Vor ei­ni­ger Zeit hat­ten wir un­se­rer neuen Ur­text-Aus­ga­be von Liszts Kla­vier­tran­skrip­ti­on Isol­dens Lie­bes­tod (HN 558) be­reits einen Blog­bei­trag ge­wid­met, der sich mit un­ter­schied­li­chen Les­ar­ten der Quel­len be­fass­te (siehe Wag­ner, Liszt, und die „ver­un­glimpf­te“ Isol­de). Das Stück soll heute er­neut unter die Lupe ge­nom­men wer­den, denn es hat nicht nur für Pia­nis­ten, son­dern auch für Phi­lo­lo­gen viel zu bie­ten…

Ent­pupp­ten sich die im ers­ten Blog­text an­ge­spro­che­nen Stel­len als ganz of­fen­sicht­li­che Ver­se­hen des No­ten­s­te­chers der Erst­aus­ga­be, so stößt man auch auf an­de­re Wi­der­sprü­che in den Quel­len, die sich nicht so zwang­los klä­ren las­sen. Ein Pro­blem stellt dabei eine ver­schol­le­ne wich­ti­ge Quel­le dar. Es exis­tiert näm­lich keine Stich­vor­la­ge mehr, also die üb­li­che Ab­schrift des Au­to­graphs (in der Regel durch einen Be­rufs­ko­pis­ten), die der Ver­lag dann als gut le­ser­li­che Vor­la­ge für den No­ten­stich der Erst­aus­ga­be be­nutz­te.

    Klei­ner Ex­kurs: Warum kann das Au­to­graph nicht selbst als Stich­vor­la­ge ge­dient haben?
    Ein­mal ab­ge­se­hen davon, dass es eher un­üb­lich war, wert­vol­le Ori­gi­nal­ma­nu­skrip­te zu ver­schi­cken und Be­schä­di­gun­gen oder gar einen Ver­lust zu ris­kie­ren, spre­chen in die­sem Fall zwei wei­te­re Grün­de da­ge­gen: 

  • Ers­tens feh­len im Au­to­graph die ty­pi­schen Ver­lags­ver­mer­ke in Blei- und Bunt­stift, also z.B. Ver­lags­num­mer, Co­py­right­ver­mer­ke, Hin­wei­se für den No­ten­s­te­cher (z.B. „Eilt sehr!“), des wei­te­ren die Ein­tra­gun­gen des Ste­chers selbst, der die Sei­ten­auf­tei­lung der Stich­plat­te genau pla­nen muss­te und alle Zei­len- und Sei­ten­wech­sel mit klei­nen Zif­fern und Stri­chen in der Vor­la­ge mar­kier­te. (Einen schö­nen Ein­druck von einer sol­chen „durch die Man­gel ge­dreh­ten“ Stich­vor­la­ge ver­mit­telt die­ser Scan aus dem Brahms-In­sti­tut Lü­beck.)
  • Zwei­tens ist Liszts Au­to­graph in kei­nem sehr or­dent­li­chen Zu­stand, nach dem ein Ste­cher ar­bei­ten könn­te, son­dern noch ein Ar­beits­ma­nu­skript: es fin­den sich et­li­che Än­de­run­gen, Strei­chun­gen, Über­kle­bun­gen, flüch­tig oder un­voll­stän­dig no­tier­te Dy­na­mik und Ar­ti­ku­la­ti­on usw. Sol­che Prä­zi­sie­run­gen wur­den erst in der rein­schrift­li­chen Stich­vor­la­ge, die Liszt immer auch noch ein­mal kon­trol­lier­te und ggf. än­der­te, vor­ge­nom­men. In der Druck­aus­ga­be fin­den sich im De­tail zahl­lo­se Ab­wei­chun­gen vom Au­to­graph, die un­mög­lich der No­ten­s­te­cher „er­fun­den“ haben kann: hin­zu­ge­füg­te Fin­ger­sät­ze, Bögen, Ar­ti­ku­la­tio­nen, dy­na­mi­sche An­ga­ben und Spiel­an­wei­sun­gen – all dies ist ganz si­cher von Liszt im Zwi­schen­sta­di­um der Stich­vor­la­ge (oder mög­li­cher­wei­se in einer Kor­rek­tur­fah­ne, die lei­der auch nicht er­hal­ten ist) er­gänzt bzw. ge­än­dert wor­den.

