Es ist hinlänglich bekannt, dass Chopin-Varianten einen Herausgeber – der alles daran setzt, dem Musiker einen gültigen Text an die Hand zu geben – zur Verzweiflung bringen können. Der Gedanke, dass man in seiner Verzweiflung nicht allein ist, kann jedoch eine tröstliche Wirkung haben. So erging es jedenfalls mir, als ich begann, eine revidierte Ausgabe (HN 1334) des 1. Scherzos h-moll vorzubereiten. Ich stieß dabei auf ein Dokument, das den berühmten Chopin-Schüler und Herausgeber Karol Mikuli in ziemlicher Ratlosigkeit zeigt.

Gegen Ende der 1870er Jahre bereitete Mikuli seine bis heute weit verbreitete Chopin-Ausgabe bei Kistner vor. Mikuli war „nah dran“ am Meister, und daher flossen vermutlich viele Korrekturen und Hinweise aus erster Hand in seine Edition ein. Trotz dieser Nähe konnte Mikuli offenbar an vielen Stellen nicht entscheiden, wie denn nun die korrekte Lesart lauten sollte. In seiner Unentschlossenheit wandte er sich offenbar an Zeitzeugen, die Chopins Spiel selbst noch gehört hatten und sich möglicherweise an die korrekten Lesarten erinnern konnten. Derartige Anfragen bei Auguste Franchomme und Ferdinand Hiller sind jedenfalls dokumentiert.

An Hiller schreibt er am 22. August 1879: „Die alten Original Editionen sind voll von divergirenden Lesarten, in welche die uns vorliegenden Autografe, da sie offenbar Schreibfehler (und das sehr oft) enthalten, nicht genug Licht zu bringen vermögen. […] Es bleibt uns nur Eine Hoffnung: Die Berufung an seinen alten, treuen Freund, der die Sachen so oft von ihm gehört, ja der sie entstehen sah. […] Hochgeehrter Herr und Meister, lassen Sie uns Ihr entscheidendes berichtigendes Wort in der Sache vernehmen. Einige Striche auf beyfolgendem Blatte werden uns genügen und wir werden glücklich seyn, Ihnen die Lösung der wichtigen Aufgabe zu verdanken.“

Seinem Brief fügte Mikuli Notenbeispiele mit gezielten Fragen an, die Hiller annotierte und an den Absender zurückschickte. Eine der interessantesten Stellen ist dabei ein Ausschnitt aus dem Scherzo h-moll, Takte 43–57:

Ausschnitt aus dem Brief Mikulis und Hillers. Original verschollen, Kopie in Warschau, Bibliothek des Fryderyk Chopin Instituts, Signatur F. 7371. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung

Mikuli möchte wissen, ob an den mit A, B und C markierten Stellen ein Haltebogen stehen soll oder nicht. Hiller notiert seine Vorstellungen in das Beispiel hinein, setzt jedoch bei A Haltebögen an die falsche Stelle und korrigiert sich selbst bei C. Um alle Missverständnisse auszuräumen, ergänzt er Mikulis darunter stehende Frage, sodass der Satz nun lautet: „Es gehört an den Stellen A, B zwischen beyde h eine Ligatur | bei C. keine.“

Das klingt nach großer Entschiedenheit. Die falschen bzw. korrigierten Eintragungen im Notenbeispiel deuten jedoch darauf hin, dass sich Hiller seiner Sache keineswegs sicher war. Verwunderlich ist das nicht, schließlich lag damals seine Bekanntschaft mit Chopin mehr als 40 Jahre zurück.

