Unter den knapp hun­dert Kom­po­si­tio­nen, die der Gei­gen­vir­tuo­se Vieux­temps hin­ter­las­sen hat, stellt das 5. Vio­lin­kon­zert a-moll op. 37 si­cher­lich das mit Ab­stand be­kann­tes­te und be­lieb­tes­te Werk dar. Seine Po­pu­la­ri­tät ver­dankt es nicht nur dem bril­lan­ten Gei­gen­part, son­dern auch der ori­gi­nel­len Form in drei Sät­zen, die pau­sen­los in­ein­an­der über­ge­hen.

Wenn man sich näher mit den über­lie­fer­ten Quel­len zu Opus 37 be­schäf­tigt, stößt man schnell auf er­staun­li­che Sach­ver­hal­te: Ei­ner­seits ver­zich­te­te der Ver­lag Bote & Bock 1861 auf die Ver­öf­fent­li­chung einer Or­ches­ter­par­ti­tur: 1861 wur­den le­dig­lich die Or­ches­ter­stim­men sowie eine Fas­sung für Vio­li­ne und Kla­vier ge­druckt. An­de­rer­seits weist der Kla­vier­part ge­gen­über den Or­ches­ter­stim­men er­heb­li­che Un­ter­schie­de auf, so dass er eine Fas­sung sui ge­ne­ris dar­stellt. Alle bis­he­ri­gen Aus­ga­ben haben diese Ver­si­on für Vio­li­ne und Kla­vier un­kri­tisch nach­ge­druckt und sind daher nur sehr ein­ge­schränkt als Kla­vier­aus­zug für die Kon­zert­pro­ben zu be­nut­zen. Un­se­re in Kürze er­schei­nen­de neue Ur­text-Edi­ti­on (HN 1257) schafft hier Ab­hil­fe. Durch die Be­ar­bei­tung von Jo­han­nes Um­breit, der den über­lie­fer­ten Kla­vier­part an die Or­ches­ter­stim­men an­pass­te, liegt nun erst­mals ein „ech­ter“ Kla­vier­aus­zug die­ses be­lieb­ten Kon­zerts vor.

Aber es gibt noch mehr in un­se­rer neuen Edi­ti­on zu ent­de­cken, wie das Ge­spräch mit der Vieux­temps-Ex­per­tin Marie Cor­naz (Mu­sik­ab­tei­lung der Kö­nig­li­chen Bi­blio­thek in Brüs­sel), die das Vor­wort schrieb, und dem auf die bel­gisch-fran­zö­si­sche Schu­le spe­zia­li­sier­ten Gei­ger Ray Iwa­zu­mi (Do­zent für Vio­li­ne an der Juil­li­ard School in New York), der als Her­aus­ge­ber ver­ant­wort­lich zeich­net, ent­hüllt.

Frau Cor­naz, was ist über die Ent­ste­hung von Vieux­temps’ 5. Vio­lin­kon­zert be­kannt?

MARIE COR­NAZ: Die Kom­po­si­ti­on des 5. Vio­lin­kon­zerts wurde im Früh­jahr 1861 voll­endet. Das be­rühm­te Werk wurde ur­sprüng­lich als Prü­fungs­stück für die Schü­ler der Meis­ter­klas­se des bel­gi­schen Gei­gers Hu­bert Léonard am Brüs­se­ler Con­ser­va­toire royal ent­wor­fen. Henry Vieux­temps spiel­te es selbst bei den Ur­auf­füh­run­gen in Brüs­sel: mit Kla­vier­be­glei­tung am 2. Juni, da­nach mit Be­glei­tung des Con­ser­va­toire-Or­ches­ters am 24. Sep­tem­ber des Jah­res.

Herr Iwa­zu­mi, das Kon­zert ent­hält – neben der Form ein wei­te­res, sehr un­ge­wöhn­li­ches Cha­rak­te­ris­ti­kum des Werks – zwei Ka­den­zen ad li­bi­tum. Hat dies mit der Ent­ste­hungs­ge­schich­te zu tun und wie un­ter­schei­den sich beide Ka­den­zen?

