Ein Werk Beet­ho­vens nur auf der Basis eines Erst­drucks zu edie­ren, stellt jeden Her­aus­ge­ber einer wis­sen­schaft­li­chen Aus­ga­be vor große Her­aus­for­de­run­gen. Der No­ten­text der Kom­po­si­ti­on steht dann nur in einem mehr oder we­ni­ger feh­ler­be­haf­te­ten Zu­stand für die Edi­ti­on zur Ver­fü­gung. Ist das Au­to­graph über­lie­fert, und viel­leicht noch wei­te­re hand­schrift­li­che Quel­len vor­han­den – z.B. die Stich­vor­la­gen für den Erst­druck, die der Kom­po­nist selbst über­prüft hat –, so kann man dem Ziel eines ge­si­cher­ten No­ten­tex­tes einen deut­li­chen Schritt näher kom­men. Aber lei­der, lei­der ist die Si­tua­ti­on für die Kla­vier­so­na­ten Beet­ho­vens nicht ge­ra­de rosig.

Hier kommt eine aus­sa­ge­kräf­ti­ge Ta­bel­le, die ich im Fol­gen­den näher er­läu­tern möch­te:

In die­ser Ta­bel­le sind alle über­lie­fer­ten So­na­ten und So­na­ti­nen für Kla­vier von Beet­ho­ven in der Rei­hen­fol­ge ihres Ent­ste­hens auf­ge­führt.

  1. Man sieht hier wun­der­bar, dass das Sys­tem der Opus­zah­len auch bei Beet­ho­ven nicht eine was­ser­dich­te chro­no­lo­gi­sche Reihe dar­stellt. Denn zum einen han­delt es sich bei den So­na­ten op. 2, die heute als 1. bis 3. So­na­te ge­zählt wer­den, nicht um die ers­ten über­lie­fer­ten So­na­ten Beet­ho­vens – das sind die so­ge­nann­ten Kur­fürs­ten­so­na­ten, die über 10 Jahre frü­her ent­stan­den. Und zum an­de­ren sind die So­na­ten Nr. 19 und 20, op. 49 (!), ei­gent­lich viel frü­her als zu ver­mu­ten kom­po­niert wor­den, näm­lich zwi­schen den So­na­ten op. 10 und op. 13.
  2. Au­ßer­dem, aber das ist si­cher keine Über­ra­schung, deu­tet die un­voll­ende­te So­na­te Es-dur Unv 13 dar­auf hin, dass Beet­ho­ven wahr­schein­lich be­son­ders in sei­nen ers­ten 30 Le­bens­jah­ren wei­te­re Werke die­ser Gat­tung kom­po­nier­te, die heute ver­schol­len sind (ab 1800 ist dank des um­fang­rei­chen Skiz­zen­be­stands seine schöp­fe­ri­sche Tä­tig­keit viel um­fas­sen­der do­ku­men­tiert).
  3. Das re­la­ti­ve „Durch­ein­an­der“ in der Ent­ste­hung der So­na­ten in den fünf Jah­ren zwi­schen 1794 und 1799 deu­tet auf ein we­ni­ger durch­struk­tu­rier­tes, ziel­ge­rich­te­tes Ar­bei­ten hin als in den Fol­ge­jah­ren. Diese Ver­mu­tung wird da­durch ge­stützt, dass Beet­ho­ven ab Mitte 1798 erst be­gann, in ge­bun­de­nen Skiz­zen­bü­chern und damit or­ga­ni­sier­ter zu ar­bei­ten – aus der Zeit davor ist le­dig­lich um­fang­rei­ches un­ge­bun­de­nes Skiz­zen­ma­te­ri­al er­hal­ten.
  4. Eine zu­sätz­li­che In­for­ma­ti­on, über die Ta­bel­le hin­aus: Sämt­li­che auf­ge­führ­ten voll­ende­ten Kom­po­si­tio­nen, mit einer Aus­nah­me, wur­den zu Beet­ho­vens Leb­zei­ten auch ver­öf­fent­licht, meist unter sei­nen kon­trol­lie­ren­den Augen. Le­dig­lich die klei­ne So­na­ti­ne WoO 50, die eine Freund­schafts­ga­be war, er­schien erst post­hum.

Wie steht es nun um die Über­lie­fe­rung der wich­ti­gen hand­schrift­li­chen Quel­len, den Au­to­gra­phen und über­prüf­ten Ab­schrif­ten?

