Vom Ge­nie-Ge­dan­ken der Ro­man­tik war Saint-Saëns denk­bar weit ent­fernt. Musik sei die Kunst, Töne nach­ein­an­der be­zie­hungs­wei­se mit­ein­an­der zu kom­bi­nie­ren, äu­ßer­te er ein­mal, und was seine künst­le­ri­sche Pro­duk­ti­on an­ge­he, so brin­ge er gemäß sei­ner na­tur­ge­ge­be­nen An­la­ge mu­si­ka­li­sche Werke her­vor – so wie ein Ap­fel­baum Äpfel her­vor­brin­ge. Die­ser Ver­gleich mag zu­nächst be­frem­den, ent­spricht aber voll­kom­men der Äs­the­tik von Saint-Saëns, der Form und Hand­werk beim Kom­po­nie­ren in den Vor­der­grund stell­te.

Her­aus­ge­ber von Ur­text-Edi­tio­nen pro­fi­tie­ren in­so­fern von die­ser nüch­ter­nen Sicht, als Saint-Saëns die nach dem Ent­wurfs­sta­di­um fest­ge­leg­te Kon­zep­ti­on für seine Werke meist als de­fi­ni­tiv ansah. Wäh­rend viele sei­ner Zeit­ge­nos­sen noch in Ab­schrif­ten oder Druck­fah­nen teil­wei­se ein­schnei­den­de Än­de­run­gen vor­nah­men, be­hielt er die Ver­si­on des Au­to­graphs bis in De­tails hin­ein in aller Regel un­ver­än­dert bis zur Ver­öf­fent­li­chung bei.

Diese Me­tho­de schränkt die Zahl der Va­ri­an­ten beim Quel­len­ver­gleich von vorn­her­ein ein. Sie be­deu­tet aber kei­nes­wegs, dass nicht doch frag­wür­di­ge Stel­len auf­tre­ten, in denen der Her­aus­ge­ber Ent­schei­dun­gen tref­fen muss – ge­le­gent­lich sogar gegen die Quel­len.

Als Bei­spiel mag Saint-Saëns’ 2. Cel­lo­so­na­te F-dur op. 123 die­nen, zu der ich ge­ra­de eine neue Ur­text-Edi­ti­on vor­be­rei­te (HN 1280). Das Au­to­graph zu der 1905 ent­stan­de­nen Kom­po­si­ti­on ist nur für den ers­ten Satz er­hal­ten. Der Ver­gleich der Quel­len für die­sen Satz zeigt, dass Saint-Saëns so man­che Stich­feh­ler in den Druck­fah­nen über­sah. In Takt 34 bei­spiels­wei­se wan­dert im Kla­vier die Figur der rech­ten Hand par­al­lel zur lin­ken ab­wärts. Die drei 32s­tel-No­ten der letz­ten Grup­pe müs­sen daher des–f–des1 lau­ten, in der Erst­aus­ga­be (und auch noch in der ge­gen­wär­ti­gen Du­rand-Edi­ti­on) fin­den wir da­ge­gen f–as–des1 – eine ty­pi­sche Terz­ver­wechs­lung des Ste­chers, wie der Ver­gleich mit dem iden­ti­schen Vort­akt zeigt (Takt 34 ist daher im Au­to­graph gar nicht aus­no­tiert).

Erst­aus­ga­be, Takte 32–36

In Takt 12 sehen wir, dass Saint-Saëns auch hier und da Nach­läs­sig­kei­ten bei der Nie­der­schrift un­ter­lie­fen. Vor der je­weils 10. Note c fehlt in den in Ok­ta­ven ge­führ­ten Trio­len im Kla­vier ein Auf­lö­sungs­zei­chen; of­fen­bar über­sah der Kom­po­nist, dass er zuvor den me­lo­di­schen Vor­halt cis (3. Note) no­tiert hatte (die ge­woll­te Folge c–d–e in die­ser 4. Trio­le ist ein­deu­tig, da sie noch im sel­ben Takt eine Ok­ta­ve höher wie­der­holt wird).

