Wenn als Ide­al­ziel einer kri­ti­schen Ur­text-Aus­ga­be gel­ten darf, her­aus­zu­fin­den und dar­zu­stel­len, was das vom Kom­po­nis­ten „ei­gent­lich Ge­mein­te“ ist, so be­steht die grund­le­gen­de Auf­ga­be vor allem darin, alle re­le­van­ten Quel­len zu dem Werk her­an­zu­zie­hen, zu ver­glei­chen und ihre Un­ter­schie­de zu be­wer­ten.

Doch dies al­lein ge­nügt in der Regel nicht. Denn nicht sel­ten kommt es vor, dass sich der Kom­po­nist in sei­nem Au­to­graph ver­schreibt oder ver­se­hent­lich ein Zei­chen ver­gisst (ty­pi­scher­wei­se sind es Vor­zei­chen), und alle fol­gen­den Quel­len wie Ab­schrif­ten und Erst­dru­cke dann die­ses Ver­se­hen blind über­neh­men. Durch blo­ßes Ver­glei­chen der Quel­len un­ter­ein­an­der las­sen sich sol­che durch­ge­hen­den Feh­ler nicht her­aus­fin­den.

Es ist also zu­sätz­lich immer nötig, den No­ten­text in sich auf Stim­mig­keit zu prü­fen, un­ab­hän­gig davon, was in den Quel­len steht. (Die Aus­ga­be muss ge­wis­ser­mas­sen auch „kri­tisch“ ge­gen­über dem Kom­po­nis­ten sein.)

Eine gute Hilfe für das Auf­spü­ren von sol­chen Un­ge­reimt­hei­ten ist das Be­trach­ten von so­ge­nann­ten „Par­al­lel­stel­len“. Das kann etwa die Re­pri­se eines gan­zen Werk­t­eils in einem Stück in A-B-A-Form sein, oder die Wie­der­ho­lung eines Tak­tes oder ein­zel­nen Mo­tivs, oft auch se­quen­ziert auf einer an­de­ren har­mo­ni­schen Stufe. Klei­ne Ab­wei­chun­gen zwi­schen an­sons­ten iden­ti­schen Tak­ten kön­nen ein Indiz dafür sein, dass hier etwas ver­ges­sen wurde.
Doch Ach­tung: nicht alles, was sich in einem Stück wie­der­holt oder ir­gend­wie äh­nelt, muss vom Kom­po­nis­ten auch genau gleich ge­meint sein. Auch in der Musik gilt: va­ria­tio delec­tat

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Zur Il­lus­tra­ti­on die­ser Pro­ble­ma­tik möch­te ich drei ak­tu­el­le Bei­spie­le aus Ed­vard Griegs Peer-Gynt-Sui­ten vor­stel­len. Griegs ei­ge­ne Be­ar­bei­tun­gen sei­ner bei­den Or­ches­ter­sui­ten op. 46 und op. 55 für Kla­vier zu 2 Hän­den bzw. zu 4 Hän­den sind bei uns so­eben neu er­schie­nen (HN 1239 und HN 1243), her­aus­ge­ge­ben von un­se­ren be­währ­ten Grieg-Spe­zia­lis­ten Ernst-Gün­ter Hei­nemann und Einar Steen-Nøkle­berg.

Grieg las die Druck­fah­nen der Erst­aus­ga­ben zwar sorg­fäl­tig Kor­rek­tur, was fal­sche Töne be­trifft (den­noch ent­deck­ten wir noch einen ech­ten No­ten­feh­ler, der bis heute in den Aus­ga­ben her­um­spuk­te). Auf der Ebene von Ar­ti­ku­la­ti­on und Dy­na­mik war der Kom­po­nist aber etwas nach­läs­si­ger. So fan­den un­se­re Her­aus­ge­ber zahl­rei­che frag­li­che An­ga­ben, die durch einen Ver­gleich mit Par­al­lel­stel­len oft be­rei­nigt wer­den konn­ten.

