Das Streich­quar­tett F-dur op. 96 kom­po­nier­te Antonín Dvořák im Früh­som­mer 1893 in Spill­vil­le/Iowa, wo er seine Fe­ri­en als Di­rek­tor des New Yor­ker Na­tio­nal Con­ser­va­to­ry of Music (1892–95) ver­brach­te. Es ist, wie er aus­drück­lich auf dem Par­ti­tur­au­to­graph ver­merk­te, seine zwei­te in Ame­ri­ka ent­stan­de­ne Kom­po­si­ti­on, denn ihr war die be­rühm­te 9. Sym­pho­nie mit ihren viel­fach dis­ku­tier­ten An­leh­nun­gen an die tra­di­tio­nel­le Musik von In­dia­nern und Afro­afri­ka­nern un­mit­tel­bar vor­an­ge­gan­gen.

Ge­denk­ta­fel in Spill­vil­le, Iowa

Wäh­rend Dvořák der Sym­pho­nie selbst kurz vor der Ur­auf­füh­rung ei­gen­hän­dig den be­rühm­ten Bei­na­men „Aus der neuen Welt“ gab, stammt die Be­zeich­nung „Ame­ri­ka­ni­sches Quar­tett“ für Opus 96 nicht vom Kom­po­nis­ten selbst. Auch für die­ses Werk wer­den immer wie­der die Ein­flüs­se der Volks­mu­sik von In­dia­nern und Afro­ame­ri­ka­nern gel­tend ge­macht, wobei aber die Frage, was denn nun kon­kret „ame­ri­ka­nisch“ im „Ame­ri­ka­ni­schen Quar­tett“ sei, kei­nes­wegs ein­fach zu be­ant­wor­ten ist, wie Hart­mut Schick in sei­nem Auf­satz zei­gen konn­te. Denn Merk­ma­le wie Pen­ta­to­nik oder leit­ton­lo­se Me­lo­di­en fin­den sich auch in eu­ro­päi­schen Kul­tu­ren, müs­sen also für sich ge­nom­men kei­nes­wegs ty­pisch „ame­ri­ka­nisch“ sein. Im­mer­hin ist man sich weit­ge­hend darin einig, dass die auf­fal­lend häu­fi­gen rhyth­mi­schen Os­ti­na­ti in den Kom­po­si­tio­nen wäh­rend Dvořáks Auf­ent­halt in Ame­ri­ka (1892–95) wahr­schein­lich auf das Er­leb­nis mit trom­mel­be­glei­te­ten in­dia­ni­schen Ge­sän­gen zu­rück­ge­hen, die der Kom­po­nist nach­weis­lich auch in Spill­vil­le er­le­ben konn­te.

Ein be­son­ders mar­kan­tes Bei­spiel für ein rhyth­mi­sches Os­ti­na­to, also einer rhyth­misch ge­präg­ten Be­gleit­for­mel, die über weite Takt­stre­cken hin­weg un­ver­än­dert wie­der­holt wird, ist der Be­ginn des Fi­na­les von Opus 96.

HN 7232, S. 26, 4 Satz T. 1–8

Ich möch­te mich im Fol­gen­den auf eine Stel­le im Scher­zo des Quar­tetts kon­zen­trie­ren, auf die ich bei der Vor­be­rei­tung der in Kürze er­schei­nen­den Neue­di­ti­on (Par­ti­tur und Stim­men) ge­sto­ßen bin und die die Frage „böh­misch“ oder „ame­ri­ka­nisch“ in einer Pas­sa­ge mit os­ti­na­tem Rhyth­mus in zu­ge­spitz­ter Weise stellt. Es geht um die Takte 57 ff., in denen das vom Cello vor­ge­tra­ge­nen Thema in dop­pel­ter Weise durch rhyth­mi­sche Os­ti­na­ti kon­tra­punk­tiert wird.