Man kann die Quel­len­si­tua­ti­on in die­ser Hin­sicht in drei Ent­ste­hungs­pe­ri­oden tei­len:

  1. Bis zur Jahr­hun­dert­wen­de 1800: Zu So­na­ten, die vor die­sem Datum ent­stan­den sind, lie­gen uns weder Au­to­gra­phe noch über­prüf­te Ab­schrif­ten vor (mit der Aus­nah­me der So­na­ti­ne WoO 50, deren Au­to­graph beim Ge­schenk­emp­fän­ger ver­blieb, Beet­ho­vens engem Ju­gend­freund Franz Ger­hard We­ge­ler). Dies hat ver­mut­lich ver­schie­de­ne Ur­sa­chen. Zum einen über­reich­te Beet­ho­ven in die­ser Zeit of­fen­sicht­lich seine Au­to­gra­phe als Stich­vor­la­gen an die Ver­la­ge. Über­prüf­te Ab­schrif­ten waren daher nicht nötig, sie wur­den erst gar nicht her­ge­stellt. Und mit den Au­to­gra­phen ging man, da Beet­ho­ven noch nicht die Be­rühmt­heit der spä­te­ren Jahre er­langt hatte, wenig sorg­sam um. Sie gin­gen in den Ver­la­gen ver­lo­ren, be­son­ders dann, wenn diese Un­ter­neh­men ihre Tä­tig­keit ein­stell­ten. Für eine Ur­text­aus­ga­be be­deu­tet dies, dass wir es hier mit nur einer Quel­le für die Edi­ti­on zu tun haben – dem Erst­druck. In ei­ni­gen we­ni­gen Fäl­len ließ Beet­ho­ven be­son­ders feh­ler­haft ge­druck­te Kom­po­si­tio­nen bei an­de­ren Ver­la­gen noch­mals kor­ri­giert dru­cken (z.B. op. 31), in an­de­ren Fäl­len exis­tie­ren kor­ri­gier­te Dru­cke des Ori­gi­nal­ver­le­gers (z.B. op. 2). Dies kann aber den Ver­lust der Hand­schrif­ten kaum kom­pen­sie­ren.
  2. 1800 bis etwa 1806: Beet­ho­vens schwer ent­zif­fer­ba­re Hand­schrift, seine Ten­denz, auch in Ma­nu­skrip­ten, die für den Ver­lag ge­dacht waren, stark zu kor­ri­gie­ren, stell­te die Ver­le­ger mehr und mehr vor un­lös­ba­re Auf­ga­ben. Daher er­war­te­te man von Beet­ho­ven bald Ab­schrif­ten von pro­fes­sio­nel­len Ko­pis­ten, nach denen im Ver­lag der No­ten­text ge­sto­chen wer­den konn­te. Der Kom­po­nist kam die­sem Wunsch nicht immer nach, auch in spä­te­ren Jah­ren nicht. Aber im Fall der So­na­te op. 22 aus dem Jahre 1800 ist erst­mals und sin­gu­lär eine Stich­vor­la­ge einer So­na­te über­lie­fert, die eine über­prüf­te Ab­schrift ist. In an­de­ren Fäl­len, etwa bei den So­na­ten op. 26 und op. 27 Nr. 2, bei denen sich die Au­to­gra­phen in Beet­ho­vens Nach­lass vor­fan­den, kön­nen wir davon aus­ge­hen, dass auch hier Ab­schrif­ten an den Ver­lag gin­gen. Zur Her­stel­lung die­ser Ab­schrif­ten en­ga­gier­te Beet­ho­ven be­vor­zugt einen erst­klas­si­gen Ko­pis­ten, Wen­zel Schlem­mer, und des­sen Ko­pier­werk­statt. Schlem­mer war of­fen­sicht­lich wie kein an­de­rer in der Lage, Beet­ho­vens Hand­schrift zu ent­zif­fern. Erste Au­to­gra­phe sind nun auch in den Ver­la­gen für die Nach­welt ar­chi­viert wor­den, so die­je­ni­gen zu op. 28 und op. 53. Aber für an­de­re So­na­ten ist wei­ter­hin der bit­te­re Ver­lust hand­schrift­li­cher Quel­len zu be­kla­gen.
  3. Etwa 1806 bis 1820: Ab der So­na­te op. 57 lie­gen uns lü­cken­los Au­to­gra­phe vor – mit der wirk­lich nie­der­schmet­tern­den Aus­nah­me der Ham­mer­kla­vier­so­na­te, die vor No­ten­text-Pro­ble­men strotzt, die ohne hand­schrift­li­che Quel­len nicht lös­bar sind. Aber freu­en wir uns in den an­de­ren Fäl­len umso mehr, als nun aus ver­schie­de­nen Grün­den sorg­sa­mer mit Beet­ho­vens Ma­nu­skrip­ten um­ge­gan­gen wurde. Dabei spielt eine be­deu­ten­de Pri­vat­samm­lung eine ent­schei­den­de Rolle: Ab 1808/1809 war Beet­ho­ven in engem Kon­takt zu Erz­her­zog Ru­dolph, der ihm ein jähr­li­ches Ge­halt zahl­te und der bei ihm Un­ter­richt nahm. Ru­dolph ver­ehr­te Beet­ho­ven als Kom­po­nis­ten und hatte sich of­fen­sicht­lich zur Auf­ga­be ge­macht, in seine Mu­si­ka­li­en­samm­lung des­sen sämt­li­che Werke mög­lichst in Hand­schrif­ten auf­zu­neh­men. Die­sem Samm­ler­wunsch ver­dan­ken wir die Über­lie­fe­rung von ei­ni­gen be­deu­ten­den Ab­schrif­ten und dem Au­to­graph des 1. Sat­zes der „Les Adieux“-So­na­te, die Ru­dolph wie viele an­de­re Werke ge­wid­met ist. (Viel­leicht fand sich auch das Au­to­graph der Ham­mer­kla­vier­so­na­te, die ihm eben­falls zu­ge­eig­net ist, in die­ser Samm­lung, bevor es ver­lo­ren ging.) So sind es also diese spä­te­ren So­na­ten, die einen grö­ße­ren Fun­dus an Quel­len für den Edi­tor zur Ver­fü­gung stel­len, was eine Freu­de ist, wenn auch keine un­ge­trüb­te: Ab 1807 plan­te Beet­ho­ven die Ver­öf­fent­li­chung sei­ner Werke par­al­lel bei meh­re­ren Ver­la­gen etwa in Wien, Ber­lin, Lon­don und Paris. Dies hatte zur Folge, dass Beet­ho­ven z. B. im Fall der drei spä­ten So­na­ten op. 109, 110 und 111 meh­re­re au­to­gra­phe Nie­der­schrif­ten der gan­zen So­na­ten oder ein­zel­ner Sätze an­fer­tig­te. Die Ab­hän­gig­kei­ten und Chro­no­lo­gie die­ser Quel­len sind teils sehr un­durch­sich­tig und der No­ten­text ist na­tür­lich in die­sen Hand­schrif­ten nicht de­ckungs­gleich. Ach ja …
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3 Antworten auf »Autographe und überprüfte Abschriften zu Ludwig van Beethovens Klaviersonaten – ein Überblick«

