne entsprechende Gegenbeweise nicht feststellen, ob der Takt wirklich erst von Schwencke hinzugefügt wurde oder ob er vielleicht doch auf Bach direkt zurückgeht – möglich wäre z.B. ein früheres oder späteres Kompositionsstadium, das in den Quellen heute nicht mehr überliefert ist.

    • Sehr geehrter Herr Dvoran,
      haben Sie vielen Dank für Ihren Kommentar. Sie haben Recht, der Herausgeber unserer Urtextausgabe hat die Sachlage in der Fußnote anders gewichtet. Danke für diesen Hinweis! Ich werde vormerken, dass wir die Fußnoten-Formulierung in der Nachauflage entsprechend anpassen.
      Herzliche Grüße,
      Norbert Müllemann

  11. Kirmeier Konrad sagt:

    Sehr geehrter Herr Müllemann!

    Es freut mich das wieder ein neuer Kommentar zu diesem Thema kam, der zur Lösung des Rätsels weiterhilft.
    Schön das der Henleverlag die letzte Kritik annimmt. Ich hätte diesen Gedanken gar nicht gehabt wegen dieser Fußnote des Herausgebers da etwas anzuzweifeln.
    Nun werde ich in die Sache noch einmal reinspüren.

    Mit freundlichen Grüßen

    Konrad Kirmeier

  12. Kirmeier Konrad sagt:

    Sehr geehrter Herr Müllemann!

    Rein musikwissenschaftlich kann ich diesem Thema nichts hinzufügen.

    Eine einzige Sache die mir noch aufgefallen ist, das dieses Präludium im Henleverlag, neben WTK 1 und dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach noch ein drittes Mal existiert.
    In der Einzelausgabe mit Fuga.

    Kann es sein, das so eine Einzelausgabe vor dreihundert Jahren auch schon existierte?
    Wenn ja, dann ist für mich das Rätsel gelöst.

    Mit freundlichen Grüßen
    Konrad Kirmeier

    • Lieber Herr Kirmeier,
      nein, eine historische Einzelausgabe gibt es nicht. Die frühe Überlieferung ist ja rein handschriftlich. Einzelstücke aus dem WTK sind zwar in der Tat in Einzelabschriften überliefert, aber diese Quellen bilden keinen eigenen Überlieferungsstrang, der Licht ins Dunkel bringen könnte.
      Mit herzlichen Grüßen,
      Norbert Müllemann

  13. Kirmeier Konrad sagt:

    Vielen Dank für die Rückmeldung, lieber Herr Müllemann.
    Ihr letzter Kommentar und der von Hr. Dvoran, hat mir persönlich sehr geholfen um den Glauben bzw. die Gewißheit zu bekommen wie das mit diesem Takt nun zu verstehen ist.
    Es wird für mich in dieser Angelegenheit heller, und es kommt zumindest für mich ein Licht ins Dunkel!

  14. Kirmeier Konrad sagt:

    Lieber Herr Müllemann!

    Ich dachte es gibt für mich da nichts mehr zu diesem Blog beizutragen.
    Nun habe ich ihren Weihnachtsblog gelesen, und wurde darauf aufmerksam das sie im Henle Verlag zwei Urtext Ausgaben von Gounods Ave Maria anbieten. Wie lange gibt es die Ausgaben denn schon bei Henle?
    Das besondere ist meiner Meinung nach schon der Mut des Franzosen Gounod das zu machen. Er hat das Präludium einmal mit diesem Schwencke Takt und dann noch in G Dur gesetzt.
    Das wusste ich noch nicht.
    Sein Mut wurde belohnt. Mit diesem Stück hatte er höchstwahrscheinlich ausgesorgt.
    Ob sich gleiches ein deutscher Komponist auch getraut hätte?
    Was für mich nun noch dazu kommt ist in die Anbetung Marias mit diesem Lied und Bach war ja Protestant. Da kommt also dieser Streitpunkt der Christenheit auch noch dazu.

    Was wohl nun der göttliche Bach zu dem ganzen sagt ist das einzige was mich noch an dieser Angelegenheit interessieren würde. Um das zu erfahren müssen wir uns direkt an ihn wenden.
    Mein Meinung ist nun, es ist in Ordnung was, Schwencke, Cerny oder Gounod da mit dem C-Dur Präludium gemacht haben.
    Sie haben Bach nicht entehrt, ganz im Gegenteil.

    Freundliche Grüße
    Konrad

  15. Klemens Kaatz sagt:

    Ein Aspekt fehlt in der Diskussion ja völlig: Gliedert man das Stück in Abschnitte, so ergibt sich – anders als Mag. Hermann Fritz es beschriebt – die Taktfolge:
    4+7+8+4+8 (Orgelpunkt der Dominante)+4 (Orgelpunkt der Tonika)
    Die Unregelmäßigkeit der viertaktigen Abfolge liegt also gar nicht in dem Viertakter (Takte 20 – 23), in den der Schwencke-Takt – von wem auch immer – eingefügt wurde.
    Dazu kommt, dass die Vorwegnahme des Orgelpuntes G durch den Schwencke-Takt den hier zweifellos befindlichen dramatischen Höhepunkt des Stückes stören würde.
    Mit freundlichen Grüßen,
    Klemens Kaatz

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