Während die klassische Musikwelt in diesem Jahr fraglos im Zeichen von Maurice Ravels 150. Geburtstag steht, sollte ein weiterer Gedenktag eines französischen Komponisten nicht ganz vergessen werden: Erik Saties 100. Todestag am 1. Juli 2025. Und was liegt näher, als sich die Beziehung der beiden etwas genauer anzuschauen? Denn obwohl musikalisch ein absoluter Außenseiter seiner Zeit, hatte Satie vielfältige Kontakte zu bedeutenden Musikern und Komponisten im Paris des Fin-de-siècle und der Belle Époque, nicht nur zu Ravel, sondern auch etwa zu Claude Debussy, Albert Roussel, Igor Strawinsky oder Ricardo Viñes.
Satie und Ravel lernten sich 1892 oder 1893 in einem der zahlreichen Kabarett-Cafés in den Pariser Künstler- und Vergnügungs-Vierteln Montmartre und Pigalle kennen, mutmaßlich im Café de la Nouvelle Athènes an der Place Pigalle. Ohnehin wohnten sie damals nicht weit auseinander, die Familie Ravel in der Rue Pigalle, Satie in der nur etwa 900 Meter entfernten Rue Cortot. Vermittelt wurde die Begegnung von Ravels Vater, der mit Satie gemeinsame Bekannte hatte – Künstler, insbesondere Maler, die in diesem Café verkehrten. In solchen Lokalen begleitete Satie damals Sänger und Sängerinnen am Klavier oder trug eigene Kompositionen vor, die sich durch ihre Statik und Archaik in einem eigenartigen neogriechischen oder neogotischen Stil auszeichneten. Offenbar war der junge Ravel gleich angetan von dieser ganz aus der Zeit gefallenen Manier, wozu sicher auch beitrug, dass beide Komponisten damals von der Musik Emmanuel Chabriers begeistert waren, namentlich von deren bizarren bis skurrilen und ironischen Zügen. Für gemeinsame Anknüpfungspunkte war also gesorgt, und letztlich dürfte für die große Sympathie Ravels für den neun Jahre Älteren auch eine Rolle gespielt haben, dass Satie im persönlichen Umgang voller humoristischer Einfälle war, wie sich dies auch in seinen Schriften und Briefen zeigt.

Zu Saties skurrilen Einfällen gehörte auch das Adressieren von Briefen an sich selbst; 1893 gründete er die „Eglise Métropolitaine d’Art de Jésus Conducteur“ (Metropolitankirche der Kunst unseres Lenkers Jesus), deren einziges Mitglied er selbst war.
Der Einfluss Saties zeigt sich vor allem in Ravels frühen Liedern. Ravel, der in puncto Inspiration immer sehr offen und ehrlich war, gab in seiner 1928 diktierten Autobiographischen Skizze an: „Meine ersten Kompositionen stammen ungefähr von 1893. Der Einfluss von Emmanuel Chabrier zeigte sich in der Sérénade grotesque für Klavier; der von Satie in der Ballade de la reine morte d’aimer.“ Auffallend sind im genannten Lied (Übersetzung: Ballade von der Königin, die aus Liebe starb) die einfache Struktur und Melodik sowie der archaische Tonfall durch die Verwendung der dorischen Tonart (anstelle des ♭-Zeichens für d-moll ist ♮ für d-dorisch vorgezeichnet). Aber Satie hinterließ auch Spuren in Ravels Klavierwerken, so in den Dissonanzen durch „falsche“ Grundtöne wie zu Beginn der Pavane (Vorbild: Gymnopédies) oder in unaufgelösten Sept- oder Nonenakkorde in Jeux d’eau (Vorbild: Sarabandes).
Solche Schnittmengen dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Stil und Satztechnik beider Komponisten fundamental verschieden sind. Bei Satie sind die Kompositionen sehr schlicht und statisch, oft meditativ angelegt, bei Ravel komplex und dynamisch, häufig mit sehr virtuosem Zuschnitt.
