Das 19. Jahr­hun­dert ist reich an Künst­ler­freund­schaf­ten. Die­je­ni­ge zwi­schen Franz Liszt und Ri­chard Wag­ner hebt sich nicht nur durch die Be­deu­tung ihres mu­si­ka­li­schen Schaf­fens, ihre kom­ple­xen per­sön­li­chen Be­zie­hun­gen, son­dern auch durch ein mar­kan­tes Un­gleich­ge­wicht be­züg­lich Geben und Neh­men her­vor. Poin­tiert ge­sagt: Der eine, Liszt, be­wun­der­te, der an­de­re, Wag­ner, ließ sich be­wun­dern. Liszts Ein­satz für Wag­ners Opern und Mu­sik­dra­men, für die er vor­be­halt­lo­se Be­geis­te­rung emp­fand, kann­te keine Gren­zen, wäh­rend Wag­ner Liszts Werke, von den Sym­pho­ni­schen Dich­tun­gen ab­ge­se­hen, kaum zur Kennt­nis nahm und al­len­falls aus Dank­bar­keit für die ihm zu­teil ge­wor­de­ne Hilfe lo­bend an­er­kann­te.

Il­lus­tra­ti­on: Aline Bu­reau

So nimmt es nicht Wun­der, dass unter Liszts rund 70 Opern­tran­skrip­tio­nen (über­wie­gend für Kla­vier solo) Wag­ners Büh­nen­wer­ke mit ins­ge­samt 19 Ar­ran­ge­ments brei­ten Raum ein­neh­men. Die be­reits im Hen­le-Ka­ta­log vor­lie­gen­den Liszt-Be­ar­bei­tun­gen zum „Spin­ner­lied“ aus Der flie­gen­de Hol­län­der (HN 585) und zu „Isol­dens Lie­bes­tod“ aus Tris­tan und Isol­de (HN 558) wer­den dem­nächst durch die Kon­zert­pa­ra­phra­se der Ou­ver­tü­re zu Tann­häu­ser (HN 1066) er­wei­tert.

Titel der Erst­aus­ga­be der Par­ti­tur von Wag­ners Tann­häu­ser

Bei der Quel­len­be­schaf­fung für diese Liszt-Be­ar­bei­tung (R 275, S 442) trat bald ein Pro­blem ins Blick­feld, mit dem ich nicht ge­rech­net hatte. Ver­steht sich, dass wir Lek­to­ren um dem Be­griff „Ur­text“ ge­recht zu wer­den, Ein­blick in alle ver­füg­ba­ren Quel­len neh­men müs­sen, wobei neben dem Au­to­graph der Erst­aus­ga­be – als in der Regel au­to­ri­sier­ter Ver­öf­fent­li­chung – be­son­de­re Be­deu­tung zu­kommt. In allen gän­gi­gen Le­xi­ka und Liszt-Bio­gra­phi­en wird als Erst­aus­ga­be „Dres­den, 1849 bei C. F. Meser“ an­ge­ge­ben. Da­tie­rung und Ver­lag er­schie­nen mir auf den ers­ten Blick plau­si­bel, denn in sei­nem Brief vom 26. Fe­bru­ar 1849, kurz nach der er­folg­rei­chen Pre­mie­re des Tann­häu­ser in Wei­mar unter sei­ner Lei­tung, be­rich­te­te Liszt dem Freund wie folgt von sei­nen Be­ar­bei­tun­gen der Ou­ver­tü­re sowie des so­ge­nann­ten „Lieds an den Abend­stern“:

„Wis­sen Sie, was mir ein­ge­fal­len ist? Nicht mehr und nicht we­ni­ger als mir auf meine Art   und für das Kla­vier die Tann­häu­ser-Ou­ver­tü­re und die ganze Szene: ,O du mein hol­der Abend­stern‘ aus dem drit­ten Akt an­zu­eig­nen. – Was die ers­te­re an­geht, glau­be ich, dass sich we­ni­ge Spie­ler fin­den wer­den, wel­che ihre tech­ni­sche Schwie­rig­keit meis­tern, aber die Szene des ,Abend­stern‘ würde leicht den Pia­nis­ten zwei­ten Ran­ges zu­gäng­lich sein. Wenn Sie ein­ver­stan­den sind, sie Meser zum Druck an­zu­bie­ten, oder wenn Sie mir er­lau­ben, dar­über für Här­tel oder Schle­sin­ger zu ver­fü­gen, so würde es mich freu­en, diese Stü­cke bald ver­öf­fent­licht zu sehen.“ (im Ori­gi­nal auf Fran­zö­sisch)

