Maurice Ravels Konzertrhapsodie „Tzigane“ liegt bekanntlich in drei Fassungen vor: in der originalen für Violine und Klavier (April/Mai 1924), in der wenig später entstandenen für Violine und Orchester (Juli 1924) sowie in einer Version für Violine und Luthéal (Oktober 1924), eine damals soeben erst entwickelte und rasch wieder aufgegebene Vorrichtung für Saiteninstrumente, die beim Einbau in Klavier oder Flügel die Erzeugung neuer Klangregister ermöglichte, wobei es Ravel hier vor allem auf die klangliche Imitation des ungarischen Cymbals ankam.
Unter den wenigen Aufnahmen mit Violine und Luthéal sei hier eine von 1995 mit Chantal Juillet und Pascal Rogé empfohlen.
Bei der Vorbereitung der Neuausgabe der Fassung mit Klavier von „Tzigane“ (HN 587) geriet eine Stelle der Violine aus der Schluss-Stretta in den Blickpunkt, die zunächst eindeutig erscheint, es aber bei näherem Hinsehen keineswegs ist.
In allen gedruckten Ausgaben lauten die ersten vier Noten von Takt 331 (Beginn des Accelerando) d3–cis3–cis3–h2. Dies korrespondiert zwar mit dem nachfolgenden Takt, allerdings nur für die erste Takthälfte. Dagegen ergibt sich aber eine genaue Entsprechung zu Takt 329, da die Takte 328–329 unmittelbar wiederholt werden. Die Takte 329 und 331 sind also gleich – bis auf die 2. Note, denn in Takt 329 lautet die Folge zu Beginn d3–d3–cis3–h2. Könnte hier trotz der Übereinstimmung aller gedruckten Quellen nicht doch ein Druckfehler vorliegen?
Bei der Frage d oder cis als 2. Note in Takt 331 hilft nur der Blick in die Handschriften. Und tatsächlich: Im Autograph der Orchesterfassung notierte Ravel in Takt 331 eindeutig d3, nicht cis3:
Warum aber erscheint dann, wie nachstehend zu sehen, in der Erstausgabe der Orchesterfassung wieder cis3?
Wie einige markante Übereinstimmungen belegen, diente bei der Drucklegung der Solo-Violine in der Orchesterfassung nicht Ravels Autograph, sondern die gedruckte Solo-Stimme aus der Klavierfassung als Vorlage – oder aber die Solo-Stimme wurde nachträglich an diejenige der Originalfassung angeglichen.
Die Frage, ob d oder cis die richtige Note ist, verlagert sich damit auf die Originalfassung. Letzte Klarheit könnte nur der Blick in das Autograph dieser Originalfassung bringen – wenn er denn möglich wäre. Laut einer in den 1960er Jahren erstellten Inventarliste befindet sich dieses Autograph – genauer gesagt handelt es sich sogar um zwei Handschriften, vermutlich ein erster Entwurf sowie eine nachfolgende Reinschrift – in der privaten „Collection Taverne“ (Montreux/Schweiz), die leider bis auf Weiteres unzugänglich ist.
Daher ist zur Zeit die Frage nicht mit letzter Sicherheit zu klären, aber viel spricht dafür, dass sich ein Fehler in den Originaldruck geschmuggelt hat, der seither immer wieder reproduziert wurde.
Bislang hatten die Geiger ja keine Wahl, sie mussten, da alle Ausgaben cis notieren, diesen Ton spielen. Wir schaffen nun Abhilfe, denn Jean-François Monnard, der Herausgeber unserer im Frühjahr 2014 erscheinenden Neuausgabe, hat sich entschlossen, als 2. Note in Takt 331 d3 zu nehmen und in einer Fußnote auf das abweichende cis3 in den Drucken hinzuweisen.