RAY IWA­ZU­MI: Dass es zwei Ka­den­zen zur Aus­wahl gibt, dürf­te aus prak­ti­scher Sicht damit zu tun haben, dass es als Wett­be­werbs­stück die­nen soll­te – das heißt, damit wurde den Stu­die­ren­den eine Wahl und der Jury eine ge­wis­se Ab­wechs­lung beim Hören der Kan­di­da­ten er­mög­licht! Mu­si­ka­lisch ge­se­hen bie­tet die Wahl zwi­schen zwei Ka­den­zen einen fas­zi­nie­ren­den Ein­blick in Vieux­temps’ ge­nia­len Er­fin­dungs­reich­tum. Die Ca­den­za Nr. 1 ist wie eine Fan­ta­sie über die Ex­po­si­ti­on der So­lo-Vio­li­ne ge­baut, die klu­ger­wei­se die The­men aus­spart, die im 3. Satz wie­der­keh­ren. Dem­ge­gen­über tritt die Ca­den­za Nr. 2, die bei wei­tem be­kann­ter ist und öfter ge­spielt wird, als aus­ge­ar­bei­te­te Va­ria­ti­on des Or­ches­ter­tut­ti zu Be­ginn der Ex­po­si­ti­on auf. In­so­fern stel­len beide Ka­den­zen eine Art Re­pri­se im ers­ten Satz dar und zei­gen, wie fle­xi­bel und fan­ta­sie­reich Vieux­temps hier die Kon­zert­form in der ro­man­ti­schen Epo­che hand­habt.

Frau Cor­naz, wurde die Be­deu­tung von Vieux­temps’ Kom­po­si­ti­on von An­fang an von Pu­bli­kum und Kri­tik er­kannt?

MARIE COR­NAZ: Ja, das Kon­zert war un­mit­tel­bar er­folg­reich. Das Pu­bli­kum kann­te ja be­reits Vieux­temps’ Ta­lent als Kom­po­nist von des­sen 4. Vio­lin­kon­zert her und wurde vom neuen Werk in die­ser Hin­sicht kei­nes­wegs ent­täuscht. Die Kri­ti­ker waren eben­so be­geis­tert, so­wohl nach den bei­den Brüs­se­ler Ur­auf­füh­run­gen (mit Kla­vier und mit Or­ches­ter) wie auch in an­de­ren Städ­ten wie Paris, wo der häu­fig sehr kri­ti­sche Hec­tor Ber­li­oz das 5. Vio­lin­kon­zert ge­ra­de­zu hym­nisch lobte.

Herr Iwa­zu­mi, in Ihrer Edi­ti­on wer­den Fin­ger­sät­ze und Strich­be­zeich­nun­gen aus den Quel­len bei­be­hal­ten und in einer se­pa­ra­ten Violin­stim­me als Basis für Ihre zu­sätz­li­chen Be­zeich­nun­gen ver­wen­det. Ist die Violin­tech­nik tat­säch­lich über 150 Jahre hin­weg un­ver­än­dert ge­blie­ben?

RAY IWA­ZU­MI: Eine fun­dier­te Dis­kus­si­on die­ser Frage würde zu einer Reihe wei­te­rer The­men und einer aus­führ­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung füh­ren. Um sie kurz zu fas­sen, würde ich die Ant­wort dar­auf be­schrän­ken, dass sich die für Vieux­temps’ a-moll-Kon­zert nö­ti­ge Violin­tech­nik si­cher­lich nicht so stark seit des­sen Ent­ste­hungs­zeit ver­än­dert hat. In Vieux­temps’ Kon­zert er­ge­ben sich die tech­ni­schen An­sprü­che aus den mu­si­ka­li­schen. Diese An­sprü­che sind in jedem Takt maß­geb­lich, waren zu ihrer Zeit un­zwei­fel­haft in­no­va­tiv und blei­ben un­er­läss­lich für jeden Vir­tuo­sen, der diese Art von Musik spie­len möch­te. Das ist einer der Grün­de, warum das Kon­zert – ab­ge­se­hen vom Ver­gnü­gen, das es uns auf­ge­führt und als Auf­nah­me bie­tet – zum Kern­re­per­toire in den Kon­ser­va­to­ri­en welt­weit ge­hört. Die Fin­ger­sät­ze und Strich­be­zeich­nun­gen er­ge­ben sich größ­ten­teils durch äs­the­ti­sche oder phy­si­sche Not­wen­dig­kei­ten. Die von Vieux­temps an­ge­bo­te­nen Fin­ger­sät­ze er­schei­nen eher spär­lich, lie­fern aber wich­ti­ge und groß­ar­ti­ge Hin­wei­se auf die „Ge­stal­tung“ der Musik. Und da diese Ge­stal­tung einen dau­er­haf­ten Wert der Kom­po­si­ti­on dar­stellt, be­hal­ten wir sie als Teil des Ur­texts bei. Meine zu­sätz­li­chen Fin­ger­sät­ze und Strich­be­zeich­nun­gen (in der be­zeich­ne­ten Stim­me) sol­len le­dig­lich hel­fen, den Spie­ler auf eine Art durch das Werk zu füh­ren, die Vieux­temps’ Emp­feh­lun­gen re­spek­tiert. Aber wir müs­sen ver­ste­hen, dass wir heute ein Maß an Klar­heit und Kraft beim Violin­spiel zu schät­zen ge­lernt haben, das wegen des tech­ni­schen Stands von In­stru­men­ten­bau und Sai­ten­pro­duk­ti­on zu Vieux­temps’ Leb­zei­ten nicht mög­lich oder, wie wir ver­mu­ten kön­nen, schlicht­weg we­ni­ger ge­fragt war.

