Vor ei­ni­gen Tagen brach­te mich eine Kun­den­an­fra­ge kurz ins Grü­beln: Ob denn un­se­re neue Edi­ti­on des Horn­tri­os Es-dur op. 40 (HN 811) von Jo­han­nes Brahms die erste Fas­sung von 1866 oder die zwei­te Fas­sung von 1891 wie­der­ge­be? Eine spä­te­re Über­ar­bei­tung eines Trios, das gibt es bei Brahms doch nur beim H‑dur-Trio op. 8 – oder etwa doch nicht…?

Zur Si­cher­heit sah ich kurz in un­se­rer Aus­ga­be des Horn­tri­os (ediert von Ka­tha­ri­na Loo­se-Ein­falt) nach, die auf dem No­ten­text und dem For­schungs­stand der Jo­han­nes Brahms Ge­samt­aus­ga­be be­ruht und somit für höchs­te Ver­läss­lich­keit bürgt. Wie er­war­tet fand sich weder dort noch im Re­fe­renz­werk zum Brahms’schen Œuvre, dem The­ma­tisch-Bi­blio­gra­phi­schen Werk­ver­zeich­nis von Mar­git und Do­nald Mc­Cork­le, die ge­rings­te Spur einer über­ar­bei­te­ten Fas­sung oder spä­te­ren Re­vi­si­on.

Die ein­zi­ge „Än­de­rung“, die Brahms je­mals an dem Horn­trio vor­nahm, war 1884 die Hin­zu­fü­gung einer Brat­schen­stim­me als wei­te­re Al­ter­na­ti­ve für den Horn­part (zu­sätz­lich zur be­reits vor­han­de­nen al­ter­na­ti­ven Cel­lo­stim­me). Davon blieb aber die ur­sprüng­li­che Musik völ­lig un­be­rührt. (Für wei­te­re fun­dier­te De­tails zur Werk­ge­schich­te kön­nen Sie üb­ri­gens hier das Vor­wort und den Kri­ti­schen Be­richt zu un­se­rer Ur­text-Aus­ga­be frei ein­se­hen.)

Woher stamm­te aber nun die In­for­ma­ti­on von einer an­geb­li­chen 2. Fas­sung von 1891? War es nur eine Ver­wechs­lung des Kun­den von Opus 40 und Opus 8? In­ter­es­se­hal­ber star­te­te ich eine kurze Goog­le-Re­cher­che und lan­de­te zu mei­nem Er­stau­nen di­rekt einen Tref­fer in der eng­li­schen Wi­ki­pe­dia. Der ent­spre­chen­de Ein­trag zum Horn­trio be­haup­tet kurz und bün­dig: „Brahms re­vi­sed the trio in 1891.“

Wi­ki­pe­dia, Bild­schirm­fo­to vom 1.2.2019

Als ein­zi­ger Beleg für diese Aus­sa­ge dient die Par­ti­tur in der Pe­truc­ci-Li­bra­ry (IMSLP), die sogar eine ei­ge­ne Un­ter­ka­te­go­rie „2nd ver­si­on (1891)“ an­ge­legt hat:

Pe­truc­ci Li­bra­ry (IMSLP), Bild­schirm­fo­to vom 1.2.2019

Und diese Ein­tei­lung scheint wie­der­um ein­zig auf dem Kopf­ti­tel der dort ein­ge­stell­ten Aus­ga­be zu be­ru­hen, die Georg Schu­mann für die Edi­ti­on Pe­ters her­aus­ge­ge­ben hat. Dort steht in der Tat: „Zwei­te Be­ar­bei­tung (1891)“:

Wie konn­te das sein? Da ich den Ge­samt­band aller Brahms-Tri­os von Pe­ters be­sit­ze, schau­te ich dort nach und fand kei­ner­lei sol­che An­ga­be, dort steht an der glei­chen Stel­le le­dig­lich „Op. 40“, auch ohne Nen­nung des Kom­po­nis­ten:

Und dann ahnte ich, was wohl pas­siert war: als Pe­ters den Ge­samt­band auf­teil­te und in Ein­zel­aus­ga­ben her­aus­brach­te, muss­te im Kopf­ti­tel jedes Trios auch der Komponisten­name er­gänzt wer­den, der bis­lang nur auf der 1.​Seite bei Trio I stand:

Bei der Neu­mon­ta­ge der Kopf­ti­tel wurde dann of­fen­bar in allen an­de­ren Trios ver­sehentlich auch die An­ga­be „Zwei­te Be­ar­bei­tung (1891)“ von Opus 8 mit über­nom­men. Und in der Tat steht es auch ge­nau­so irr­tüm­lich in den Ein­zel­aus­ga­ben von Opus 87, 101 und 114:

Die­ses druck­tech­ni­sche Ver­se­hen wer­den die Leip­zi­ger Kol­le­gen in spä­te­ren Auf­la­gen si­cher kor­ri­giert haben, aber das In­ter­net ver­gisst nichts, und die Pe­truc­ci-Li­bra­ry ist be­rühmt-be­rüch­tigt dafür, dass sie mit ur­al­ten No­ten­aus­ga­ben auch alte Feh­ler wie­der­auf­wärmt… (Siehe auch die­sen frü­he­ren Blog­bei­trag zu Rach­ma­ni­nows cis-moll-Prélude.)

Diese „Fake news“ brei­ten sich über sol­che viel­be­such­ten Web­sei­ten na­tür­lich schnell wei­ter aus: etwa bei YouTube-Auf­nah­men, die als Video diese alte Par­ti­tur zum Mit­le­sen ab­bil­den:

Das soll Sie aber nicht davon ab­hal­ten, diese wun­der­vol­le In­ter­pre­ta­ti­on zu ge­nie­ßen, bei der der Hor­nist Teu­nis van der Zwart üb­ri­gens ein Na­tur­horn an­stel­le eines mo­der­nen Ven­til­horns ver­wen­det – so wie Brahms es lieb­te und für sein Trio aus­drück­lich wünsch­te.

