Ga­bri­el Faurés Ber­ceu­se op. 16, eine be­zau­bern­de Mi­nia­tur für Vio­li­ne und Kla­vier, ist aus edi­to­ri­scher Sicht ein recht un­pro­ble­ma­ti­sches Stück. Den­noch fin­det sich auch hier ein De­tail, das beim zwei­ten Hin­se­hen etwas Kopf­zer­bre­chen be­rei­ten kann. Die Erst­aus­ga­be von 1879, die auch un­se­rer Ur­text­aus­ga­be (HN 1101) als Haupt­quel­le dient, bie­tet an­stel­le des Schluss­tons d3 eine Fla­geo­lett-Al­ter­na­ti­ve an, näm­lich:

Diese No­ta­ti­ons­wei­se gibt nicht den ef­fek­tiv er­klin­gen­den Ton an, son­dern schreibt den dazu nö­ti­gen Griff vor: das d2 ist nor­mal zu grei­fen, zu­gleich wird die­sel­be Saite mit einem wei­te­ren Fin­ger dort leicht be­rührt, wo sich das g2 be­fin­det. Auf diese Weise wird ein Ober­ton er­zeugt, der sich 2 Ok­ta­ven über dem Grund­ton be­fin­det, also ein d4. Der ad-li­bi­tum-Schluss würde also eine Ok­ta­ve höher als der nor­ma­le Schluss­ton klin­gen – soll­te das wirk­lich ge­meint sein? Passt zu die­sem schlich­ten und in­ni­gen Wie­gen­lied ein der­ar­ti­ger Ef­fekt mit einem Sprung in die höchs­te Lage, der si­cher­lich jedes Kind gleich wie­der aus dem Schlum­mer rei­ßen würde…?

In der Tat gibt es mo­der­ne Aus­ga­ben der Ber­ceu­se, die den Fla­geo­lett­griff genau aus die­sem Grund än­dern und eine Ok­ta­ve tie­fer no­tie­ren, um wie­der beim „ori­gi­na­len“ klin­gen­den d3 zu lan­den. Für ein Ver­se­hen von Fauré könn­te eben­falls der Um­stand spre­chen, dass er zwar aus­ge­bil­de­ter Or­ga­nist und Pia­nist, aber kein Gei­ger war, und auch in sei­nen frü­hen Kam­mer­mu­sik­wer­ken wie der Vio­lin­so­na­te op. 13, dem Kla­vier­quar­tett op. 15 oder der Ro­mance für Vio­li­ne und Kla­vier op. 28 keine Fla­geo­lett-Grif­fe vor­kom­men. Oder war etwa der Ver­lag schuld, der eine münd­li­che An­wei­sung Faurés falsch um­setz­te oder gar eine ei­gen­mäch­ti­ge Zutat hin­ein­schmug­gel­te? Denn in der au­to­gra­phen Skiz­ze der Ber­ceu­se, die in der Beine­cke Rare Book and Ma­nu­script Li­bra­ry der Uni­ver­si­tät Yale auf­be­wahrt wird und als Di­gi­ta­li­sat zu­gäng­lich ist, fin­det sich noch gar kein Os­sia-Schluss (siehe die se­pa­ra­te So­lo­stim­me).

Glück­li­cher­wei­se exis­tiert eine wei­te­re Quel­le, die diese Spe­ku­la­tio­nen un­nö­tig macht: in der Bi­bliothèque de Tou­lou­se be­fin­det sich das Au­to­graph von Faurés ei­ge­ner Or­ches­trie­rung der Ber­ceu­se, die er kurze Zeit spä­ter im April 1880 er­stell­te. Die­ses Ma­nu­skript, in­zwi­schen eben­falls als Scan im In­ter­net ein­seh­bar, be­legt die Gül­tig­keit der Druck­aus­ga­be, denn Fauré ko­piert den Part der So­lo­vio­li­ne exakt gemäß der Kam­mer­fas­sung, in­klu­si­ve des frag­li­chen Fla­geo­lett-Tons (siehe die letz­te Par­ti­tur­sei­te). Und da Fauré zuvor die Ur­auf­füh­rung der Kam­mer­fas­sung am 14. 2. 1880 per­sön­lich am Kla­vier be­glei­tet hatte, dürf­te er durch­aus genau ge­wusst haben, was er da tat. Was al­ler­dings Sie an die­ser Stel­le tun, wenn Sie die Ber­ceu­se ein­mal spie­len soll­ten, bleibt Ihrem ganz per­sön­li­chen Ge­schmack über­las­sen…

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