HN 7232, S. 20, 3. Satz T. 57–62

Be­sag­te Os­ti­na­ti wei­sen zwei Va­ri­an­ten auf: durch­ge­hend auf dem­sel­ben Ton er­klin­gend oder als al­ter­na­tiv auf zwei oder drei Ton­stu­fen wech­seln­de, aber immer nach dem glei­chen Mo­dell wie­der­hol­te Rhyth­men. In der er­wähn­ten Scher­zo-Stel­le haben wir es mit der zwei­ten Va­ri­an­te zu tun: Die Vio­li­nen gren­zen mit ihrem mar­kan­ten Rhyth­mus den Terz­raum von f-moll ab, wäh­rend die Viola durch den Wech­sel zwi­schen f und des den Har­mo­nie­wech­sel des The­mas zwi­schen f-moll und Des-dur be­kräf­tigt. Zu­gleich aber bie­tet die Vio­la­stim­me mit dem Ak­zent auf der Zwei (der sich erst T. 62 ff. zur Eins wan­delt) einen rhyth­mi­schen Kon­tra­punkt zur stark be­ton­ten Eins die­ser Takte.

Der Blick in die Quel­len of­fen­bart hier al­ler­dings eine auf­fal­len­de Ab­wei­chung. Wäh­rend die Erst­aus­ga­be der Vio­la­stim­me kon­se­quent den Ak­zent auf die drit­te Note setzt, weist die Erst­aus­ga­be der Par­ti­tur in Takt 58 einen zu­sätz­li­chen Ak­zent auf der 1. Note auf.

Erst­aus­ga­be Stim­men (Vio­la­stim­me), 3. Satz T. 57-64

Erst­aus­ga­be der Par­ti­tur,3. Satz T. 49–64

Da die Stich­vor­la­gen und die Fah­nen­ab­zü­ge für die 1894 bei Sim­rock er­schie­ne­nen Aus­ga­ben von Stim­men und Par­ti­tur lei­der ver­schol­len sind, kommt als wei­te­re Quel­le nur das Au­to­graph in Be­tracht:

Au­to­gra­phe Par­ti­tur, 3. Satz T. 49–72

Tat­säch­lich no­tier­te Dvořák für die Viola in Takt 58 zwei Ak­zen­te, zur ers­ten und zur drit­ten Note, al­ler­dings kehr­te er – im Ge­gen­satz zum spä­te­ren Druck – be­reits im nächs­ten Takt zum „Nor­mal­mo­dell“ des Ak­zents auf der Eins zu­rück. Da die Erst­aus­ga­ben darin über­stim­men, in Takt 57 sowie 59–61 den Ak­zent zur drit­ten Note zu set­zen, sieht der Be­fund im Au­to­graph wie ein sim­pler Schreib­feh­ler aus. Nun hat aber Dvořák wie häu­fig in die­sem Quar­tett den Ak­zent auf der 1. Note durch fz (statt fp) un­ver­kenn­bar un­ter­stri­chen, was einen Schreib­feh­ler eher un­wahr­schein­lich macht. Der Blick auf die wei­te­re Be­zeich­nung der Fol­ge­tak­te – Takt 62 fz ohne Ak­zent, Takt 63 fp mit Ak­zent, Takt 64 fz mit Ak­zent, Takt 65 fp ohne Ak­zent – of­fen­bart je­doch, dass der Wech­sel zwi­schen fz und fp nicht kon­se­quent no­tiert ist. Da eine ähn­li­che Will­kür auch in den ge­druck­ten Quel­len vor­liegt, habe ich mich ent­schlos­sen, in all die­sen Tak­ten ein­heit­lich fp zu no­tie­ren.

Bleibt das Pro­blem mit dem dop­pel­ten Ak­zent in Takt 58. In der er­hal­te­nen Ver­laufs­skiz­ze zum Quar­tett no­tier­te Dvořák diese Stel­le ohne jeden Ak­zent. Mög­li­cher­wei­se no­tier­te er daher auch im Au­to­graph zu­erst die Noten, da­nach erst die Ar­ti­ku­la­ti­on nicht für jeden Takt se­pa­rat, son­dern je­weils für Takt­grup­pen. Dies würde die zahl­rei­chen Ver­se­hen – nicht nur hier, son­dern auch an an­de­ren Stel­len des Quar­tetts – zu­min­dest zum Teil er­klä­ren.

