Zur Idee eines musikalischen Urtextes gehört es unmittelbar, die ursprüngliche Intention des Komponisten auch auf der Ebene der Instrumentalbesetzung zu respektieren. Bach-Inventionen für Gitarre, Schumann-Lieder für Viola und Klavier oder Chopins Trauermarsch für Posaunenquartett wird es bei Henle daher nicht geben. Und ebensowenig diese kreative „Instrumentierung“ von Für Elise…
Doch abgesehen von solchen offensichtlichen Arrangements stellt sich oft die Frage etwa nach dem „richtigen“ Soloinstrument einer Sonate. Auch in unserem Katalog finden sich zahlreiche Werke mit alternativen Besetzungsmöglichkeiten – ist Franz Schuberts Arpeggione-Sonate für Violoncello eigentlich „original“? Und wieso bieten wir Robert Schumanns Adagio und Allegro op. 70 in drei Fassungen für Horn, Violine oder Violoncello und Klavier an?
Es gilt dabei zwei grundsätzliche Fälle zu unterscheiden. Zum einen haben Komponisten gelegentlich Werke für kurzlebige Modeinstrumente verfasst; Instrumente, die heute nahezu unbekannt sind, geschweige denn noch gespielt werden. Schumanns Werke für Pedalklavier op. 56 und op. 58 (HN 367) lassen sich immerhin noch drei- oder vierhändig am regulären Klavier ausführen und erfordern dazu keine Eingriffe am Notentext.
Schuberts wundervolle Sonate für Arpeggione – eine Art Hybrid aus Gitarre und Cello, von dem man sich im Berliner Musikinstrumenten-Museum einen Eindruck verschaffen kann – wäre hingegen in dieser originalen Form für die heutige Musikpraxis verloren. Angesichts der klanglichen Nähe zu Cello und Viola scheint es uns daher legitim, eine spielpraktische Einrichtung für diese beiden Instrumente anzubieten (HN 611/612). Es versteht sich, dass der originale Arpeggione-Part ebenso als Einzelstimme für den Spezialisten zur Verfügung steht. Im übrigen sind im Notentext sämtliche (minimalen) Eingriffe wie gelegentlich nötige Oktavtranspositionen oder Umnotierungen von nicht spielbaren Akkorden mit Zeichen vermerkt, so dass der Spieler über alle Abweichungen von der Originalstimme informiert ist und diese zum Vergleich konsultieren kann. Da es hier nicht darum geht, beliebige Arrangements zur bloßen Erweiterung des Katalogs zu erstellen, sondern eine klanglich äquivalente Ersetzung eines heute praktisch ausgestorbenen Instruments zu ermöglichen, glauben wir, dass diese Entscheidung gerechtfertigt ist.
Eine ähnliche Überlegung liegt unserer Ausgabe der Gambensonaten von J.S. Bach (HN 676) und C.P.E. Bach (HN 990/991) zugrunde. Wenngleich die Gambe gerade im Zuge der historischen Aufführungspraxis wieder eine größere Verbreitung bei Streichern gefunden hat, galt sie doch selbst zu Bachs Zeiten schon als Spezialinstrument und wurde auch durch Violoncello (oder Viola) ersetzt; eine Praxis, die durch zeitgenössische Abschriften belegt ist. Daher legen wir unseren Editionen neben der originalen Gambenstimme auch Stimmen für diese beiden modernen Streichinstrumente bei, die ähnlich wie bei der Arpeggione-Sonate nur geringe (und stets dokumentierte) Abänderungen aufweisen.