Da Liszt als Mo­ti­va­ti­on für die bei­den Kom­po­si­tio­nen die per­sön­li­che An­eig­nung zu sei­nem ei­ge­nen bes­se­ren Ver­ständ­nis nennt, darf man ver­mu­ten, dass die Be­ar­bei­tung der Ou­ver­tü­re be­reits vor der Se­pa­rat­auf­füh­rung die­ses Stücks in Wei­mar am 12. No­vem­ber 1848 ent­stan­den ist, die­je­ni­ge zum „Abend­stern“ ent­spre­chend kurz vor oder wäh­rend den Pro­ben zur Oper im Ja­nu­ar/Fe­bru­ar 1849. Für uns von In­ter­es­se ist vor allem der letz­te Satz des Zi­tats. Liszt brach­te ja hier nicht nur den Dresd­ner Mu­si­ka­li­en­händ­ler und Ver­le­ger Carl Fried­rich Meser ins Spiel, bei dem die Ori­gi­nal­par­ti­tur von Wag­ners Tann­häu­ser in Kom­mis­si­on ver­trie­ben wurde und zahl­rei­che an­de­re Ein­zel­aus­ga­ben und Ar­ran­ge­ments der Oper er­schie­nen waren, son­dern un­ter­strich vor allem auch sei­nen aus­drück­li­chen Wil­len zur bal­di­gen Ver­öf­fent­li­chung. Doch die welt­wei­te Suche nach einem Ex­em­plar die­ser Aus­ga­be blieb er­geb­nis­los. Fin­den konn­te ich da­ge­gen in zahl­rei­chen Bi­blio­the­ken Aus­ga­ben mit dem Zu­satz „(Herm. Mül­ler)“ unter dem Ver­lags­im­pres­sum.

Ti­tel­blatt der Aus­ga­be von 1867

Da Her­mann Mül­ler nach dem Tod Carl Fried­rich Me­sers 1856 des­sen Ge­schäft über­nahm und dabei neu er­schie­ne­ne Aus­ga­ben mit eben die­sem Zu­satz ver­sah, konn­ten diese Aus­ga­ben folg­lich nicht von 1849 stam­men. Die Suche im so­ge­nann­ten „Hof­meis­ter-Ver­zeich­nis“ (eine mo­nat­lich her­aus­ge­ge­be­ne Liste der neu er­schie­ne­nen Mu­si­ka­li­en im deutsch­spra­chi­gen Raum) ergab für diese Me­ser-Mül­ler-Edi­ti­on das Datum „Ok­to­ber 1867“, was auch mit der von Mül­ler wei­ter ge­führ­ten Plat­ten­num­mer 832 über­ein­stimm­te (für 1849 wäre eine Plat­ten­num­mer ca. 400–450 zu er­war­ten). Nun ist es kei­nes­wegs un­denk­bar, dass sich für eine Kom­po­si­ti­on keine Ex­em­pla­re der Erst­aus­ga­be, son­dern nur spä­te­re Nach­dru­cke fin­den las­sen. Im vor­lie­gen­den Fall aber war es schon sehr un­ge­wöhn­lich, denn in aller Regel wird man für Liszts Kla­vier­wer­ke ent­we­der in den Liszt-Nach­läs­sen von Wei­mar (Goe­the-Schil­ler-Ar­chiv) und Bu­da­pest (Franz-Liszt-Mu­sik­aka­de­mie) oder im Nach­lass der Liszt-Schü­le­rin Ruth Dana in New York (The Juil­li­ard School) fün­dig, aber auch hier gab es nur Ex­em­pla­re der Aus­ga­be von 1867.

