Ein bereits veröffentlichtes Werk neu herauszugeben, ist eine spannende Aufgabe und in mancher Hinsicht sogar anspruchsvoller als die Arbeit an einer Ausgabe, bei der man sich nur auf Manuskripte und Skizzen des Komponisten stützen kann. Selbstverständlich muss man als Herausgeber immer die eigentliche Intention des Komponisten hinsichtlich des jeweiligen Werkes im Auge haben. Dabei kann die Existenz von gedruckten Ausgaben sowohl ein Vorteil wie auch ein Nachteil sein: Ein Vorteil, weil eine Erstausgabe sehr wahrscheinlich unter Aufsicht des Komponisten entstanden sein wird, und ein Nachteil, weil sich Druckfehler und andere Irrtümer eingeschlichen und, ohne Kontrolle durch den Komponisten, in späteren Auflagen fortgesetzt haben könnten.
Besondere Vorsicht im Umgang mit gedruckten Quellen ist geboten, wenn das Werk durch den Verlag bearbeitet wurde – und nur wenigen Kompositionen ist dies so oft wiederfahren wie Edward Elgars populärem Salonstück „Salut d’Amour“, dessen Neuausgabe ich gerade für den G. Henle Verlag vorbereite. Welche dieser Fassungen als „authentisch“ gelten können, also von Elgar selbst für die Veröffentlichung bearbeitet worden sind, wurde zwischen Norbert Müllemann und mir sehr ausführlich per E-Mail diskutiert. 1888 hatte die Firma Schott die Rechte an dem Werk direkt von Elgar erworben und damit die Erlaubnis, jedes beliebige Arrangement zu erstellen. Tatsächlich erschienen in den späten 1890er Jahren Bearbeitungen zu Hauf – aller Wahrscheinlichkeit nach, um aus der Komposition so viel Profit wie möglich zu schlagen. Bei unserer Neuausgabe haben wir uns für die Fassungen für Klavier solo sowie für Violine und Klavier entschieden, deren Autographe sich erhalten haben und daher zur Überprüfung der frühen Schott-Ausgaben herangezogen werden können. Zusätzlich werden wir wahrscheinlich die Bearbeitung für Cello und Klavier herausbringen, die Elgar als Geschenk für den befreundeten Amateurcellisten Dr. Charles Buck eingerichtet hat. Anstelle dieser Version erschien allerdings bei Schott ein späteres, vermutlich von einem Hauslektor angefertigtes Arrangement. Elgars Briefwechsel mit Buck belegt jedoch, dass er seine eigene Fassung für Cello und Klavier als geeignet erachtete, sie zu veröffentlichen. Tatsächlich ist diese Version reizvoller und eigenständiger als die später von Schott publizierte.
Es ist immer spannend, das Autograph eines Komponisten zu untersuchen und ganz besonders, wenn dabei bestimmte Eigenheiten – oder gar Eigenwilligkeiten – der Notation zum Vorschein kommen, die ein Licht darauf werfen, wie der Komponist sein Werk vom ausführenden Musiker verstanden und aufgeführt sehen wollte. Eine solche Eigenheit der Notation zeigt sich in Elgars Skizze zur Klavierfassung von „Salut d’Amour“. Wie man der untenstehenden Abbildung entnehmen kann, hatte Elgar zunächst die Absicht, die Melodie gleich zu Beginn vorzustellen, ohne das für die Version für Violine und Klavier kennzeichnende zweitaktige Vorspiel (siehe erste Akkolade). Offensichtlich hat er diesen Einfall jedoch gleich wieder verworfen.
