Ob der Papst un­fehl­bar ist, sei da­hin­ge­stellt, Kom­po­nis­ten sind es – wie so man­che Feh­ler in den Au­to­gra­phen be­le­gen – zwei­fel­los nicht. Es gibt al­ler­dings Fälle, in denen sich die Frage „Feh­ler oder Ab­sicht“ nicht ent­schei­den lässt. Einer die­ser Fälle liegt mit Clau­de De­bus­sys Ce qu’a vu le vent d’ouest aus dem ers­ten Heft der Préludes vor (HN 383; auch in Kla­vier­wer­ke Bd. II, HN 1194). Ein Ab­schnitt des Mit­tel­teils zeich­net sich durch eine mar­kan­te Drei­stim­mig­keit aus (Takte 35–37): Die rech­te Hand ab­sol­viert ra­sche Ok­ta­ven­sprün­ge mit dem Ton cis, die linke schlägt Se­kund-No­nen-Ak­kor­de auf ver­schie­de­nen Ton­stu­fen an, un­ter­bro­chen durch eine syn­ko­pisch da­zwi­schen­fah­ren­de Bas­sok­ta­ve im For­tis­si­mo.

Diese Struk­tur kehrt nach einem kur­zen Ein­schub (Takt 38) wie­der. Die Wie­der­ho­lung (Takte 39–41) un­ter­schei­det sich nur in einem ein­zi­gen De­tail: Die Bas­sok­ta­ve im letz­ten Takt fehlt.

Takt 41 ohne Bas­sok­ta­ve ent­spricht genau der Erst­aus­ga­be bei Du­rand von 1910. Da der Ab­schnitt – bis auf die Bas­sok­ta­ve im letz­ten Takt – sowie auch der er­wähn­te Ein­schub (Takt 38 ent­spricht genau Takt 42) no­ten­ge­treu wie­der­holt wer­den, liegt der Ge­dan­ke eines Druck­feh­lers nahe.

Beim Ver­dacht auf Druck­feh­ler hilft meist der Blick ins Au­to­graph. Im vor­lie­gen­den Fall liegt die Ver­mu­tung nahe, der Kom­po­nist habe nur die Takte 35–38 aus­ge­schrie­ben, diese dann durch Buch­sta­ben oder Zif­fern mar­kiert und deren Wie­der­ho­lung mit die­sen Kür­zeln an­ge­zeigt – eine zeit­spa­ren­de Me­tho­de, die De­bus­sy häu­fig an­wand­te. Das Au­to­graph (Pier­pont Mor­gan Li­bra­ry, Samm­lung R. O. Leh­man, New York; auch als Fak­si­mi­le mit einer Ein­lei­tung von Roy Howat) zeigt je­doch, dass De­bus­sy die wie­der­hol­ten Takte neu aus­schrieb und dabei tat­säch­lich in Takt 41 die Bas­sok­ta­ve aus­ließ.

Feh­ler oder Ab­sicht?

Ein Irr­tum des Ste­chers ist damit aus­ge­schlos­sen, denn das Au­to­graph dien­te auch als Stich­vor­la­ge. Soll­te aber De­bus­sy zu kei­nem Zeit­punkt der Druck­le­gung die­ses doch sehr of­fen­sicht­li­che „Ver­se­hen“ – wenn es sich um ein sol­ches han­delt – auf­ge­fal­len sein? Oder hat er bei der no­ten­ge­treu­en Wie­der­ho­lung ganz be­wusst die mar­kan­te Bas­sok­ta­ve aus­ge­las­sen? Nun ent­hält die Erst­aus­ga­be zwar zahl­rei­che Feh­ler, die zu­min­dest teil­wei­se in spä­te­ren Aus­la­gen (ins­be­son­de­re in der 4. Auf­la­ge von 1913) kor­ri­giert wur­den. Die be­sag­te Stel­le blieb je­doch in den ins­ge­samt fünf Nach­dru­cken zu Leb­zei­ten De­bus­sys un­ver­än­dert. Her­aus­ge­ber von Edi­tio­nen, die die Bas­sok­ta­ve in Takt 41 kom­men­tar­los er­gän­zen (wie Roy Howat in der De­bus­sy-Ge­samt­aus­ga­be, Serie I, Band 5), gehen trotz die­ser Quel­len­la­ge ganz selbst­ver­ständ­lich von einem Feh­ler aus.

Aber viel­leicht ist die Frage „Feh­ler oder Ab­sicht“ in die­sem Fall auch falsch ge­stellt. Wie die Hand­ex­em­pla­re vie­ler sei­ner Werke zei­gen, än­der­te De­bus­sys manch­mal nach­träg­lich Stel­len, die er in den Hand­schrif­ten und Druck­fah­nen ei­gent­lich de­fi­ni­tiv fest­ge­legt hatte, oder nahm um­ge­kehrt Kor­rek­tu­ren auch wie­der zu­rück. In den Er­in­ne­run­gen des Di­ri­gen­ten Er­nest An­ser­met ist dazu ein be­zeich­nen­der Vor­fall fest­ge­hal­ten. Als ihm De­bus­sy vor einer Probe zu den Noc­turnes eine Druck­par­ti­tur mit zahl­rei­chen, zum Teil sich wi­der­spre­chen­den Kor­rek­tu­ren über­gab und An­ser­met nach­frag­te, wel­che davon denn jetzt gül­tig seien, habe De­bus­sy ge­ant­wor­tet: „Ich weiß es nicht mehr genau … Es han­delt sich um ver­schie­de­ne Mög­lich­kei­ten. Neh­men Sie nur diese Par­ti­tur und ver­wen­den Sie die, die Ihnen gut schei­nen.“

In­so­fern sind die Er­gän­zung oder Nicht-Er­gän­zung der Bas­sok­ta­ve hier zwei Mög­lich­kei­ten, deren Wahl letzt­lich dem In­ter­pre­ten über­las­sen wird.

Dieser Beitrag wurde unter Autograph, Debussy, Claude, Erstausgabe, Faksimile, Klavier solo, Lesart, Montagsbeitrag, Préludes (Debussy) abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setzen Sie ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert