Immer wieder dürfen wir neue Komponisten in unserem Henle-Katalog begrüßen. Wie unsere Leser sicher wissen, verlegen wir nur urheberrechtlich freie Musik; salopp gesagt: Der Komponist muss schon 70 Jahre tot sein, um es in unser Programm zu schaffen. Große Ereignisse dieser Art waren in letzter Zeit etwa die ersten Henle-Ausgaben von Werken Sergej Rachmaninows im Jahr 2014 oder, erst kürzlich, des Allegro barbaro von Béla Bartók (siehe dazu den Blogbeitrag meiner Kollegin Annette Oppermann).
2016 wird aber nicht nur Bartók „frei“. Anton Webern starb 1945, also im selben Jahr wie sein ungarischer Kollege, und kann daher im laufenden Jahr in den „blauen“ Henle-Katalog aufgenommen werden. Webern gehört zweifellos zu den wichtigsten Figuren in der Musik des 20. Jahrhunderts. Obwohl sein Oeuvre schmal und von einer fast schon legendären Kürze ist, war Weberns Einfluss auf die Entwicklung der Musik des 20. Jahrhunderts enorm. Ein zentrales Werk sind seine Variationen op. 27, die nun, herausgegeben von Ullrich Scheideler, im G. Henle Verlag erscheinen.
Ullrich Scheideler hat nicht nur die 1937 erschienene Erstausgabe und die reinschriftlichen Autographe und Abschriften – aus der Pierpont Morgan Library, New York – konsultiert, sondern auch das Skizzenmaterial aus der Webern-Sammlung in der Paul Sacher Stiftung, Basel, sowie einen Korrekturabzug zur Erstausgabe, der heute in der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, liegt. Dieser Quellenfundus dokumentiert die wichtigsten Werkstadien von der Skizze bis zur Erstausgabe, und Scheideler gelingt es auf dieser Grundlage, die Entstehung der Variationen detailliert aufzurollen. Unsere Ausgabe ist somit die erste Urtextausgabe, die dem Notentext eine entstehungsgeschichtliche Einordnung und einen ausführlichen kritischen Quellenapparat an die Seite stellt!
Als „Plus“ hat Ullrich Scheideler eine weitere Quellenschicht zu Rate gezogen. Es handelt sich um Exemplare des Erstdrucks, die verwendet wurden, als Webern seine Variationen mit verschiedenen Pianisten studierte. Zwei dieser Exemplare – von Peter Stadlen und Else Cross – sind überliefert; sie enthalten Eintragungen von Webern zur Agogik und zur Interpretation, die zwar höchst aufschlussreich, jedoch wohl individuell auf den jeweiligen Studenten zugeschnitten sind. Zur allgemeingültigen Werkgestalt gehören sie nicht. Sie sind daher im Vorwort zusammenfassend dokumentiert und gehen nicht in unsere Edition ein.
Weberns Musik ist bekannt für ihre strenge Organisation, und so nimmt es nicht Wunder, dass die Quellen diesen Willen zu Struktur und Ordnung widerzuspiegeln scheinen. Unter den drei New Yorker Manuskriptquellen, die inzwischen online einsehbar sind möchte ich hier die autographe Stichvorlage herausgreifen. Das Notat ist von einer erstaunlichen Präzision und Klarheit. Sie liegen richtig, wenn Sie vermuten, dass eine solche Handschrift so gut wie keine Fragen aufwirft. Nimmt man noch die minutiös von Webern korrigierte Erstausgabe hinzu, so ergibt sich das Bild eines Notentextes, der kaum Wünsche offen lässt. Editorisch also eine klare Sache, könnte man meinen. Und doch stießen wir bei der Vorbereitung der Ausgabe auf einen Widerspruch, der so gar nicht in unser Bild von Weberns Präzision passen mag.
