Die Frage warum von Zeit zu Zeit Ausgaben des Henle-Katalogs als Revisionen neu herausgegeben werden, wurde bereits in einem früheren Blogbeitrag behandelt. Daran anknüpfend, möchte ich heute einen besonderen Fall vorstellen, nämlich die in Kürze erscheinende Revision von César Francks berühmter Violinsonate.
Francks Meisterwerk erschien erstmals bei Henle als HN 293 im Jahre 1975, also vor mehr als vierzig Jahren. Die Basis der damaligen Edition bildeten zwei Quellen: das (vermeintlich einzige) Autograph sowie die Erstausgabe, die noch nicht (wie heute üblich) nach Partitur und separater Violinstimme getrennt behandelt wurde.
Die Herausgeberin Monica Steegmann begann ihr Vorwort mit dem Satz: „Dieser Ausgabe konnte als Hauptquelle das Autograph zugrunde gelegt werden“. In der Formulierung schwingt mit, was damals bei kritischen Ausgaben allgemeiner Konsens war: Wenn das Autograph zur Verfügung steht und sich keine weiteren Quellen (Korrekturfahnen) oder Dokumente (Verlagsbriefwechsel) zur Drucklegung erhalten haben, ist diese eigenhändige Niederschrift gleichwertig mit der Erstausgabe, wenn nicht gar höherwertig.
Diese Hochschätzung des Autographs – auch wenn es nicht als Stichvorlage diente – wird umso verständlicher, als es sich einerseits um eine vollständige Reinschrift handelt und andererseits 1975 noch grundlegende Forschungen zu Franck ausstanden. Es gab weder konkrete Studien zum Schaffensprozess noch ein verlässliches Werkverzeichnis oder eine gedruckte Briefausgabe. Kurzum: Die Informationen über Entstehung und Drucklegung zur Violinsonate waren mehr als lückenhaft. Entsprechend knapp fielen das Vorwort und die Bemerkungen aus, die sich auf einige wesentliche Stellen beschränkten, in denen Schreibfehler im Autograph vermutet wurden.
In der 1993 erschienenen Auflage F entschloss sich die Herausgeberin zu einer Überarbeitung der Edition, die bereits im Innentitel als „Neue verbesserte Ausgabe“ angekündigt wurde. Den Anlass dazu bot – wie es im Vorwort hieß – „ein erst kürzlich zugänglich gewordenes autographes Arbeitsmanuskript des Komponisten“ (ehemals Sammlung Wertitsch, heute in Privatbesitz). Durch die erweitere Quellenbasis ergaben sich neben geänderten und ergänzten Bemerkungen auch einige Änderungen im Notentext. So wurde nun in Takt 22 des dritten Satzes „Recitativo-Fantasia“ die nur in diesem Arbeitsmanuskript enthaltene Rückkehr zum Eingangstempo a tempo Moderato hinzugefügt, zugleich aber in einer Fußnote zu Beginn dieses Satzes auf die abweichenden Bezeichnungen zwischen den beiden Autographen (Moderato) und der Erstausgabe (Ben moderato) hingewiesen.
Nach langwierigen Vorbereitungen erschienen 1999 zwei Meilensteine der Franck-Forschung, für die der französische Franck-Spezialist Joël-Marie Fauquet verantwortlich zeichnet: eine lang erwartete, umfangreiche Biographie und die nicht weniger sehnlich erwartete Edition der gesamten erhaltenen Korrespondenz. Die Fülle der dort enthaltenen neuen Erkenntnisse haben für Francks Sonate vor allem zwei Konsequenzen. Zum einen geht aus einem dort erstmals veröffentlichten Brief Francks eindeutig hervor, dass die kurz nach der Originalfassung publizierte Cellofassung von Jules Delsart mit Zustimmung des Komponisten angefertigt wurde, was demnach eine Urtext-Ausgabe dieser Fassung legitimiert (HN 570). Zum anderen belegt ein Brief an seinen Verleger Julien Hamelle, dass der Erstausgabe der originalen Violinfassung ein anderer Stellenwert als bisher eingeräumt werden muss. In diesem Brief vom 9. Februar 1887 schreibt Franck:
„Ich sende Ihnen hiermit die Violinstimme meiner Sonate zurück, eine weitere Fahne ist nicht mehr nötig. Die kleinen Fehler müssen mit Sorgfalt korrigiert werden und dann kann gedruckt werden. […]“
Offensichtlich wurden Partitur und Solostimme dem Komponisten getrennt zur Korrekturlesung zugeschickt, was die nicht unerheblichen Abweichungen zwischen der separaten Violinstimme und der überlegten Stimme der Klavierpartitur in der Erstausgabe erklärt. Vermutlich ließ Franck einen Geiger den Violinpart durchsehen, ohne jedoch dafür zu sorgen, dass die nachträglichen Änderungen und Ergänzungen in die Violinstimme der Partitur übernommen wurden. Neben dem Widmungsträger Eugène Ysaÿe kommt für die Durchsicht auch Armand Parent in Frage, der nachweislich bereits das am 15. September 1886 beendete Arbeitsmanuskript der Sonate durchgespielt hatte. Wie dem auch sei, mit der Kenntnis dieses Briefes besteht kein Zweifel, dass die Erstausgabe – und zwar nicht nur die Partitur, sondern auch die separate Violinstimme, die sich am stärksten von der autographen Reinschrift unterscheidet – vom Komponisten für den Druck aktiv autorisiert wurde.