Die Erst­aus­ga­be des Ara­bi­schen Tan­zes aus der 2. Suite op. 55, vier­hän­di­ge Fas­sung, hat in T. 103–104 der Pri­mo-Stim­me fol­gen­de Phra­sie­rung, die sich am Ende von T. 103 zwi­schen rech­ter und lin­ker Hand un­ter­schei­det:

Wir be­fin­den uns hier in der Re­pri­se des ers­ten Teils, und der dort kor­re­spon­die­ren­de T. 17 hat in der Tat eine plau­si­ble­re Les­art, bei der die Ar­ti­ku­la­ti­on der lin­ken Hand mit der rech­ten über­ein­stimmt (siehe je­weils die rot un­ter­stri­che­nen Noten):

Ein Blick ins Au­to­graph er­hellt zudem, dass Grieg die Wie­der­ho­lung in T. 103–104 gar nicht aus­no­tiert hat, son­dern sich mit einer An­wei­sung für den No­ten­s­te­cher die Schreib­ar­beit er­spar­te. Er be­zeich­ne­te die be­tref­fen­den Takte des ers­ten Teils mit Buch­sta­ben und ver­merk­te dann in der Re­pri­se ein­fach „Wie­der­ho­lung von a bis gg“ (siehe Ab­bil­dung ganz oben). Somit ist klar, dass für Grieg die Wie­der­ho­lung exakt iden­tisch zu sein hatte und die Ab­wei­chung in T. 103 si­cher auf ein Ver­se­hen des No­ten­s­te­chers zu­rück­geht.

Dem­entspre­chend glei­chen wir in un­se­rer Aus­ga­be die Phra­sie­rung in T. 103 an die erste Stel­le an, zumal die­ses Motiv im Stück noch 6 wei­te­re Male in die­ser Form auf­tritt:

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Ku­rio­ser­wei­se tritt in der zweihän­di­gen Fas­sung des Ara­bi­schen Tan­zes ein ganz ähn­li­cher Fall bei einer rhyth­mi­schen Va­ri­an­te die­ses Uni­so­no-Mo­tivs auf, dies­mal be­reits in den Tak­ten 11–12:

Hier fehlt in der lin­ken Hand der Bogen ganz, dafür steht ein Stac­ca­to-Punkt auch auf dem letz­ten Auf­takt-Ach­tel, im Wi­der­spruch zur rech­ten Hand (und zum obi­gen Bei­spiel aus der vier­hän­di­gen Fas­sung).

Diese No­tie­rung ist dies­mal in allen Quel­len über­ein­stim­mend, auch das Au­to­graph hat diese Les­art. Wir ver­mu­ten hier aber stark ein Ver­se­hen Griegs, der viel­leicht be­ein­flusst durch die vor­aus­ge­hen­den Noten einen Stac­ca­to­punkt zu viel setz­te und den Bogen ver­gaß. Dafür spricht die Par­al­lel­stel­le in der Re­pri­se T. 97/98, die so­wohl im Au­to­graph als auch in der Erst­aus­ga­be wie­der die „rich­ti­ge“ Phra­sie­rung hat:

Ge­stützt durch zahl­rei­che wei­te­re Vor­kom­men des Uni­so­no-Mo­tivs mit eben­die­ser Phra­sie­rung, gleicht un­se­re Aus­ga­be also auch T.11–12 an die üb­ri­gen Stel­len an:

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Wäh­rend in die­sen bei­den Fäl­len der Ver­gleich mit den Par­al­lel­stel­len im Stück also sehr hilf­reich war, um ein­zel­ne „Aus­rei­ßer“ aus­fin­dig zu ma­chen, sieht es in an­de­ren Stü­cken der Peer-Gynt-Sui­ten nicht so ein­deu­tig aus.

