Alex­an­der Skrja­bin (1872–1915) war nicht nur einer der her­aus­ra­gen­den Kom­po­nis­ten im Russ­land um 1900. Er trat auch immer wie­der als Pia­nist öf­fent­lich auf – vor­nehm­lich als In­ter­pret sei­ner ei­ge­nen Werke. Seine Kom­po­si­tio­nen ge­hö­ren in­zwi­schen zum fes­ten Be­stand­teil des Kon­zert­re­per­toires, aber auch von sei­nem Kla­vier­spiel kön­nen wir uns noch heute ein Bild ma­chen. Zwei­mal, 1908 und 1910 ließ Skrja­bin Auf­nah­men sei­nes Spiels am me­cha­ni­schen Kla­vier an­fer­ti­gen. 1908 fand eine Auf­nah­me­sit­zung bei der Firma Hup­feld in Leip­zig statt, 1910 ließ sich Skrja­bin von Wel­te-Mi­gnon in Mos­kau auf Kla­vier­rol­len ban­nen (allen, die sich ge­nau­er mit den ver­schie­de­nen Auf­nah­me­tech­ni­ken und Fir­men aus­ein­an­der­set­zen wol­len, sei die­ser Link zum Pia­no­la In­sti­tu­te emp­foh­len). Skrja­bin war von dem Er­geb­nis of­fen­bar an­ge­tan. In einer Wer­be­bro­schü­re der Firma Hup­feld fin­det sich fol­gen­des vom Kom­po­nis­ten un­ter­zeich­ne­tes Bil­let, das eine Notiz Skrja­b­ins zi­tiert:

„Ich glau­be si­cher, dass dem Pho­no­la-Pia­no die Zu­kunft ge­hört, da es in künst­le­ri­scher Be­zie­hung kei­nen Wunsch offen lässt.“

Neben vie­len kür­ze­ren Wer­ken (Etü­den, Prä­lu­di­en, Ma­zur­ken, Poèmes) ent­stand so 1908 eine Auf­zeich­nung sei­ner In­ter­pre­ta­ti­on der 2. und der 3. Kla­vier­so­na­te (Bsp.: 3. und 4. Satz).

Die mo­der­ne Skrja­bin-For­schung hat diese Auf­nah­men wie­der­ent­deckt und sie wis­sen­schaft­lich genau ana­ly­siert. Auch neue­re Edi­ti­ons­pro­jek­te kom­men ohne Be­zug­nah­me auf die Kla­vier­rol­len nicht mehr aus. Wenn es darum geht, Quel­len für ein Werk zu un­ter­su­chen, ge­hö­ren dazu neben Hand­schrif­ten und Dru­cken selbst­ver­ständ­lich auch Ton­quel­len (so­weit vor­han­den), also Auf­nah­men durch den Kom­po­nis­ten per­sön­lich. Auch die jüngst im Hen­le-Ver­lag er­schie­ne­ne Aus­ga­be der 3. Kla­vier­so­na­te nimmt auf die Hup­feld-Auf­nah­me aus dem Jahr 1908 Bezug. Un­se­re Her­aus­ge­be­rin Va­len­ti­na Rub­co­va hat diese Ton­quel­le mit­hil­fe einer Tran­skrip­ti­on (hrsg. von Pawel Lo­ba­now, Mos­kau: Mu­sy­ka 2010) sorg­fäl­tig aus­ge­wer­tet und dabei je­weils ab­ge­wo­gen, ob die Ab­wei­chun­gen ge­gen­über den an­de­ren Quel­len – Haupt­quel­le ist die au­to­ri­sier­te Erst­aus­ga­be – Aus­wir­kun­gen auf den edier­ten No­ten­text haben. Denn: Skrja­bin spielt so man­ches an­ders als es die Erst­aus­ga­be vor­schreibt.

Viele der Ab­wei­chun­gen sind Klei­nig­kei­ten und ver­mut­lich aus dem Mo­ment der Auf­füh­rung ent­stan­den. So „feh­len“ teil­wei­se in Ak­kor­den Füll­stim­men; oder um­ge­kehrt, Skrja­bin fügt Zu­satz­no­ten hinzu. Min­des­tens zwei Stel­len ver­die­nen aber be­son­de­re Er­wäh­nung. Im 1. Satz über­springt der Kom­po­nist die Takte 116–119 und ver­kürzt das Werk somit um 4 Takte. Ab­sicht oder Ver­se­hen? Zu­ge­ge­ben, die Takte 117–119 wie­der­ho­len ziem­lich wört­lich, was be­reits in T. 113–115 ge­sagt wurde – aber sind sie daher ver­zicht­bar? Die Auf­nah­me scheint das na­he­zu­le­gen.