Dementsprechend werden der nun als HN 1351 erscheinenden aktuellen Revision nicht mehr die beiden autographen Quellen, sondern die beiden Teile der Erstausgabe (Partitur und Solostimme) als Hauptquelle zu Grunde gelegt. Wie unterscheidet sich nun aber, sieht man vom neuen Fingersatz der Klavierstimme von Klaus Schilde einmal ab, die neue Henle-Edition von der alten?
Ein erster Punkt betrifft die Worttexte, die sich beträchtlich ausgeweitet haben, da sich durch die neu zugänglichen Fakten Komposition und Drucklegung sehr viel genauer dokumentieren lassen. Beim Notentext selbst geht es weniger um falsche Noten – hier hatte die alte Ausgabe bereits bei vermuteten Versehen in Francks Handschriften auf die Erstausgabe als verlässlichere Quelle zurückgegriffen –, als um eine Fülle von Details, die in ihrer Summe der Edition ein „neues“ Gesicht verleihen.
So stehen die beiden Tempoänderungen im ersten und dritten Satz (I: Allegretto moderato zu Allegretto ben moderato sowie, wie bereits erwähnt, III: Moderato zu Ben moderato), die wahrscheinlich auf den Eindruck der Uraufführung vom 16. Dezember 1886 zurückgehen, nun selbstverständlich im Haupttext. Noch markanter springen die zahlreichen Zusätze für die Violinstimme ins Auge, insbesondere hinsichtlich Artikulation und Bogensetzung, wie beispielsweise am Ende des ersten Satzes:
Mit dem Wechsel der Hauptquelle ist auch die in der alten Ausgabe anhand der autographen Quellen entwickelte These zu relativieren, Franck habe ein Phrasierungsprinzip in Abhängigkeit von der Dynamik verfolgt – unterschiedliche Bogensetzung zu gleichen Motiven an analogen Stellen: im Piano eher mit, im Forte eher ohne Bögen. Vielmehr scheint es, als ob der Komponist sich bemüht habe, in der nicht erhaltenen Stichvorlage oder in den ebenso verschollenen Fahnen die in den Handschriften durch Nachlässigkeit fehlenden Bögen nachzutragen oder Unterschiede anzugleichen. Dass er dabei nicht konsequent vorging und insbesondere bei Parallelstellen unterschiedliche Phrasierungen beließ, steht auf einem anderen Blatt.
Als 1975 niemand Geringeres als Yehudi Menuhin (1916–99) die Aufgabe übernahm, die Geigenstimme für HN 293 zu bezeichnen, tat er dies auf der Grundlage der am Autograph orientierten Ausgabe. Gleichsam instinktsicher ergänzte er eine Reihe von Bögen, machte also einen Schritt hin zu der – wie sich später herausstellte – vollkommen gerechtfertigten Höherbewertung der Erstausgabe. Um die verbleibenden Lücken zu schließen, die sich aus dem geänderten Editionskonzept ergeben, konnten wir für die Revision Menuhins Meisterschüler Daniel Hope gewinnen, der mit seinem Lehrer die Franck-Sonate über mehrere Jahre hinweg einstudieren durfte und daher wie kein anderer die notwendige Anpassung vornehmen konnte. Hinzu kamen daher nun auch alternative Bezeichnungen, die in der Edition kursiv unter dem System erscheinen. Sie entsprechen Menuhins charakteristischer Vorgehensweise, bestimmte Passagen auf unterschiedliche Weise zu gestalten, wie nachfolgendes Beispiel aus dem Ende des dritten Satzes zeigt:
Freuen Sie sich also auf eine revidierte Ausgabe auf der Höhe der Zeit!