  1. Bruno Weinmeister sagt:

    Sehr geehrter Herr Gertsch,
    Ich schreibe Ihnen wegen Beethovens Op. 5 (Sonaten für Vc und Klavier).

    Mit Interesse habe ich in Ihrem Text gelesen, dass Beethoven vor 1800 seine Werke oft im Autograph an der Verleger schickte. Leider sind bei den den frühen Cellosonaten auch weder Autograph noch Kopien vorhanden. Der Erstdruck war bei Artaria.
    Ist davon auszugehen, dass auch hier der Druck vom Autograph vorgenommen wurde?

    Ich möchte mich dazu mehr informieren und bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir dazu etwas raten können.

    Mit herzlichen Grüßen
    Bruno Weinmeister

  2. Kirmeier Konrad sagt:

    Lieber Herr Gertsch!
    Vielen Dank für diesen Blog-Beitrag, der mir vieles erklärt hat, und ich, wenn auch erst nach dreieinhalb Jahren, einen Kommentar schreiben möchte.

    Als musikalischer Laie und autodidaktischer Musiker kann ich nur einbringen das es sich bei Beethoven um einen Freigeist handelt, der sich nirgends einsperren lässt.
    Ich glaube auch das dieser Geist mit Namen Beethoven das auch heute noch nicht will, und vielleicht gerade deshalb keine bzw. fast keine Autographen zu den Sonaten mehr auffindbar sind, welche ja die Echtheit dieser Werke bezeugten.

    Viele Grüße

    Konrad Kirmeier

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