Au­to­graph, Takte 11–12

Die Erst­aus­ga­be folgt genau dem Au­to­graph, das als Stich­vor­la­ge dien­te:

Erst­aus­ga­be, Takt 12

Erst ein um 1910 er­schie­ne­ner Nach­druck kor­ri­giert die Stel­le:

Nach­druck, Takt 12

Ist in die­sen Fäl­len un­ab­hän­gig vom Quel­len­be­fund der in­ten­dier­te „Ur­text“ ein­deu­tig, so gibt es an einer an­de­ren Stel­le Zwei­fel. Ab Takt 94 setzt im Kla­vier eine ab­wärts ge­rich­te­te Folge von re­gu­lä­ren und ge­bro­che­nen Ok­ta­ven ein, die die Rück­lei­tung zum Ein­gangs­mo­tiv des Sat­zes (das Takt 97 im Kla­vier er­scheint) aus­schmückt. Har­mo­nisch han­delt es sich um eine sim­ple Do­mi­nan­te-To­ni­ka-Fol­ge, wie sie im Cello deut­lich mit C/c/g/e1F zum Vo­schein kommt. In­so­fern würde man ab Takt 95 im Kla­vier die ab­stei­gen­de Se­quenz b–g–e–c etc. er­war­ten, also mit den Noten des Sep­tak­kords von C-dur, der sich Takt 97 nach F-dur löst.

Au­to­graph, Takt 95–99

Erst­aus­ga­be, Takt 95–96.

Dem­ge­gen­über aber no­tiert Saint-Saëns b–g–e–cis–e–d (und wie­der­holt diese Folge in den nach­fol­gen­den Ok­ta­ven), ver­mei­det also den Grund­ton der Do­mi­nan­te und er­setzt ihn gleich­sam durch d, wel­ches durch die Ne­ben­tö­ne cis und e vor­be­rei­tet wird.

Bis hier­her er­scheint der uns an­ge­bo­te­ne „Apfel“ – um das ein­gangs zi­tier­te Bon­mot des Kom­po­nis­ten wie­der auf­zu­grei­fen –, noch frisch und ess­bar. Wie sieht es aber damit am Ende der Folge, in Takt 96, Zähl­zeit 4 aus? Ist hier cis nach dem Mo­dell zuvor oder doch c im Blick auf das F-dur zu Be­ginn von Takt 97 ge­meint? In bei­den Fäl­len wären Vor­zei­chen zu er­war­ten – ent­we­der ♮ als Warn­vor­zei­chen vor c oder er­neut ♯. Aber weder im Au­to­graph noch in der Erst­aus­ga­be fin­den sich sol­che Vor­zei­chen. Haben wir also hier einen „fau­len Apfel“ im „Baum“ von Op. 123?

Der schon er­wähn­te Nach­druck, der ei­ni­ge of­fen­sicht­li­che Feh­ler der Erst­aus­ga­be kor­ri­giert, aber ver­mut­lich ohne Be­tei­li­gung des Kom­po­nis­ten er­schien, er­gänzt ♯ vor dem tie­fen C1, (♯ vor C gilt ja noch) und deu­tet dem­zu­fol­ge eine Fort­set­zung des aus Takt 95 be­kann­ten Mo­dells an. Diese Er­gän­zung mutet je­doch in­so­fern in­kon­se­quent an, als jetzt nur die linke Hand cis, die rech­te aber wei­ter­hin c spielt.

Nach­druck, Takt 95–96.

Schaut man sich das Au­to­graph ge­nau­er an, fällt auf, dass be­reits in Takt 95 Vor­zei­chen feh­len. Saint-Saëns no­tier­te näm­lich ♭ nur ein­mal zu Be­ginn des Takts, wegen der ver­än­der­ten Ok­tav­la­ge müss­te es aber in Zähl­zeit 4 er­neut ste­hen. Of­fen­bar folgt der Kom­po­nist hier dem äl­te­ren (und an sich zu sei­ner Zeit nicht mehr gül­ti­gen) Prin­zip, wo­nach Vor­zei­chen bis auf Wi­der­ruf für alle nach­fol­gen­den Ok­tav­la­gen zu gel­ten haben. Legt man die­ses Prin­zip zu­grun­de, be­steht kein Zwei­fel mehr am vier­fa­chen cis Ende Takt 96.

In un­se­rer Edi­ti­on wird daher die­ser Les­art der Vor­zug ge­ge­ben.

HN 1280, Takt 95–96

Ein Rest an Zwei­fel bleibt je­doch, so­dass sich eine zu­sätz­li­che Fuß­no­te emp­fiehlt. Was mei­nen Sie, ver­ehr­te Leser?

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