Handelt es sich in obigen Fällen eher um „rekonstruierende“ Eingriffe der heutigen Herausgeber, geht es bei den zahlreichen überlieferten Parallelbesetzungen gerade der Werke des 19. Jahrhunderts darum, die eigentlichen Besetzungsabsichten der Komponisten von den merkantilen Interessen der Verleger zu trennen. Zu deren Strategien gehörte es seit jeher, zu Kompositionen für weniger gängige Instrumente (v.a. für Blasinstrumente) Parallelbesetzungen anzubieten, um den Kundenkreis zu erweitern – oft, aber nicht immer im Sinne und mit dem Einverständnis des Komponisten. Typische Kombinationen hierbei sind etwa Flöte/Violine, Horn/Cello oder Klarinette/Bratsche. Die Aufgabe des Herausgebers besteht darin, für jeden Einzelfall herauszufinden, ob die Parallelfassung vom Komponisten selbst erstellt oder zumindest autorisiert wurde.
So ist im Fall von Robert Schumanns Adagio und Allegro op. 70 eindeutig, dass neben der Hornfassung die Parallelbesetzungen für Violine oder Violoncello auf ihn selbst zurückgehen. Schumann schreibt an den Verleger Kistner explizit, er habe „ein Adagio mit ziemlich ausgeführtem, brillantem Allegro für Pianoforte und Horn (oder Violoncell) geschrieben“, und anlässlich der Übersendung der Stichvorlage ergänzt er: „Sodann erhalten Sie […] das Manuscript des Adagio und Allegro für Pfte und Horn, welchem auch die Violoncell- u. Violinstimmen beiliegen.“ Tatsächlich fand auch die erste öffentliche Aufführung am 26. Januar 1850 in Dresden in der Fassung mit Violine statt (HN 1023/1024/1025).
Eine ähnliche starke Legitimation lässt sich für Johannes Brahms’ Klarinettensonaten op. 120 Nr. 1 und 2 anführen, von denen er eigenhändig eine Violafassung (mit merklichen Änderungen gegenüber dem Klarinettenpart) erstellte (HN 274/315). Auch die Romanzen op. 36 und 67 von Camille Saint-Saëns entstanden parallel für Horn und Violoncello und wurden vom Komponisten auch in beiden Fassungen persönlich am Klavier begleitet (HN 1167/1168).
Wo es eine solche direkte Mitwirkung nicht gibt, wird oft das Prinzip der „passiven Autorisierung“ einer alternativen Fassung herangezogen. Diese erfordert aber gute Belege, wie etwa eine vom Komponisten durchgesehene Korrekturfahne – sein bloßes Zulassen von fremden Bearbeitungen kann damit nicht für den Urtextgedanken legitimiert werden. Ein Beispiel hierfür ist Gabriel Faurés bekannte Berceuse op. 16 – ein „Schlager“, der von seinem Verleger Julien Hamelle in unzähligen Bearbeitungen für im Grunde sämtliche Melodieinstrumente auf den Markt gebracht wurde. Auch wenn dies von Fauré offensichtlich geduldet (oder erduldet?) wurde, wurde die ursprüngliche Komposition von ihm einzig für Violine und Klavier verfasst (später schrieb Fauré genau zu dieser Fassung noch eine Orchesterbegleitung), weswegen wir auch nur dieses Original anbieten (HN 1101).
Ein anderes, sehr weites Feld sind Klavierbearbeitungen von Orchester- und Bühnenwerken – aber davon soll ein anderer Blog berichten…
Sehr geehrter Herr Rahmer, liebes Henle-Team,
ich möchte mich einmal für die zahlreichen interessanten Blog-Beiträge bedanken! Brennend interessiert hätten mich darüber hinaus Ihre Gedanken zu dem im letzten Absatz des obigen Textes angesprochenen Thema:
“Ein anderes, sehr weites Feld sind Klavierbearbeitungen von Orchester- und Bühnenwerken – aber davon soll ein anderer Blog berichten…”
Der Beitrag scheint bis heute noch nicht erschienen zu sein, oder habe ich ihn übersehen?
Herzliche Grüße,
Tobias Sing
Vielen Dank! Einen allgemeinen Übersichtsbeitrag zur Thematik “Klavierbearbeitungen von Orchester- und Bühnenwerken” gibt es bislang nicht, denn dazu haben wir noch zu wenig entsprechende Werke im Programm. Aber eine erste Fallstudie können Sie hier lesen!