Herr Iwa­zu­mi, wäh­rend der Vor­be­rei­tung zur Neue­di­ti­on konn­ten Sie eine bis­lang un­be­kann­te Be­ar­bei­tung der ers­ten Ka­denz aus Vieux­temps’ Kon­zert von der Hand sei­nes Schü­lers Eugène Ysaÿe ent­de­cken, die in der Hen­le-Neu­aus­ga­be im An­hang der be­zeich­ne­ten Violin­stim­me als Erst­aus­ga­be ge­druckt wird. Wie lässt sich diese Be­ar­bei­tung cha­rak­te­ri­sie­ren?

RAY IWA­ZU­MI: Ja, es war un­ge­mein auf­re­gend, ein voll­stän­di­ges Ar­beits­ma­nu­skript von Ysaÿes Be­ar­bei­tung der Ca­den­za Nr. 1 in­ner­halb einer Samm­lung mit sei­nen Skiz­zen und Pa­pie­ren in der Bi­blio­thek des Con­ser­va­toire royal von Lüt­tich zu fin­den! Und ich bin sehr dank­bar, dass wir sie in un­se­rer Edi­ti­on der Öf­fent­lich­keit vor­stel­len kön­nen. Um diese Be­ar­bei­tung knapp zu cha­rak­te­ri­sie­ren, scheint es mir am bes­ten, auf Carl Fleschs Be­ur­tei­lung zu­rück­zu­kom­men, der Ysaÿes Spiel von Vieux­temps mit sei­ner Be­weg­lich­keit und sei­nem Ru­ba­to als ideal ansah, auch wenn äl­te­re Hörer, die noch Vieux­temps’ Spiel kann­ten, mein­ten, dass Vieux­temps selbst nicht mit die­ser Art von Ru­ba­to spiel­te. Ich glau­be, Ysaÿes Be­ar­bei­tung von Vieux­temps’ Ka­denz kann als Bei­spiel gel­ten, die die­sen Un­ter­schied vor­führt. Die De­tails dar­zu­le­gen, was in Ysaÿes Be­ar­bei­tung den „Ysaÿe-Stil“ mit sei­nem ein­zig­ar­ti­gen An­satz von Frei­heit und Ru­ba­to aus­macht, würde eine fas­zi­nie­ren­de aus­führ­li­che Dis­kus­si­on an­sto­ßen, die wir uns für ein an­de­res Mal auf­he­ben müs­sen!

Erste Seite des Par­ti­tur­au­to­graphs

Frau Cor­naz, trotz sei­ner Be­deu­tung als Kom­po­nist gibt es für Vieux­temps bis­her weder ein kri­ti­sches Werk­ver­zeich­nis noch eine ver­läss­li­che Brie­fe­di­ti­on oder eine ak­tu­el­le Bio­gra­phie. Was sind die Grün­de dafür?

MARIE COR­NAZ: Bis 2011 war das Par­ti­tur­au­to­graph des 5. Vio­lin­kon­zerts zu­sam­men mit einer Reihe an­de­rer Ma­nu­skrip­te und Do­ku­men­te im Be­sitz von Vieux­temps’ Fa­mi­lie ver­blie­ben. Dem­entspre­chend war da­mals der Zu­gang zu wich­ti­gen Quel­len sehr schwie­rig. Seit­dem be­fin­det sich das Ma­te­ri­al in der Bi­bliothèque roya­le de Bel­gi­que in Brüs­sel als An­reiz für die For­schung über Vieux­temps. Das 67 Sei­ten um­fas­sen­de Par­ti­tur­au­to­graph, das heute in der Bi­bliothèque roya­le auf­be­wahrt wird, ist wahr­schein­lich das wich­tigs­te Stück un­se­rer Vieux­temps-Samm­lung, zumal Mu­sik­au­to­gra­phe von Vieux­temps heute sehr sel­ten sind. Aber die Bi­blio­thek be­sitzt auch eine Reihe von Skiz­zen, einen Teil der Kor­re­spon­denz (mehr als 500 Brie­fe) und ein wun­der­ba­res Album mit Ein­trä­gen von zeit­ge­nös­si­schen Kom­po­nis­ten und Mu­si­kern wie Pa­ga­ni­ni oder Men­dels­sohn, die Vieux­temps in sei­nen Ju­gend­jah­ren traf.

Ich danke Ihnen sehr für die­ses Ge­spräch.

Wer nun Lust be­kom­men hat, das Werk zu hören, dem sei die Auf­nah­me mit Shlo­mo Mintz und dem Sin­fo­nie­or­ches­ter des Süd­west­funks unter der Lei­tung von Myung-Whun Chung emp­foh­len.

 

 

 

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