Nach den ersten Begegnungen trennten sich die Wege beider Komponisten, bis sich Ravel um 1910 für eine Wiederentdeckung Saties im Pariser Musikleben (die für viele Musikinteressierte im Grunde eine Erstentdeckung war) bemühte. Der Hintergrund dafür war die von Ravel mitbegründete „Société musicale indépendante“ in Konkurrenz zur alteingesessenen, inzwischen als akademisch und verkrustet geltenden „Société nationale de musique“. Auf der Suche nach neuen Namen und insbesondere nach vernachlässigten Talenten der französischen Avantgarde kam ihm Satie gerade recht. Er organisierte ein Konzert am 16. Januar 1911, in dem er drei Werke Saties, die dritte Gymnopédie, die zweite Sarabande sowie das Prélude du Fils des Étoiles spielte. Im vermutlich von Ravel abgefassten Teil des Programmhefts wurde Satie als „der geniale Wegbereiter“ vorgestellt, „der vor nun schon einem Vierteljahrhundert die kühne musikalische Sprache von morgen sprach“. Bei so viel Anteilnahme fühlte sich Satie geschmeichelt, aber auch, da er dies nicht gewohnt war, irritiert. Gegenüber seinem Bruder bekannte er anlässlich dieses Konzerts: „Ravel ist ein Rompreisträger [was nicht zutrifft] von sehr großem Talent. Ein Debussy, nur verblüffender. Er bestätigt mir – jedes Mal, wenn ich ihm begegne –, dass er mir viel verdankt. Von mir aus gern.“ Und einige Monate später: „Ravel nimmt in der modernen Musik eine bedeutende Stellung ein. Ich kannte ihn, als er noch ein Kind war [bei der ersten Begegnung war Ravel allerdings schon 17 oder 18 Jahre], und habe mich stets für seine Arbeit interessiert.“
Die ersten dunklen Schatten auf die Beziehung warf dann ausgerechnet eine Zueignung. 1913 widmete Ravel ihm nämlich Surgi de la croupe et du bond, die dritte seiner Mallarmé-Vertonungen. Auf den ersten Blick mag dies als Pendant zur Widmung von Saties zweiter Sarabande an Ravel erscheinen, Satie aber nahm die Textwahl – ein hermetisches Gedicht mit vielfältigen Assoziationen beim Anblick einer leeren Vase – persönlich, und zwar als Anspielung auf seine eigene „Leere“, auf sein Unvermögen aufgrund seiner ungenügenden musikalischen Ausbildung. Dies war sicher nicht von Ravel beabsichtigt, aber Saties Freundschaften zerbrachen häufig an Unterstellungen oder bewussten Missverständnissen. So auch hier, denn Satie rächte sich auf sehr unschöne Weise: mit den drei Valses distinguées du précieux dégoûté (Vornehme Walzer über die gezierte Widerwärtigkeit), die einen typischen Dandy, eben Ravel, charakterisieren sollen. Inzwischen war Saties Sympathie für Ravel völlig umgeschlagen, hatte sich doch Ravel beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 freiwillig zum Militär gemeldet, was Satie als Sozialist und Pazifist nur mit Unverständnis aufnahm. Der erste dieser Walzer ist mit „Sa taille“ überschrieben, was hier die Figur des Dandys meint, aber den Nebensinn von „Körpergröße“ hat und damit auf Ravels auffallend kleinen Wuchs anspielt. Damit die Anspielung auch jeder in der Musikszene verstehen konnte, widmete er das Stück Roland-Manuel, den er 1911 Ravel vorgestellt und der seither eng mit diesem verbunden war.

Erik Satie, Beginn des ersten der Valses distinguées du précieux dégoûté (Paris, Bibliothèque nationale de France)
Aber Ravel war, als die Walzer 1916 im Druck erschienen, alles andere als eingeschnappt. Ausgerechnet in einem Brief an Roland-Manuel schrieb Ravel 1918: „Mein unheilbarer Stolz verhindert, dass ich mich vor irgendetwas fürchte, und ich trage diesem großen Kindskopf, der zwar ein Normanne, aber trotzdem ein großer Kindskopf ist, nicht das geringste nach.“ Ravel musste den Namen Satie gar nicht erwähnen, denn mit „Normanne“ konnte nur der 1866 in Honfleur in der Normandie geborene Satie gemeint sein. Auch nach Saties Tod würdigte Ravel unbeirrt aller persönlicher Angriffe dessen Rolle für die zeitgenössische französische Musik: „Satie besaß eine äußerst scharfe Intelligenz, die Intelligenz der Erfindung schlechthin. […] Satie wies den Weg, aber sobald ein anderer Musiker den Weg einschlug, den er gefunden hatte, änderte Satie sofort seine eigene Richtung und eröffnete dann, ohne zu zögern, einen neuen Weg zu neuen Erfahrungsfeldern.“
Die Beziehung zwischen Satie und Ravel zeigt einmal mehr, wie ungleichmäßig – hier Distanz, dort Bewunderung – sich ehemalige Freundschaften im Laufe der Zeit entwickeln können.