Worin aber liegt die Unsicherheit Hillers und Mikulis – sowie übrigens der meisten Pianisten unserer Tage, denn es ist eine berühmte „Chopin-Stelle“ – begründet? Die Wurzel des Übels liegt, wie so oft, in den Quellen. Ein Autograph ist nicht überliefert, lediglich drei Erstausgaben (Paris: Schlesinger, Leipzig: Breitkopf & Härtel, London: Wessel), von denen die deutsche und englische mehrfach korrigiert nachgedruckt wurde. Die Pariser Ausgabe strotzt von Fehlern, eine Korrekturlesung Chopins muss man hier ausschließen; dennoch geht sie vermutlich direkt auf das verschollene Autograph zurück. Die Leipziger und Londoner Ausgaben wurden auf der Basis der französischen Erstausgabe erstellt – durch Chopins Hände gingen sie nicht.

Die genannten Drucke geben die oben zitierte Stelle in allen erdenklichen Varianten wieder. Erschwerend kommt hinzu, dass die Haltebogen-Passage aufgrund der Wiederholungsstruktur des Scherzos insgesamt fünfmal (mit geringen Abweichungen) in allen Drucken ausnotiert ist. Und keine Ausgabe gibt sie an allen fünf Stellen auf die gleiche Weise wieder.

Da es mühsam ist, an dieser Stelle auf alle Details einzugehen (bitte schauen Sie in den Kritischen Bericht der demnächst erscheinenden Ausgabe) gebe ich im Folgenden nur statistische Tendenzen an: Die französische Erstausgabe sticht nur wenige Haltebögen. Darin folgt ihr die englische Erstausgabe. Die deutsche Erstausgabe setzt hingegen an fast allen Stellen Haltebögen. Eine spätere Auflage tilgt sie allerdings wieder. Um die Verwirrung komplett zu machen, werden fast alle Haltebögen in einer späteren Auflage der englischen Erstausgabe ergänzt. Was war geschehen?

Wir können nur spekulieren.
Szenario 1). Das Autograph setzte ursprünglich konsequent Haltebögen, die Chopin in einem Korrekturgang inkonsequent tilgte (oder das Autograph war schon zu Beginn in dieser Hinsicht inkonsequent). Entsprechend stechen die französische und englische Erstausgabe zumeist keine Haltebögen. Die deutsche Erstausgabe wurde von einem Lektor durchgesehen, der sinngemäß Haltebögen ergänzte.

Szenario 2) Das Autograph enthielt Haltebögen, die in der französischen Erstausgabe zunächst gestochen wurden. Breitkopf & Härtel erhielten von Schlesinger einen Fahnenabzug und stachen entsprechend die Haltebögen. In der Zwischenzeit ließ Chopin in einem Korrekturgang die Haltebögen bei Schlesinger wieder entfernen, woraufhin Wessel einen inkonsequent korrigierten Fahnenabzug von Schlesinger als Vorlage enthielt. Gegen dieses Szenario spricht, dass Chopin in einem Korrekturgang für Schlesinger vermutlich auch die zahlreichen übrigen Stichfehler eliminiert hätte. Zudem sind in Schlesingers Druck keine Spuren von Plattenkorrekturen erkennbar.

Die Veränderungen in den späteren Auflagen der deutschen und englischen Erstausgaben kamen vermutlich dadurch zustanden, dass die Verlage versuchten, ihre Drucke an die europäischen Parallelausgaben anzugleichen. Dabei griffen sie jeweils auf unterschiedliche Vorlagen zurück. Das Verwirrspiel geht in den späteren Ausgaben des 19. und 20. Jahrhunderts munter weiter. Mikuli folgt in seiner Edition übrigens tatsächlich den Empfehlungen aus Hillers Antwortschreiben.

Für unserer Ausgabe habe ich mich entschieden, die französische Erstausgabe als maßgeblich anzusehen. Ich gehe davon aus, dass die wenigen Haltebögen, die dort an den fraglichen Stellen notiert sind, versehentlich stehen blieben und dass Chopin alle Parallelstellen gleichlautend mit neu angeschlagener Oktave h hören wollte. Sicher bin ich mir nicht. Chopins letztes Wort zu der Stelle ist leider nirgends überliefert, und nur das verschollene Autograph könnte Licht ins Dunkel bringen – eher jedenfalls als Hillers Erinnerungen.

 

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