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7 Antworten auf »Fassung bewahren! Oder: Hat Brahms jemals sein Horntrio überarbeitet?«

  1. Michael Knoch sagt:

    Spannend, lieber Herr Rahmer!
    Werden Sie die Wikipedia korrigieren oder mit einem Hinweis versehen?
    Freundlichen Gruß
    M. Knoch

  2. Lieber Herr Rahmer,

    herzlichen Dank für die elegant-überzeugende Richtigstellung des (unbeabsichtigten) Horntrio-Fakes. Sie haben Recht: Das Internet vergisst nichts. Und so hat die Forschung permanent mit Wegräumen von manchem “Müll” zu tun, der digital potenziert und konserviert wird.

    “Brahms und das Horn” scheint für Fakes übrigens anfällig zu sein, zumal der junge Brahms eine Zeitlang wohl tatsächlich Hornunterricht hatte. Bis heute liest man jedenfalls, dass Brahms aktives Mitglied des 1883 gegründeten “Wiener Waldhornvereins” gewesen sei. So liest man auf dessen Website unter der Überschrift “Die Gründerzeit”:

    “Angeregt durch den Makartfestzug und dem großem Erfolg des Quartetts, entstand die Idee 1883 bei Josef Schantl den „Ersten Wiener Hornistenclub“, einen Vorläufer des Wiener Waldhorn Vereins, zu gründen. Gründungsmitglied war unter anderem auch Johannes BRAHMS, selbst Hornist und strikter Verfechter des Naturhorns, der auch aktiv im Verein wirkte.”

    Einziges Zeugnis scheint ein Foto zu sein, das Mitglieder des Vereins und unter anderem auch einen bärtigen Herrn zeigt (2. Reihe, Vierter von links), der eine gewisse Ähnlichkeit mit Brahms nicht verleugnen kann.

    Mehr als dieses Foto scheint jedoch nicht vorzuliegen. In der Brahms-Literatur gibt es unseres Wissens keinerlei Beleg für eine solche Mitgliedschaft des vielbeschäftigten Komponisten, Dirigenten und Pianisten Brahms. Und auf meine entsprechende (skeptische) Anfrage beim Wiener Waldhornverein vor einigen Jahren gab es außer einem freundlichen Dank keine Antwort, die irgendwelche Archivdokumente als Beleg hätte nennen können.

    So wird es sowohl bei der “Fake-Fassung” von 1891 wie bei Brahms’ Mitgliedschaft im “Wiener Waldhornverein” vermutlich bei dem Seufzer bleiben: “Behüt’ dich Gott, es wär so schön gewesen, behüt’ dich Gott, es hat nicht sollen sein.” (aus dem “Trompeter [nicht Hornisten!] von Säckingen”).

    Herzliche Grüße aus der Johannes Brahms Gesamtausgabe (Uni Kiel)
    Ihr
    Michael Struck

  3. Dr. Albert Schnelle sagt:

    Vielen Dank für diese hilfreichen Nachforschungen. Ich war vor einiger Zeit beim Spielen des Klarinettentrios über genau denselben Hinweis gestolpert und hatte auch dort – natürlich erfolglos – nach Anhaltspunkten für eine “Erstfassung” des op. 114 gesucht.
    Es bleibt also bei dem einmaligen “Fall” des wunderbaren Trios op. 8. Im Übrigen war es, anders als etwa bei Mendelssohn, für Brahms sehr untypisch, verschiedene Fassungen seiner Werke zu erstellen; oder jedenfalls sind Frühfassungen deshalb nicht bekannt, weil sie konsequent vernichtet wurden. Die Erstfassung von op. 8 wurde ja immerhin veröffentlicht, und Brahms hatte sich, nachdem er das Trio 1891 überarbeitet und in Teilen neu komponiert hatte, vergeblich darum bemüht, die alten Spuren zu beseitigen.

  4. Harald Schollmeyer sagt:

    Sehr interessanter Artikel!

    Das bedeutet ja, dass Herausgeber und Musikwissenschaftler künftig die digitale Überlieferungsgeschichte eines Werkes kritisch unter die Lupe nehmen müssen. Wenn alleine dem Verlag Peters ein solcher analoger “Kopier”-Fehler unterläuft, ist das eine Sache – wenn dieser Fehler aber tausendfach digital kopiert und unkritisch weiterverbreitet wird, eine andere, gravierendere Sache. Vielleicht wird Datenarchäologie künftig eine Disziplin der MuWi, erste Ansätze einer solchen Archäologie in den Geisteswissenschaften gibt es bereits: https://digiversity.net/2010/datenarchaeologie/

    Ich habe vor kurzem selbst beide Versionen von op.8 von Brahms bearbeitet, daher kann ich den Hintergrund gut nachvollziehen. Ja, und auch bei meinen Finale-Files muss ich immer aufpassen, dass keine Überreste eines vorherigen Stückes übrigbleiben, wenn ich ein vorhandenes Dokument für ein anderes Stück umarbeite.

  5. Spannender Artikel! Ist bekannt, wer die Fingersatz-Bezeichnungen der Violinstimme in der Ausgabe von Georg Schumann 1928 übernommen hat?
    Danke und beste Grüße

    • Dazu kann ich leider nichts sagen – ich würde eine direkte Anfrage bei C. F. Peters in Leipzig empfehlen, die zu ihrer Ausgabe sicherlich detailliert Auskunft geben können.

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