Als Gesamtdauer gibt Webern in der Erstausgabe auf der letzten Notenseite „10 Min.“ an. Dieser Hinweis wurde offenbar erst kurz vor Drucklegung ergänzt, denn er fehlt in allen anderen Quellen, einschließlich des oben erwähnten Korrekturabzugs. Die Einzelsätze weisen im Druck keine Dauernangaben auf, doch geben einige der handschriftlichen Quellen für Satz I „3 ½ Min.“ an und für Satz II „1 Min.“. Kaum zu bezweifeln ist, dass diese Zeitangaben auf den Komponisten selbst zurückgehen.
Erstaunlich, aber wahr: Alle drei Dauernangaben sind offenbar falsch! Orientiert man sich an den sicher verbindlichen Metronomzahlen, dauert Satz I zwischen 1.30–2 Min., Satz II etwa 30 Sek. Für das gesamte Werk sind knapp 6 Minuten anzusetzen.
Falsche Angaben der Gesamtdauer kennt man auch von anderen Werken Weberns (Moldenhauer nennt in seinem grundlegenden Werk Anton von Webern: Chronik seines Lebens und Werke, Zürich etc. 1980, S. 294, außerdem Opus 5 und Opus 10). Der Grund für diese Diskrepanz bleibt ein Rätsel. Haben Sie eine Idee?
Der oben erwähnte Peter Stadlen, sicher ein Garant für eine authentische Aufführung, spielte Weberns Variationen übrigens bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik 1948 in 5.48 Min.; Glenn Gould brauchte in seiner Aufnahme nur rekordverdächtige 5.12 Min.
Auf die Divergenz zwischen Metronomzahlen und Aufführungsdauer bei Webers op. 27 hinzuweisen ist verdienstvoll. Die Aufführungsdauer um nahezu die Hälfte nach unten zu korrigieren ist allerdings nur eine von zwei legitimen Möglichkeiten: man könnte auch von irreführenden Metronomangaben und Nichtberücksichtigung der (in der Druckversion nicht enthaltenen, aber aus dem musikalischen Duktus hervorgehenden) rhetorischen Temposchwankungen ausgehen. Hilfreich wäre die Angabe der Quelle für die Stadlen’sche Aufführungsdauer (Darmstadt, 1948): Gibt es einen Mitschnitt? Die Gould’sche Aufführungsdauer als Beleg heranzuziehen erscheint mir nicht statthaft. (vgl. Anton Webern: “Eine hohe Note, eine tiefe Note, eine Note in der Mitte – wie die Musik eines Verrückten!”) Viel eher sollten die Interpretationstradition der 2. Wiener Schule und des Widmungsträgers Eduard Steuermann bedacht werden.
Sehr geehrter Herr Voigt,
herzlichen Dank für Ihre Gedanken dazu. Die Stadlen-Einspielung ist erschienen in einer CD-Box “50 Jahre Neue Musik in Darmstadt. Unveröffentlichte Aufnahmen aus dem Archiv des IMD” (4 CDs). Col legno 1996, WWE 4CD 31893. Diese Aufnahme kann sicher als Referenz gelten. Das Studien-Exemplar von Stadlen, mit Eintragungen von Webern, ist übrigens bei UE erschienen (https://www.universaledition.com/noten-und-mehr/variationen-fuer-klavier-webern-anton-ue16845). Steuermann hat das Werk übrigens nie in der Öffentlichkeit gespielt.
Mit freundlichen Grüßen,
Norbert Müllemann
Grundsätzlich glaube ich, dass selbst eine vom Komponisten angegebene Zeitdauer nie absolut, sondern immer nur relativ zu sehen ist und von Raum, Akustik und Instrument abhängt. Das gilt auch für die Metronomangaben. Man wird ein und dasselbe Stück. wenn man es in zwei verschiedenen Räumen spielt, unter Umständen in ziemlich verschiedenem Tempo spielen müssen, damit für den Zuhörer der Eindruck des gleichen Tempos entsteht…