Nicht nur Herausgeber von Notenausgaben leiden unter dem Problem, irgendwann einmal ein Projekt abschließen zu müssen – auch Komponisten waren und sind damit regelmäßig konfrontiert. Felix Mendelssohn-Bartholdy etwa ist berühmt-berüchtigt dafür, noch bei der Drucklegung seiner Werke in den Korrekturabzügen der Stichplatten weiterkomponiert zu haben, ganz zu schweigen von Franz Liszt, der teilweise Jahrzehnte nach deren Erscheinen seine Werke umschrieb und neu veröffentlichte. Bei Isaac Albéniz liegt uns mit seinem Opus summum, dem Iberia-Zyklus, ein Fall vor, bei dem ein von außen angestoßener Revisionsprozess wohl nicht zuende geführt werden konnte, da der Komponist verstarb – mit unangenehmen Konsequenzen für die Frage nach dem „Urtext“.
Listen wir zunächst die für eine Urtextausgabe der Iberia relevanten Quellen:
(a) Die autographen Handschriften aus den Jahren 1905–1908, äußerst sorgfältig als Reinschriften notiert. Hier ein kleiner Ausschnitt aus dem Autograph zu Almería:
(b) Die Erstausgabe des Zyklus aus den Jahren 1906–1908 im Pariser Verlag Edition mutuelle. Dieses Verlagsunternehmen, das mit der berühmten Schola Cantorum assoziiert war, arbeitete nach einem völlig anderen Geschäftsmodell als gewöhnliche Verlage. Eine Gruppe von Komponisten war damit beauftragt, im Sinne gegenseitiger Unterstützung die Werke anderer Komponisten durch Drucklegung und Aufführung bekannt zu machen. Dabei behielt der Verfasser sämtliche Nutzungsrechte an seinem Werk und hatte freien Zugriff auf die Stichplatten. Die Einnahmen wurden zwischen Verlag, Komponist und einem Finanzierungstopf für weitere Projekte geteilt.
(c) Der spanische Nachdruck der Erstausgabe im Madrider Verlag Unión Musical Española. Dieser Nachdruck kann erst nach 1914 erschienen sein, dem Gründungsjahr des Verlags (wahrscheinlich sogar erst nach 1918, siehe unten). Damit handelt es sich um eine nach Albéniz’ Tod erschienene Ausgabe, deren Quellenwert zunächst zumindest fraglich ist.
Als ich vor einigen Jahren von einem südafrikanischen Pianisten, João dos Santos, darauf angesprochen wurde, ob wir im G. Henle Verlag nicht eine Urtextausgabe der Iberia herausbringen wollten, wurde ich daher auch umgehend von ihm „gewarnt“, dass die spanische Ausgabe völlig unbrauchbar sei, da in ihr Wesentliches fehlte und sie vor Fehlern nur so strotzte. Wenn man eine Urtextausgabe herausgeben wollte, so müsse man sich auf den sorgfältigen Pariser Druck stützen und diesen gegen die autographen Handschriften auf Fehler prüfen.
Was mich zunächst stutzig machte, war die Tatsache, dass der spanische Nachdruck offensichtlich zu einem großen Teil die Stichplatten der Pariser Erstausgabe benutzte, die 1918 über Albéniz’ Erben nach Spanien kamen. Wie ließ es sich dann erklären, dass aus einem sorgfältigen Erstdruck ein unbrauchbarer Nachdruck wurde? Hier konnte nur ein Vergleich beider Ausgaben, Zeichen für Zeichen, weiterhelfen. Dabei wurde schnell klar, dass zwischen Erstausgabe und Nachdruck der Notentext auf den Stichplatten zum Teil massiv geändert und korrigiert wurde. In der Hauptsache handelt es sich um zwei Phänomene:
(a) Der äußerst stark von Albéniz bezeichnete Notentext wurde systematisch entschlackt. Ich nehme hier das Autograph noch hinzu, denn es zeigt, dass dieser Prozess bereits zwischen Autograph und Erstdruck und dann zwischen Erstdruck und Nachdruck stattfand. Der Ausschnitt stammt aus El Polo:
(b) Der spanische Nachdruck ändert an besonders schwierigen Stellen manchmal die Verteilung der Noten auf die Hände:
Ist es wahrscheinlich, dass diese Änderungen durch einen ambitionierten Verlagslektor in Spanien vorgenommen wurden? Oder gibt es nicht vielleicht doch Indizien, dass Albéniz selbst, der auch nach Erscheinen der Erstausgabe im Besitz der Platten war, diese Änderungen beauftragt hat?