So etwa in Ani­tras Tanz aus der 1. Suite op. 46: hier prä­sen­tiert sich in der vier­hän­di­gen Fas­sung der Be­ginn des Haupt­the­mas in einer durch­weg un­ein­heit­li­chen Ar­ti­ku­la­ti­on. Die erste Ach­tel nach den zwei Vor­schlags­no­ten ist 8mal mit Stac­ca­to­punkt, aber 11mal ohne Stac­ca­to­punkt no­tiert…

Hier je­weils zwei frei aus dem Stück her­aus­ge­grif­fe­ne Bei­spie­le des Mo­tivs, zu­nächst mit Stac­ca­to zur 1. Ach­tel…:

… und hier ohne Stac­ca­to:

Lei­der ist das Au­to­graph zu die­sem Stück ver­schol­len, und auch in der Par­al­lel­fas­sung für Kla­vier zu 2 Hän­den geht es in die­sem Punkt ähn­lich kon­fus zu, so dass nicht mehr zu ent­schei­den ist, ob diese stän­di­gen Wech­sel von Grieg wirk­lich ge­wollt sind. Und wenn es ein Ver­se­hen war (was zu ver­mu­ten ist), so ist immer noch un­klar, wel­cher Les­art der Vor­zug zu geben wäre.

An Stel­len wie die­sen ist man als Her­aus­ge­ber gut be­ra­ten, Zu­rück­hal­tung zu wah­ren und den Text nicht zu „glät­ten“, son­dern in sei­ner Un­ein­heit­lich­keit zu be­las­sen. (So haben wir es auch für un­se­re Neu­aus­ga­be ent­schie­den.) Das Be­rück­sich­ti­gen von Par­al­lel­stel­len darf nicht zu einer ge­ne­rel­len „An­glei­che­ri­tis“ füh­ren, die sich vom ei­gent­li­chen Ur­text-Ge­dan­ken wie­der ent­fernt. Hier er­öff­nen sich aber für den aus­füh­ren­den Pia­nis­ten Frei­räu­me, diese of­fe­nen Fra­gen durch seine In­ter­pre­ta­ti­on zu be­ant­wor­ten.

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Eine Antwort auf »Die „Parallelstelle“ – handle with care…«

  1. Dr. Michael Struck sagt:

    Lieber Herr Rahmer,
    danke für den aufschlussreichen Beitrag, dessen Tendenz ich aus der Perspektive der neuen Brahms-Gesamtausgabe (Uni Kiel, Musikwiss. Institut) nur bestätigen kann.
    Bei Brahms kann man in Manuskripten mitunter sehen, dass der Komponist nachträglich kleine Varianten schuf, wo er ursprünglich genau identische Noten, Artikulation etc. geschrieben hatte. Und zumindest im Hinblick auf seine Mitwirkung an den alten Schumann- und Chopin-Ausgaben des 19. Jahrhunderts hat er sich sogar dezidiert geäußert:

    (gegenüber Ernst Rudorff über Chopin-Variantlesarten:) “Ich will mich nicht mit Chopin vergleichen, aber ich spiele doch auch in meinen Sachen irgendeine Stelle das eine Mal so, das andere Mal ein bisschen anders.”

    (gegenüber Clara Schumann über Schumann-Variantlesarten:) “So feine Stellen[,] die sich wiederholen, schreibt oder bezeichnet man wohl ganz gern etwas verschieden.”

    Da sieht man, dass der Komponist beim Notieren auch schon die im 19. Jahrhundert verbreitete und auch von manchen Musikern des 20. Jahrhunderts (Cherkassky, Horowitz etc.) gepflegte Gestaltungsweise mitbedacht (und mitnotiert) hat, bei Wiederholungen klangliche, dynamische oder artikulatorische Veränderungen anzubringen.

    Eigentümlicherweise scheinen (manche) Künstler hier angleichungseifriger zu sein als Philologen. Sie argumentieren dann mitunter, wenn der Komponist an einer der beiden Stelle erst nachträglich eine Variante eingebracht habe, dann habe er an der anderen Stelle nur vergessen, die gleiche Änderung vorzunehmen. Brahms’ Äußerungen zeigen, dass sie irren.

    In diesem Sinne wünsche ich Ihnen weiter gutes, sorgsames, differenziertes, variantenpflegliches Edieren.

    Herzlichst Ihr
    Michael Struck

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