Mstislav Rostropowitsch gilt als einer der größten Cellisten des 20. Jahrhunderts. Seine Kunst hat zahlreiche Komponisten rund um den Globus zu Werken für das Cello inspiriert – so auch Prokofjew zu seiner Cellosonate op. 119. Umso überraschender war es für mich bei der Vorbereitung unserer neuen Urtext-Ausgabe dieser Sonate, dass neben Rostropowitsch noch ein weiterer Musiker eine ganz wesentliche Rolle bei der Entstehung und Verbreitung dieses Werkes spielte – wenn auch auf ganz andere Weise: Lewon Atowmjan, der auch Widmungsträger der Sonate ist. Grund genug, sich diesen Mann im Hintergrund einmal genauer anzuschauen!Der ausgebildete Musiker war seit 1930 in verschiedenen Gremien des sowjetischen Kulturapparates tätig und hatte – wie der Prokofjew-Biograph Simon Morrison es so schön formuliert – selbst für die chaotischen Standards der Stalin-Ära eine ausgesprochen turbulente Karriere, in der staatliche Machtpositionen mit Amtsverlust und Zwangsarbeit wechselten. Als Vorsitzender der Allrussischen Gesellschaft der sowjetischen Dramatiker und Komponisten kam er 1932 in Kontakt mit dem damals in Paris lebenden Prokofjew, den er nicht nur mit Kompositionsaufträgen und Konzertauftritten in der Sowjetunion versorgte, sondern auch – wie von offizieller Seite gewünscht – zur dauerhaften Rückkehr in seine Heimat bewegen konnte.
Während Prokofjew ab 1936 in Moskau zum hochgeehrten sowjetischen Staatskomponisten aufstieg, wurde Atowmjan vom Zentralkomitee nach Turkmenistan versetzt, wo er 1937/38 in einen bürokratischen Skandal verwickelt wurde, der eine Verurteilung zu zehn Jahren Zwangsarbeit im nördlichen Ural nach sich zog. Nach seiner überraschenden Rehabilitierung im Sommer 1939 übernahm Atowmjan 1940 die Leitung von Muzfond, der Fördereinrichtung des Sowjetischen Komponistenverbandes, später auch eine führende Position beim staatlichen Musikverlag Muzgiz. Damit wurde er zu einer zentralen Figur des musikalischen Lebens in der Sowjetunion, denn ihm oblag es, die Komponisten mit bezahlten Aufträgen für ihre Werke zu versorgen, die zur Veröffentlichung nötigen Aufführungen vor den staatlichen Gremien zu organisieren und schließlich auch die Drucklegung der Werke zu betreuen – bis hin zum Verkauf von Drucklizenzen in den Westen für harte Währung.
Die ausführliche Korrespondenz zwischen dem während der Kriegsjahre nach Alma-Ata evakuierten Komponisten und dem Moskauer Musikfunktionär belegt eindrücklich, in welchem Maße sich Atowmjan neben diesen offiziellen Fragen auch persönlich für Prokofjew einsetzte, sei es bei der Beschaffung von Notenpapier oder der Versorgung der in Moskau zurückgebliebenen Familie. Zugleich wurde er immer mehr zu Prokofjews künstlerischem Assistenten, indem er Klavierauszüge seiner Bühnenwerke erstellte – deren gedruckte Veröffentlichung wiederum eine wichtige Einnahmequelle bedeutete.

Im Vordergrund: Sergej Prokofjew (links), Lewon Atowmjan (rechts),
Abbildung aus Simon Morrison: The People’s Artist. Prokofiev’s Soviet Years, 2009.
Nach dem Krieg wendete sich das Blatt erneut: Die Gängelungen durch den stalinistischen Kulturbetrieb verstärkten sich, zugleich wurde Muzfond 1948 in einen großen finanziellen und politischen Skandal verwickelt, bei dem Atowmjan seinen Posten verlor – man beschuldigte ihn, einige Komponisten durch üppige Provisionen, zinslose Darlehen und Vorteile bei der Wohnungssuche bevorzugt behandelt zu haben. Zu diesen gehörte auch Prokofjew, dessen vormals so geschätzte Werke nun als dekadent abgestempelt wurden und von der Bühne verschwanden.
So war die Situation, als Prokofjew im Mai 1949 zurückgezogen in seinem Landhaus in Nikolina Gora seine Cellosonate für den jungen Starcellisten Mstislav Rostropowitsch vollendete. Im Dezember 1947 hatte der gerade 20-jährige den Komponisten mit einer Aufführung seines frühen Cellokonzerts so begeistert, dass dieser ihm anschließend ein auf seine Fähigkeiten zugeschnittenes Werk versprach. Rostropowitsch erinnerte sich später, dass er die Sonate von Prokofjew im Sommer 1949 zusammen mit einer Einladung nach Nikolina Gora erhielt, „um das neue Werk durchzuspielen und ihm mitzuteilen, was mir bei der Einstudierung aufgefallen sei“. Mit Atowmjan begab er sich also im Juni 1949 nach Nikolina Gora, wo beim gemeinsamen Musizieren mit Prokofjew offenbar noch einige Veränderungen im Cellopart vorgenommen wurden. Leider sind diese Eingriffe nicht in dem erhaltenen Partiturautograph festgehalten – aber sie lassen sich aus dem Vergleich mit der 1951 erschienenen Erstausgabe des Werkes erkennen.
Dieser Vergleich zeigt zunächst einmal – wenig überraschend –, dass die Änderungen nicht grundlegende kompositorische Aspekte wie die Themengestalt und musikalische Form der Sonate betrafen, sondern klangfarbliche Aspekte und spielpraktische Fragen wie Oktavlage und Figuration von Akkorden. So zeigte das Partiturautograph am Ende des Kopfsatzes (ab T. 231) in dem wiederholten C-dur-Klang auf Eins ursprünglich nicht die raffinierte Kombination von zwei gezupften und zwei gestrichenen Tönen und statt des Flageolett-Tremolos lediglich einen getrillerten Halteton g1.