Die Frage, wel­che Ak­zen­tu­ie­rung dem Kom­po­nis­ten ur­sprüng­lich für diese Stel­le vor­schweb­te, lässt sich nicht mit Si­cher­heit be­ant­wor­ten, aber es scheint, als ob er zu­nächst nur Ak­zen­te auf die Eins der Takte set­zen soll­te, dann aber zu­min­dest zeit­wei­lig einen Wech­sel der Schwer­punk­te erwog. Sol­che Wech­sel der Schwer­punk­te  wi­der­spre­chen dem „ame­ri­ka­ni­schen“ rhyth­mi­schen Os­ti­na­to, er­in­nern aber an böh­mi­sche Volks­tän­ze, na­ment­lich an den „Fu­ri­ant“, für den Ver­schie­bun­gen der Schwer­punk­te cha­rak­te­ris­tisch sind. Hat sich Dvořák mit­ten im „ame­ri­ka­ni­schen Quar­tett“ für einen Au­gen­blick so­zu­sa­gen sei­ner böh­mi­schen Wur­zeln er­in­nert?

Au­to­gra­phe Par­ti­tur, 3. Satz T. 57–58 (Brat­schen- und Vio­lon­cel­lo­stim­me)

Ein Ar­gu­ment für diese These ist die Kor­rek­tur in Takt 57. Wenn man ge­nau­er hin­schaut, über­schreibt Dvořák mit fp einen zuvor zur ers­ten Note no­tier­ten Ak­zent. Ent­spre­chend wären die Ak­zen­te auf Zwei in den Tak­ten 57 und 58 erst nach die­ser Über­schrei­bung hin­zu­ge­fügt wor­den. Dann aber scheint es sich der Kom­po­nist doch an­ders über­legt zu haben, denn er ver­schob die Ak­zen­te der Takte 61–62 nicht von Eins auf Zwei, was dann na­he­lie­gend ge­we­sen wäre. Es sieht daher aus, als ob er von die­ser „böh­mi­schen“ Va­ri­an­te wie­der Ab­stand ge­nom­men hätte, je­doch die Takte 57–58 durch Til­gung der Ak­zen­te auf Zwei zu kor­ri­gie­ren ver­gaß.

Die These kann al­ler­dings nicht er­klä­ren, warum die Ori­gi­nal­dru­cke von Vio­la­stim­me und Par­ti­tur über­ein­stim­mend die Ak­zen­te auf Zwei nicht nur in den Tak­ten 57–58 (als ver­se­hent­li­ches Über­bleib­sel eines al­ter­na­ti­ven Mo­dells), son­dern auch in den Tak­ten 59–61 auf­wei­sen. Soll­te Dvořák sich nach dem Pro­be­durch­spiel ent­schlos­sen haben, doch auf den rhyth­mi­schen Kon­tra­punkt der be­ton­ten Zwei zu set­zen? Wenn ja, warum aber tut er dies nicht durch­gän­gig, son­dern be­lässt den Wech­sel zum Ak­zent auf Eins ab Takt 62?

Die Wi­der­sprü­che las­sen sich nicht auf­klä­ren. Viel­leicht ist die zu­ge­spitz­te Frage „böh­misch“ (re­gel­mä­ßi­ger Wech­sel der Schwer­punk­te) oder „ame­ri­ka­nisch“ (un­ver­än­der­te Wie­der­ho­lung der Schwer­punk­te) auch falsch ge­stellt, und Dvořák ent­schied sich letzt­lich für eine in­di­vi­du­el­le Mi­schung, um bei der Wie­der­ho­lung des The­mas die Be­glei­tung mit einer klei­nen Va­ri­an­te zu ver­se­hen.

Ich habe mich ent­schlos­sen, für die frag­li­che Stel­le in Takt 58 der Erst­aus­ga­be der Vio­la­stim­me zu fol­gen, aber auf die Va­ri­an­te mit dem dop­pel­ten Ak­zent in Au­to­graph und Erst­aus­ga­be der Par­ti­tur in einer Fuß­no­te hin­zu­wei­sen.

HN 7232, S. 20, 3. Satz T. 57–62

Wer nun Lust be­kom­men hat, sich das „Ame­ri­ka­ni­sche Quar­tett“ an­zu­hö­ren, dem sei eine Ein­spie­lung des Pražák Quar­tetts emp­foh­len.

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