Hier sind meine Argumente dafür, dass die Änderungen des spanischen Nachdrucks von Albéniz autorisiert sind:
(a) Die Änderungen am Notentext auf den Stichplatten sind mit demselben Stichzeug vorgenommen, das auch für den ursprünglich Stich der Pariser Ausgabe zum Einsatz kam. Dies deutet stark darauf hin, dass die Änderungen in Paris stattfanden, wo Albéniz in den letzten Jahren seines Lebens wohnte. Wer sonst sollte in Paris mit welcher Veranlassung die Änderungen vorgenommen haben?
(b) Die systematische Entschlackung des Notentextes entspricht ganz eindeutig Albéniz’ Wunsch. Dazu gibt es einen „Zeugen“ unter den Quellen. Im Autograph von Rondeña finden sich von seiner Hand zahlreiche Streichungen in diesem Sinne:
(c) Die Umverteilung von Noten zur besseren Spielbarkeit wünschte ebenfalls bereits Albéniz. Auch hierzu können wir ein Dokument konsultieren, Korrekturabzüge zur Erstausgabe des 3. Bandes der Iberia, hier ein Ausschnitt aus Lavapies:
Dies alles führte mich zu der Überzeugung, dass Albéniz zu einem Zeitpunkt nach Erscheinen der Erstausgabe die Korrektur und Änderung der Stichplatten fortführte. Die nach Spanien gebrachten Platten enthielten einen Notentext, der vermutlich in allen Abweichungen auf den Komponisten selbst zurückgeht und daher vollständig autorisiert war. Die Anregung, diese Änderungen vorzunehmen, stammt vermutlich von den Pianisten der ersten öffentlichen Aufführungen, die sicher sehr mit dem hochkomplexen Notentext zu kämpfen hatten. Auch dazu haben wir einen Hinweis in den Autographen: In Rondeña ändert Albéniz drei schwer lesbare Takte mit dem Hinweis, diese Stelle „mit der Korrektur von Mademoiselle Selva“ zu stechen. Blanche Selva war die Interpretin der französischen Uraufführung. Ich bin außerdem überzeugt, dass Albéniz diesen Revisionsprozess nicht mehr abschließen konnte. Denn die oben erwähnten Streichungen in Rondeña im Autograph wurden auf den Stichplatten nicht mehr ausgeführt.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich mache zwar als Konsequenz aus meiner Analyse den spanischen Nachdruck (der übrigens bis heute verkauft wird – jedoch mit „verlorengegangenen“ Fußnoten) zur Hauptquelle meiner Edition. Dennoch wäre es fatal zu glauben, dass er fehlerfrei sei. Vielmehr – und hier hatte João dos Santos recht – strotzt er tatsächlich vor Fehlern, die nur im direkten Vergleich mit dem Autograph bereinigt werden können. Wen wundert das bei dieser Flut von Zeichen! Das Ergebnis meiner Bemühungen können Sie in den drei bisher erschienenen Heften (HN 647, 648, 649) begutachten. Dort gehe ich auch im Detail auf viele weitere offene Fragen und Lesarten ein. Und wer gerne eine Reproduktion von Albéniz’ Autographen besitzen möchte, den erfreut die im Schott Verlag erschienene Faksimile-Ausgabe der Iberia.
Finden Sie Fehler in den Iberia-Urtextausgaben? Melden Sie sie uns. Dem Finder eines uns noch nicht bekannten Fehlers spendieren wir eine Urtextausgabe seiner Wahl aus unserem Katalog.