1. Satz T. 231–Schluss
oben: ursprüngliche Variante des Autographs
unten: endgültige Variante der Erstausgabe
Auch im II. Satz war das kurz vor Schluss in der Coda über dem Hauptthema im Klavier als gespenstische Gegenstimme einsetzende Quartflageolett des Cellos zunächst vom Komponisten nicht vorgesehen. Vielmehr notierte Prokofjew eine bereits früher einsetzende, schlichtere Begleitung in hoher Lage.

2. Satz T. 105–110
oben: ursprüngliche Variante des Autographs
unten: endgültige Variante der Erstausgabe
Während solche Effekte die Virtuosität des Soloparts deutlich erhöhten, sorgte der Cellist an anderen Stellen aber auch für Erleichterung: Etwa durch Änderung der Akkordgriffe im I. Satz, wo in T. 23 zunächst die ungleich schwerer zu greifende Kombination Cis/Ais/fis/cis1 notiert war.
Ebenfalls in Rücksprache mit Rostropowitsch entstand die alternative Lösung für den Schluss der Sonate, die auch einen veränderten Klaviersatz zur Folge hatte. Diese Version ist bereits im Partiturautograph skizziert. Die Entscheidung darüber, in welcher Form dies in der Druckausgabe wiederzugeben sei, überließ Prokofjew allerdings interessanterweise den beiden Interpreten der ersten Aufführungen – wie wiederum durch seine Korrespondenz mit Atowmjan belegt ist.
Im März 1950 hatte Rostropowitsch die Sonate gemeinsam mit dem Pianisten Swjatoslaw Richter erfolgreich in Moskau uraufgeführt – allerdings in Abwesenheit des Komponisten, der seit einem Schlaganfall gesundheitlich sehr eingeschränkt war und sich damals im Krankenhaus befand. Nun sollte das Werk in Druck gehen, wofür Prokofjew von Rostropowitsch das (heute verschollene) Aufführungsmaterial erhielt, das als Stichvorlage dienen sollte – dafür aber vollkommen ungeeignet war. Entsetzt musste Prokofjew feststellen, dass sich darin teils zwischen Partitur und Solostimme widersprüchliche Eintragungen und unklare Änderungen fanden, so auch zum Ende der Sonate. „Wie endet die Sonate?“, fragte er Atowmjan im Juni 1950. „Wie Sie wissen, wollte ich zwei Varianten, d. h. ossia. Nun: Wenn die 1. Variante vollkommen ungeeignet ist, dann ist sie es nicht wert, veröffentlicht zu werden. Das sollen Rostropowitsch + Richter entscheiden. […] Leider bin ich nicht in der Lage, mich um die Korrekturen zu kümmern und aufzuräumen. Deshalb bitte ich Sie als hinreichend erfahrenen Herausgeber, die Sonate in eine angemessene Form zu bringen.“
Dieser verantwortungsvollen Aufgabe kam Atowmjan mit bewundernswerter Energie und Akribie nach, indem er nicht nur binnen einer Woche selbst eine saubere Stichvorlage herstellte, sondern auch die diversen Korrekturgänge mit dem kranken Komponisten und dem inzwischen international reisenden Cellisten über immerhin anderthalb Jahre koordinierte, bis die Erstausgabe im Herbst 1951 endlich erscheinen konnte. Die Qualität seiner Arbeit können wir heute daran ermessen, dass bei der Edition unserer Urtextausgabe nur vergleichsweise wenig Fehler der Erstausgabe zu korrigieren waren. Rostropowitsch als erster Interpret hat die Sonate weltberühmt gemacht – aber Atowmjan haben wir es zu verdanken, dass sie diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs bereits 1951/52 gedruckt erschien und so binnen kurzem zu einem Kernstück des Cello-Repertoires werden konnte. Kein Wunder, dass ihm der Komponist dies mit der Widmung der Sonate auch gedankt hat.