Bei den Henle-Ausgaben, die so gut sind, dass es kaum einen Klassiker gibt, der nicht in dieser Ausgabe einstudiert wird, überrascht die geringe Sorgfalt hinsichtlich der Fingersätze in manchen Stücken. Die Franck-Sonate ist eines dieser Werke. Hier hat der Herausgeber sicher nicht gut daran getan, einen Bearbeiter zu wählen, der an der Schwelle seines 9. Jahrzehnts stand und nicht von der Orgel kam. Ich möchte Prof. Schilde nicht zu nahe treten, zumal er gerade gestorben ist. Allerdings weisen seine Fingersätze alle Sätze hindurch deutliche Mängel auf, vor allem dort, wo es heikel wird. Zumindest für größere Hände, wie auch Franck sie hatte, hätten vielmehr Läufe und Akkorde auf 2 Hände verteilt werden müssen. Im 1. Satz kann die linke Hand zusätzlich in den Takten 2-4, 27, 35 aushelfen, die rechte in den Takten 23, 37, 38, 47, 49, 77, 81. Im 2. Satz kann die linke Hand zusätzlich in den Takten 28, 29, 145, 152, 153 Noten abnehmen, die rechte in den Takten 11, 12, 21, 30, 31, 102, 103, 154, 155. Im 3. Satz kann die linke Hand schon in den ersten beiden Takten bequem aushelfen. Stellen wie T. 126 im 2. Satz zeigen, dass das Werk erstmal ohne Pedal einzuüben ist, das Pedal kommt sparsam überall dazu, wenn die Finger einstudiert sind. So hat es Franck als von der Orgel kommend sicher ebenso gehandhabt, und vieles wird erst mit dem Verteilen auf 2 Hände schlüssig, auch und insbesondere im letzten Satz. Nicht ganz klar ist mir nur der Hinweis auf die linke Hand auf dem 2. Achtel von T. 127 des 2. Satzes. Offenbar bezieht sich der Hinweis auf das 3. Achtel (d), das man aber auch gut mit der rechten Hand spielen kann. Und wenn schon mit der linken Hand, dann wird man das 4. Achtel auch mit m.g. spielen. Ich meine, es kann nicht schaden, Vorschläge für solch technische Fragen in die Bemerkungen mit aufzunehmen.
Aus Sicht des Ausübenden wäre es auch ganz schön, wenn sich der Henle-Verlag dazu durchringen könnte, die Staccato-Punkte etwas größer zu drucken. Das gilt vielleicht nicht so sehr für den Franck, unbedingt aber für alles von Brahms.
Auch wenn der Verlag in puncto Fingersätze auf die Herausgeberverantwortlichkeit hinweist, aber außen steht Henle und so sollte Henle auch drin sein. Den Pianisten erspart dies stundenlange Kleinarbeit nach dem Trial-and-error-Verfahren.
Sehr geehrter Herr Bruns,
besten Dank für Ihre Kritik. Die Fingersätze für Klavier oder Streichinstrumente verstehen sich als unverbindliche Vorschläge, und uns ist vollkommen klar, dass wir es dabei nicht jedem recht machen können – dies betrifft sowohl die individuelle Handgröße wie auch das Maß des Bezeichnens (dazu erhalten wir immer wieder Zuschriften). Prof. Schilde war jemand, der Ziffern für den Fingersatz wie Häkchen für die Handverteilung insgesamt eher zurückhaltend einsetzte – selbstverständliche Dinge (wie z. B. die Hilfe der linken Hand in Satz 1, T. 2-4) hat er in der Regel nicht extra gekennzeichnet. Das kann man kritisch sehen, aber auch als angemessen beurteilen.
Ich persönlich finde, dass Herr Schilde in der Violinsonate durchaus im Geiste Francks gehandelt hat, denn es erscheint mir charakteristisch, dass der Komponist, immerhin ja ausgebildeter Klaviervirtuose, selbst nur in sehr wenigen Passagen Fingersätze notierte und sogar nur an einer einzigen Stelle (Satz II, T. 126, 127) “m.d.” bzw. “m.g.” zur Hand-Kennzeichnung vorgab – also sich bemühte, nicht allzu viel förmlich “vorzuschreiben”. Aber mir ist natürlich bewusst, dass man dies auch anders sehen kann.
Mit freundlichen Grüßen
Peter Jost
Lieber Herr Jost,
ich schätze Ihren Sammelband zu Franck, der auch einen Beitrag zur Violinsonate enthält. Allerdings darf ich Sie bitten, sich bei Stellungnahmen zu spieltechnischen Details des Klavierparts zurückzuhalten. Die Schilde-Fingersätze sind einfach schlecht. Es ist auch ein nicht ausrottbarer Irrglaube, dass Fingersätze nur geringe Bedeutung haben, weil sie auf den Spieler angepasst werden müssten (“nicht jedem recht machen können”). Gern lasse ich Ihnen meine Ausgabe mit guten Fingersätzen zukommen, die Franck wohl auch genauso gebraucht hat. Ich habe nicht nur Klavier, sondern auch Orgel studiert und behaupte, diesen Transfer leisten zu können. Ich gehe auch davon aus, dass Franck in seine Ausgabe genaue Fingersätze notiert hat. Vermutlich hat einer der Söhne von Franck die Ausgabe Cortot geschenkt, da müsste man mal nachforschen. Hinsicht des von Ihnen angesprochenen Maßes des Bezeichnens habe ich nur den Rat, sich um die Stelle im Satz II, T. 127 zu kümmern. Sie können mich auch gern persönlich kontaktieren unter dr.bruns@gmx.de.