Manchem Urtext-Enthusiasten wird schon im Jahr 2014 aufgefallen sein, dass der G. Henle Verlag nun auch die „Vor-Bachische“ Zeit erkundet. In jenem Jahr erschien eine Edition sämtlicher Werke für Tasteninstrument von Johann Kuhnau. Zugegebenermaßen ist Kuhnau nicht allzu weit entfernt von Bach: Er war nur 25 Jahre älter als jener und war zudem sein Vorgänger im Amt des Leipziger Thomaskantors.
Nun jedoch wagen wir uns weiter zurück in der Musikgeschichte und legen zu Johann Jacob Frobergers 400. Geburtstag eine Sammlung mit ausgewählten Werken für Tasteninstrument vor. Froberger (1616–1667) war für die Entwicklung der „Clavier“-Musik und insbesondere der Gattung der Suite von zentraler Bedeutung. Er genießt bis heute einen legendären Ruf, obwohl (oder gerade weil?) wir über seine Biographie nur wenig wissen. In Stuttgart geboren, wurde er am Hof in Wien ausgebildet. Froberger unternahm diverse Reisen in europäische Musikzentren, seine wichtigste Wirkungsstätte sollte aber der Wiener Hof zur Zeit Ferdinands III. werden. Ihm, dem Kaiser, widmete er jene zwei autographen Prachthandschriften, die „Libro Secondo“ (1649) und „Libro Quarto“ (1654) betitelt sind. Zwar sind noch zwei weitere autographe Sammlungen überliefert (eine tauchte erst 2006 auf!), von einem „Libro Primo“ bzw. „Terzo“ fehlt jedoch jede Spur. Ein weiterer Faktor, der das Geheimnisvolle um Froberger und sein Werk verstärkt.
Unsere Froberger-Auswahl stützt sich ausschließlich auf das „Libro Secondo“ von 1649 und bringt jeweils ein Beispiel für jede der dort gesammelten Gattungen: eine Toccata, Fantasia und Canzon sowie die als Variationszyklus angelegte Suite „auff die Mayerin“. Glücklicherweise kann sich heutzutage jeder Interessierte selbst ein Bild von der autographen Quelle machen, denn die Österreichische Nationalbibliothek stellt auf ihrer Website Farbscans des „Libro Secondo“ zur Verfügung. Das prächtig gestaltete Titelblatt und die Kopftitel mit Schmuck-Initialen stammen zwar nicht von Froberger, sondern von einem Illustrator; den Notentext hingegen schrieb der Komponist selbst in bewundernswert kalligraphischer Klarheit nieder. Ein wahres Fest für die Augen!
Ein Fest auch für Editoren – davon durfte ich mich als Lektor unseres Herausgebers und ausgewiesenen Froberger-Spezialisten Peter Wollny überzeugen. Das Autograph Frobergers ist so gut wie fehlerfrei und stets bestens zu lesen. Lesarten-Probleme, mit denen wir in unserem Urtext-Alltag dauernd zu kämpfen haben, lässt eine solche Quelle gar nicht erst aufkommen. Eine leichte Übung, könnte man meinen.
Dass die Froberger-Geburtstagsausgabe dennoch einer Urtext-Kommentierung bedarf, liegt vor allem an der enormen zeitlichen Distanz von 400 Jahren, die es für eine moderne Edition zu überbrücken gilt. Denn Frobergers autographe Notation weicht gravierend von unseren heutigen Gepflogenheiten ab. Zur Veranschaulichung unten zwei Beispiele: Der Beginn der in unserer Ausgabe enthaltenen Toccata und Fantasia, jeweils in der Notation der Quelle und gemäß unserer Urtextausgabe.
Die Unterschiede fallen schnell ins Auge. In der Toccata notiert Froberger im oberen System auf sechs und im unteren auf sieben Linien. Die Fantasia verwendet zwar 5-Linien-Systeme, wird aber in Partitur notiert, d.h., jede der vier Stimmen bekommt ein eigenes System. Auch die Schlüsselung unterscheidet sich in der Quelle vom modernen Klaviersatz. Zudem schreibt Froberger im Autograph zwar jeweils eine Taktangabe vor, setzt jedoch die Taktstriche ziemlich unregelmäßig (siehe vor allem den Beginn der Toccata).
Spezialisten für Alte Musik sind in dieser Notation vermutlich so „zu Hause“, dass sie aus einem Froberger-Autograph problemlos musizieren können. Klassisch ausgebildeten Pianisten wird das jedoch nur schwer gelingen. Wir möchten mit unserem Auswahlband aber auch diejenigen Musiker ansprechen, die sich Frobergers Klangwelt auf dem modernen Klavier erschließen wollen. Das Ziel unserer Edition war daher, zwischen dem 17. und dem 21. Jahrhundert zu vermitteln. Peter Wollny formuliert das in seinem Vorwort so: „Die vorliegende Edition versucht, die Eigenheiten der Notation des Autographs beizubehalten, soweit diese die Lesbarkeit nicht beeinträchtigen und sich mit der modernen Klaviernotation vereinbaren lassen.“
Konkret heißt das: Notensysteme, Schlüsselung und Vorzeichensetzung werden der heute üblichen Notation angepasst. Die Setzung von Taktstrichen hingegen ist heikler. Es ist zu vermuten, dass die „fehlenden“ Taktstriche bei Froberger kein Versehen sind, sondern größere metrische Einheiten sichtbar zusammenfassen sollen. Diese Information sollte in einer modernen Edition keinesfalls verloren gehen. Wir haben daher Abstand davon genommen, normierte, moderne Taktstriche gemäß Taktvorgabe zu setzen. Um aber dennoch Orientierungshilfen zu bieten, fügt unsere Ausgabe kurze Striche jeweils in die Systeme ein, sogenannte „Mensurstriche“:
Als Kostprobe aus unserer Geburtstagsausgabe sei Ihnen folgende Aufnahme der „Mayerin“ empfohlen, das vielleicht beliebteste Werk Frobergers.