Fast noch in­ter­es­san­ter ist die Auf­nah­me des Fi­nal­sat­zes. Ei­gent­lich un­hör­bar greift der Kom­po­nist in die Be­gleit­fi­gur der lin­ken Hand ein. Die rol­len­den Ak­kord­bre­chun­gen sind unter Pia­nis­ten ge­fürch­tet und im vor­ge­schrie­be­nen Tempo tat­säch­lich hals­bre­che­risch. Skrja­bin än­dert wenig: Ei­ni­ge der Wech­sel­no­ten tauscht er durch Ton­re­pe­ti­tio­nen aus – durch die­sen Kniff spielt sich die Pas­sa­ge tat­säch­lich leich­ter (im fol­gen­den Bei­spiel steht oben, was Skrja­bin spielt und im un­te­ren Sys­tem die Fas­sung der Erst­aus­ga­be):

Die „er­leich­ter­te Fas­sung“ ist nicht nur auf den Hup­feld-Rol­len do­ku­men­tiert – auch Skrja­b­ins Zeit­ge­nos­se Ni­ko­lai Schil­ja­jew be­rich­tet in der Ein­lei­tung zu sei­ner 1924 er­schie­nen Aus­ga­be der 3. So­na­te, Skrja­bin habe jene leich­te­re Figur ge­spielt. Schließ­lich exis­tiert sogar eine au­to­gra­phe Quel­le, die die leich­te­ren Ton­re­pe­ti­tio­nen über­lie­fert. Ein Skiz­zen­blatt (Über­tra­gung der Skiz­ze siehe Bei­spiel unten) deu­tet dar­auf­hin, dass Skrja­bin die Figur ur­sprüng­lich um jene Ton­wie­der­ho­lun­gen herum ent­warf:

Wel­che Schlüs­se soll man nun dar­aus zie­hen? Ist das Fi­na­le zu schwer – wo es doch of­fen­bar nicht ein­mal der Kom­po­nist selbst in der ver­öf­fent­lich­ten Form spie­len konn­te? Soll­te man also den No­ten­text der Edi­ti­on ent­spre­chend än­dern?

Wohl kaum. So wich­tig Ton­quel­len als Do­ku­men­te sein mögen (und je wei­ter wir in die Musik des 20. Jahr­hun­derts ein­drin­gen, desto öfter wer­den wir damit zu tun haben, vgl. etwa Vor­wort und Be­mer­kun­gen der Edi­ti­on der Pre­ludes von Gershwin, HN 858), sie haben einen an­de­ren Sta­tus als hand­schrift­li­che oder ge­druck­te Quel­len. Es sind Mo­ment­auf­nah­men, nicht dazu be­stimmt, die letzt­gül­ti­ge Werk­ge­stalt zu über­lie­fern. Ton­quel­len bie­ten zu­sätz­li­che In­for­ma­tio­nen über die „Pa­pier­quel­len“ hin­aus, sie kön­nen auch so man­chen Stich­feh­ler einer ge­druck­ten Aus­ga­be ent­lar­ven. Es be­steht aber kein Zwei­fel, dass Skrja­bin die au­to­ri­sier­te Erst­aus­ga­be dazu be­stimmt hat, sein Werk zu über­lie­fern und zu ver­brei­ten. Aus ihr soll die drit­te So­na­te ein­stu­diert wer­den, ein­schließ­lich der „Wie­der­ho­lungs­tak­te“ im 1. Satz und der vir­tu­os wo­gen­den Ak­kord­fi­gur im Fi­na­le.

Be­son­ders hin­wei­sen möch­te ich auf das Buch von Ana­to­le Lei­kin: „The Per­for­ming Style of Alex­an­der Scria­bin“, Farn­ham: Ash­ga­te 2011. Darin fin­den sich über die Fra­ge­stel­lung die­ses Blogs hin­aus Über­le­gun­gen, in­wie­weit Kla­vier­rol­len als Quel­len über­haupt zu­ver­läs­sig sind. Nicht alle Pa­ra­me­ter des Spiels konn­ten in ge­eig­ne­ter Form ab­ge­bil­det wer­den; zudem wur­den die Rol­len nach der Auf­nah­me von Tech­ni­kern nach­be­ar­bei­tet, um Spiel­feh­ler zu kor­ri­gie­ren. Ob Kla­vier­rol­len die je­wei­li­ge Auf­füh­rung wirk­lich au­then­tisch ein­fan­gen – diese Frage wird sich wohl nicht ab­schlie­ßend be­ant­wor­ten las­sen.

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Eine Antwort auf »Skrjabin spielt Skrjabin- Ist das Finale der 3. Sonate zu schwer?«

  1. Leidel, Sabine & Wolf-Günter sagt:

    Die schwerste und längste Version ist immer die richtige; lieber Noten dazuerfinden als preisgeben.

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