Neugierig wurde ich, als ich bei genauerer Untersuchung dieser Eröffnung das Wort „kleine“ entdeckte (für „kleine Noten“: als Hinweis darauf, dass die betreffenden Noten in kleinerem Stich erscheinen sollten). Das mit Tinte über das obere System geschriebene Wort ist durch eine dünnere (mit Bleistift gezogene?) Linie den Noten der rechten Hand zugewiesen (siehe dritte Akkolade). Obwohl das synkopierte Achtel-Viertel-Motiv die für die Wirkung des Stücks entscheidende schwungvolle Dynamik liefert, ist es natürlich dem im dritten Takt erscheinenden Thema melodisch untergeordnet. Es sieht also ganz danach aus, als hätte Elgar die Aufmerksamkeit des Pianisten mit visuellen Mitteln auf die Stellung dieser rhythmischen Figur innerhalb der verschiedenen musikalischen Schichten lenken und dadurch eine bestimmte Aufführungsweise suggerieren wollen – ruhiger vielleicht und mit einer gegenüber der Melodie leicht gedeckteren Klangfarbe. Für Elgar war diese optische Differenzierung ein wichtiger Aspekt im Erscheinungsbild seiner Komposition, denn die kleineren Notenköpfe finden sich auch in den Druckausgaben – und es ist zu vermuten, dass er hierauf bestanden hat.
Bezeichnenderweise zeigt sich diese Eigenwilligkeit der Notation nicht nur in einem der frühesten Stücke von Elgar, sondern auch in einem seiner spätesten. Am Schluss der 1919 vollendeten Sonate für Violine und Klavier op. 82 zitiert er seine rund zwanzig Jahre zuvor entstandenen „Enigma Variationen“. Dieses Zitat ist wesentlich: Zur Zeit der Niederschrift der Sonate war Elgar zutiefst bekümmert und deprimiert – einerseits hatte er den Verlust einiger seiner engsten Freunde zu verkraften, andererseits die unabänderliche Auflösung jener Gesellschaft, in der er aufgewachsen war und der er einige seiner größten beruflichen Erfolge verdankte. Und in dieser Situation zitiert er nun ein „meinen Freunden, die darin porträtiert sind“, gewidmetes Werk, das zugleich den Grundstein für seinen Ruhm und Erfolg gelegt hatte! Wie wichtig ihm diese Anspielung auf seine Lebensgeschichte ist, lässt sich daran erkennen, dass in der unter Elgars Aufsicht entstandenen Ausgabe bei Novello die Noten des Klaviersatzes, die das Zitat wiedergeben, Standardgröße haben, während die umgebenden Noten kleiner gestochen sind.
Noten in Kleinstich begegnen uns Musikern in Druckausgaben häufig. Meist kennzeichnen sie dort eine alternative Version oder geben eine Stelle in einer für Gehirn – und Finger – leichter fasslichen Form wieder. In unseren beiden Fällen stellen die Noten in Kleinstich aber mit Sicherheit keine Alternativen dar: sowohl in „Salut d’Amour“ als auch in der Sonate müssen alle Noten gespielt werden – allerdings auf eine andere Weise als die Noten in Normalgröße, vielleicht ruhiger, mit leichterem Anschlag oder einer dunkleren Tongebung. Wie auf einem Bild einzelne Gesichter in einer Menschenmenge so verleihen sie dem Tongemälde Tiefe und Kraft, ohne jedoch im Mittelpunkt zu stehen. Dieser ist der Schönheit einer sanglichen Melodie oder einem mit schmerzvollen Erinnerungen aufgeladenen Motiv vorbehalten.
Dieser Artikel stammt von Rupert Marshall-Luck
Ein äußerst interessanter Artikel! Bezüglich der Besetzung schreiben Sie: “Zusätzlich werden wir wahrscheinlich die Bearbeitung für Cello und Klavier herausbringen.” Es wäre wirklich zu begrüßen, wenn aus dieser Wahrscheinlichkeit Wirklichkeit würde und die Urtext-Ausgabe von Elgars Salonstück “Salut d’amour” auch in der Bearbeitung für Violoncello und Klavier ins Henle-Verlagsprogramm aufgenommen würde! Die Cellistinnen und Cellisten werden es Ihnen sicher danken!