Sehr geehrter Herr Rahmer,
danke für den interessanten Artikel. Den Urtextgedanken, insbesondere in Hinblick auf praktische Publikationen, als vermeintliche Annäherung an den Willen des Komponisten zu verstehen, ist auf den ersten Blick eine scharfe Definition.
Beim Lesen fielen mir sofort Ihre Ausgaben / Ihre Editionspraxis zu den dann später genannten Ausgaben der Arpeggionesonate wie der Bach’schen Gambensonaten ein.
Klar, die Arpeggione gibt es heute nicht mehr, die Textur der Komposition erfordert auch nicht zwingend ein Originalinstrument. Was bliebe andes übrig als die von Ihnen publizierten Fassungen?
Aus meiner Sicht (der eines auch gambistisch ausgebildeten Gitarristen) ist das in Ihrer Ausgabe vorbildlich gelöst worden.
Anzumerken zur Arpeggione-Sonate ist daher lediglich, dass es (aus meiner Erinnerung, ich habe eine Kopie des Autographs aus Paris in Kopie) auch eine Fassung für Violine gibt. Auch das ist »original« (jedenfalls mehr als das Cello).
Ähnlich verhält es sich bei den Gambensonaten von J. S. Bach. Doch habe ich noch ein paar andere Gedanken. Ihre etwas zugespitze Anmerkung der Bach-Inventionen für Gitarre (nebst dem Verweis auf Für Elise) führt nicht unbedingt zu einer treffenden Abgrenzung. Ist nicht auch eine Bearbeitung manchmal eine herausragende musikalische Idee? Ich denke beispielsweise an die Orchesterfassung von Bilder einer Ausstellung und finde, dass hier die Bearbeitung einen künstlerischen Eigenwert hat, der auch die Ehrung einer Urtextüberlegung verdient.
Wie sieht es aus mit zeitgenössischen Bearbeitungen der Werke von Granados und Albeniz für Gitarre, noch besser: für zwei Gitarren. Wenn ich (hier schreibe ich aus praktischer Perspektive) die Duofassungen von Miguel Llobet neben das Original stelle, so kann ich mir durchaus vorstellen, dass diese Werke einen festen Platz in einem Katalog wie dem von Henle finden könnten. (Mit den originalen Fingersätzen des Bearbeiters, diese sind so etwas wie eine gitarristische Instrumentierung)
Auch ja, das Problem der Instrumente? Was ist schon original? All die Klavierwerke unserer Klassiker auf dem modernen Flügel? Ich habe nichts dagegen, doch original ist das nicht. Bedenken wir das auch für Streicher: Noch das Kolisch-Quartett spielte die Werke der Neuen Wiener Schule auf Darmsaiten. Schön! Aber nicht original.
Also, wie gesagt: Kein Problem mit der Arpeggione-Sonate oder den Gambensonaten. Was aber wäre, wenn Sie Werke von Marais oder Forqueray für Cello oder Bratsche veröffentlichen würden? Dann fände ich die Grenze überschritten. Das ist außerhalb der Instrumentation und nicht original im Sinne der Vorstellung des Komponisten.
Vielleicht ist die Überlegung, dass sogar eine Bearbeitung näher am Komponistengedanken sein kann als manche Instrumentierung mit modernen Nachfolgeinstrumenten durchaus legitim.
Abschließend nuzte ich die Gelegenheit, Ihnen zu Ihren herausragenden Ausgaben zu gratulieren. Wagen Sie ruhig Grenzfälle wie die oben genannten.
Viele Grüße
Michael Sieberichs-Nau
Interessant finde ich unter anderem, dass Komponisten gelegentlich Werke für kurzlebige Modeinstrumente verfasst haben, die es heute (fast) nicht mehr gibt. Ich war mir dessen nie bewusst; also dass es neben den klassischen Instrumenten wie Geige etc. auch solche gab, die wieder “verschwanden”.