Da uns also der Ar­beits­schritt zwi­schen Au­to­graph und Erst­aus­ga­be fehlt, muss man bei Di­ver­gen­zen zwi­schen die­sen bei­den Quel­len in jedem Ein­zel­fall prü­fen, wel­che der bei­den „recht“ haben kann. In der Regel wird man davon aus­ge­hen, dass – wie oben be­schrie­ben – die Erst­aus­ga­be den letzt­gül­ti­gen Stand dar­stellt, zumal sie von Liszt über­prüft und au­to­ri­siert wurde. Man muss sich sehr davor hüten, das Au­to­graph als ver­meint­lich au­then­ti­sche­re Quel­le zu be­vor­zu­gen und wo­mög­lich zu einem ver­al­te­ten Stand zu­rück­zu­keh­ren.

In we­ni­gen Fäl­len haben wir uns bei der Neue­di­ti­on aber in der Tat für die Les­art des Au­to­graphs ent­schie­den, wenn die Um­stän­de dafür spre­chen, dass sich der No­ten­s­te­cher ver­le­sen hat und Liszt es nicht be­merk­te – so wie die Bei­spie­le des ers­ten Blog­bei­trags.

Die ge­wich­tigs­te Än­de­rung un­se­rer Ur­text­aus­ga­be ge­gen­über der Erst­aus­ga­be be­trifft die Takte 54–57. Die Erst­aus­ga­be und alle spä­te­ren Aus­ga­ben bis heute wei­sen hier eine merk­wür­di­ge In­kon­se­quenz in der Set­zung der Ar­peg­gio-Zei­chen in der rech­ten Hand auf: das Ar­peg­gio steht nicht mehr wie in den Tak­ten zuvor auf dem je­weils 3. Ach­tel jeder Takt­hälf­te, son­dern auf dem 1. Ach­tel, also auf einem teil­wei­se über­ge­bun­de­nen Ak­kord! Manch­mal fehlt es sogar ganz, in der ers­ten Hälf­te von T. 57 steht es dafür gleich zwei­mal (siehe Abb. 1). Ist das alles sinn­voll…?


Abb. 1: Erst­aus­ga­be der re­vi­dier­ten Fas­sung 1875, Takt 50–58

Der Blick ins Au­to­graph zeigt da­ge­gen eine völ­lig schlüs­si­ge No­ta­ti­on: die Ar­peg­gi­os ste­hen in T. 50–57 sämt­lich auf jedem 3. Ach­tel jeder Takt­hälf­te (außer in den trio­li­schen Fi­gu­ren) und dabei immer zu einem vol­len Ak­kord, nicht zu lee­ren Ok­ta­ven – in der Erst­aus­ga­be feh­len näm­lich auch ein paar Noten… Mög­li­cher­wei­se hat sich der Ste­cher da­durch ver­lei­ten las­sen, die Ar­peg­gio­zei­chen vor die fal­schen Ak­kor­de zu set­zen. Liszts ori­gi­na­le Schreib­wei­se ist so ein­leuch­tend, dass wir sie in den Haupt­text un­se­rer Aus­ga­be über­nom­men haben (siehe Abb. 2) und die Ab­wei­chun­gen der Erst­aus­ga­be nur im kri­ti­schen Be­richt ver­mer­ken.


Abb. 2: Hen­le-Ur­text­aus­ga­be HN 558, Takt 50–57

Mög­li­cher­wei­se wird der eine oder an­de­re Pia­nist, der das Stück nach der alten Aus­ga­be ein­stu­diert hat, zu­nächst über diese ge­än­der­ten Stel­len stol­pern. Wir hof­fen aber, dass un­se­re Ar­gu­men­ta­ti­on über­zeu­gend genug ist, dass sich die ur­sprüng­li­che Ver­si­on des Au­to­graphs durch­set­zen kann. Und wenn eines Tages die Stich­vor­la­ge doch noch auf­tau­chen soll­te, könn­te sie hel­fen, das Rät­sel zu lösen…

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