Wer Robert Schumanns In der Nacht, die fünfte Nummer aus den Fantasiestücken op. 12, nach der Henle-Ausgabe (HN 91 oder Sammelband HN 922) einübt, stößt an zwei Stellen im Notentext auf Fußnoten, die auf den kritischen Bericht im Bemerkungsteil verweisen. In beiden Fällen wird der Notentext nach der von Schumann selbst kontrollierten Erstausgabe (Breitkopf & Härtel, 1838) wiedergegeben, aber in den Bemerkungen darauf aufmerksam gemacht, dass Clara Schumann – den Vorschlägen von Johannes Brahms folgend – hier den Notentext in den von ihr herausgegebenen Editionen der Werke ihres Mannes geändert hat. Bei diesen im Verlag Breitkopf & Härtel in Leipzig erschienenen Editionen handelt es einerseits um die „Alte Gesamtausgabe“: Robert Schumann’s Werke, Serie VII, Nr. 50, 1879, andererseits um die sogenannte Instruktive Ausgabe: Klavier-Werke von Robert Schumann. Erste mit Fingersatz und Vortragsbezeichnung versehene Instructive Ausgabe, Bd. II, Nr. 12, 1886).
- In der ersten Stelle geht es um die Frage c oder cis in Takt 105:
Nach der Analogie der benachbarten Takte ist der Gedanke eines vergessenen Vorzeichens in der Tat naheliegend. Allerdings geht das ♮ vor dem c nicht auf den Herausgeber der Henle-Ausgabe zurück, sondern findet sich in allen bekannten Quellen: in der Erstausgabe, in der Kopistenabschrift der Stichvorlage und sogar im Autograph, wo Schumann offenbar zunächst in Analogie zu Takt 81 ein ♯ notierte, dieses danach aber eindeutig zu einem ♮ änderte):
Vor diesem Hintergrund mutet der Eingriff von Brahms und Clara Schumann – die Änderung des 2. und 5. Sechzehntels zu cis – nicht mehr als selbstverständliche Korrektur, sondern eher als stilistische Interpretation an. Klanglich sind beide Varianten möglich, harmonisch hat die mit c den Vorzug, das g-moll in Takt 106 besser und eindeutiger vorzubereiten – worauf es Schumann möglicherweise ankam. Beiden Nachlassverwaltern von Roberts musikalischem Erbe waren die handschriftlichen Quellen zu Op. 12 allerdings 1878, während der Vorbereitung der ersten Werke der repräsentativen Gesamtausgabe, nicht zugänglich; sie mussten sich daher auf ihr Gefühl verlassen. Brahms, der sich grundsätzlich mit Änderungen gegenüber den von Schumann relativ gründlich korrigierten Erstausgaben sehr schwer tat, muss die erwähnte Analogie zu Takt 81 (mit allerdings abweichender Harmonie) als gewichtiger empfunden haben als das ausdrückliche ♮ vor dem c.
- Die zweite Stelle am Ende der Rückleitung zur Reprise (Takte 142–143) sieht auf den ersten Blick noch offensichtlicher nach einem Versehen aus:
Der Wechsel in der Abfolge der repetierten Sechzehntel der linken Hand ab Mitte von Takt 142 (c-as-c-as statt as-c-as-c) ist nicht nur überraschend, sondern erscheint im Vergleich zu den analogen Takten 140–141 geradezu widersinnig. Dementsprechend zeigte Brahms in seinem Handexemplar eine Änderung zur Fortführung der Folge as-c-as-c an, was Clara für ihre Ausgaben übernahm:
Allerdings notierte Schumann im Autograph die Stelle so, wie sie in der Erstausgabe erschien, und die als Stichvorlage dienende Kopistenabschrift sah er gründlich durch, wie die ergänzten Dynamikzeichen und Pedalisierungen beweisen. Sollte es sich um ein Versehen handeln, hätte Schumann seinen Irrtum demnach mindestens zwei Mal (in der Stichvorlage wie auch in den Korrekturfahnen) übersehen – ganz zu schweigen vom Fehlen einer Korrektur im erhaltenen Handexemplar des Drucks im Nachlass von Schumann.
Könnte es nicht doch einen Grund für einen absichtlichen Wechsel geben? Etwa die durch die Umstellung erfolgte Betonung des Dominanttons c als Vorbereitung für die Wiederkehr des Beginns?
Selbstverständlich wurde Clara Schumann damals als Autorität in allen Fragen zur Musik ihres verstorbenen Mannes angesehen – wer konnte besser als sie wissen, wie der definitive Notentext lautete und wie er zu spielen war? Nicht umsonst heißt es im Untertitel ihrer Instruktiven Ausgabe: Nach den Handschriften und persönlicher Ueberlieferung herausgegeben von Clara Schumann. Mit der „persönlichen Überlieferung“ hatte sie ein Pfand, mit dem sie wuchern konnte. Sie war damit allen anderen Herausgebern von Ausgaben – die ab 1886 (Ablauf der damals 30-jährigen Schutzfrist) in großer Zahl auf den Markt geworfen wurden – um einen entscheidenden Faktor, die unmittelbare Nähe zum Urheber, voraus. Versteht sich also, dass die Konkurrenzausgaben grundsätzlich dem von Clara edierten Notentext folgten. Dies war übrigens auch bei den ersten, von Otto von Irmer verantworteten Auflagen der Fantasiestücke im Henle-Verlag der Fall; erst mit dem Wechsel der Herausgeberschaft zu Wolfgang Boetticher (ab Auflage D, 1975) wurden die Lesarten der Erstausgabe in den Haupttext aufgenommen, seit der Revision durch Ernst Herttrich (ab Auflage N, 2004) zusätzlich mit den wichtigen erläuternden Bemerkungen zu den Änderungen von Johannes Brahms bzw. deren Übernahme durch Clara Schumann.
Über den Fall „Schumann“ hinaus zeigt das Beispiel, dass es durchaus notwendig ist, posthume, nicht mehr vom Komponisten selbst autorisierte Quellen für die Edition mit einzubeziehen, sofern es Hinweise auf solche „persönliche Überlieferungen“ durch Ehepartner, Kinder, Freunde oder Schüler gibt. Ob man bestimmte Lesarten dieser Sekundärquellen letztlich in den Notentext übernimmt, ist dagegen eine ganz andere Frage …