Je mehr ich mich in das Thema hin­ein­ar­bei­te­te, desto skep­ti­scher wurde ich ge­gen­über dem Ein­trag „C.F. Meser, 1849“. Be­reits die aus­drück­li­che An­ga­be „Ma­nu­skript“ (im Sinne von: „aus dem Ma­nu­skript vor­ge­tra­gen“) im Pro­gramm­zet­tel der mut­maß­li­chen Ur­auf­füh­rung am 25. Fe­bru­ar 1851 in Zü­rich durch den Liszt-Schü­ler Hans von Bülow, dem die Kom­po­si­ti­on im Au­to­graph ge­wid­met ist, war ein nicht zu lö­sen­der Wi­der­spruch. Warum soll­te Bülow aus einer Hand­schrift (ge­meint ist eine heute ver­schol­le­ne Ab­schrift des Au­to­graphs) spie­len, wenn seit min­des­tens an­dert­halb Jah­ren eine Druck­aus­ga­be zur Ver­fü­gung stand? Den end­gül­ti­gen Be­weis dafür, dass die Erst­aus­ga­be tat­säch­lich erst 1867 er­schien, lie­fer­ten dann die Brief­wech­sel Liszts mit Bülow sowie mit dem Ver­lag Breit­kopf & Här­tel. Zwi­schen 1849 und 1860 ist von der Be­ar­bei­tung der Tann­häu­ser-Ou­ver­tü­re keine Rede; of­fen­bar woll­te Liszt Bülow zu­nächst das Ex­klu­siv­recht zur Auf­füh­rung über­las­sen. Am 30. No­vem­ber 1860 aber kam Liszt ge­gen­über Bülow auf eine Ver­öf­fent­li­chung zu spre­chen. Er merk­te an, dass Mül­ler die Ab­sicht habe, seine Be­ar­bei­tung der Tann­häu­ser-Ou­ver­tü­re her­aus­zu­ge­ben. Zu einem Ver­trags­ab­schluss kam es aber zu die­sem Zeit­punkt trotz­dem nicht, ver­mut­lich des­halb, weil Bülow seine ei­ge­nen Er­fah­run­gen mit die­sem Ver­le­ger in dunk­len Far­ben malte, denn er be­zeich­ne­te Mül­ler als „einen der nie­der­träch­tigs­ten Spitz­bu­ben“ (im fran­zö­si­schen Ori­gi­nal: „l’un des plus infâmes fi­lous“). Ein Jahr spä­ter ver­such­te Liszt die Kom­po­si­ti­on bei Breit­kopf & Här­tel un­ter­zu­brin­gen – je­doch ohne Er­folg. Als Ende 1866 auch ein wei­te­rer Ver­such beim Leip­zi­ger Ver­lag Carl Fried­rich Wil­helm Sie­gel schei­ter­te, griff Liszt of­fen­bar wie­der zum alten An­ge­bot Mül­lers zu­rück.

Ich brauch­te also nicht län­ger einem Phan­tom nach­zu­ja­gen. Bleibt die Frage, wie es zu die­ser fal­schen Da­tie­rung „1849“ kam. Sie dürf­te auf Lina Ra­manns chro­no­lo­gi­sches Werk­ver­zeich­nis im 2. Band ihrer Liszt-Bio­gra­phie (1894) zu­rück­ge­hen (vor dem Werk­ti­tel Kom­po­si­ti­ons­jahr, da­nach Er­schei­nungs­jahr):

Die Liszt-For­schung ist die­ser Falsch­da­tie­rung bis heute un­ge­prüft ge­folgt – wobei eine mög­li­che Er­klä­rung in der nach wie vor feh­len­den Ge­samt­aus­ga­be der Liszt-Kor­re­spon­denz liegt, deren Ein­zel­tei­le auch von Ex­per­ten kaum zu über­bli­cken sind. In un­se­rer Neu­aus­ga­be wer­den nun als Kom­po­si­ti­ons­jahr 1848 und als Er­schei­nungs­jahr 1867 an­ge­ge­ben:

 

 

 

 

 

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