Nicht nur bei der Fußball-Europameisterschaft 2016 steht Frankreich gerade im Mittelpunkt (leider hat es gestern abend nicht ganz zum Titelgewinn gereicht), sondern auch im Henle-Verlag, wo gerade zahlreiche neue Urtext-Ausgaben französischer Komponisten im Erscheinen begriffen sind.
Dazu gehören u. a. Gabriel Faurés bezaubernde „Dolly“-Suite für Klavier zu vier Händen (HN 1278), zwei Streicher-Sonaten von Maurice Ravel (HN 1271) und Camille Saint-Saëns (HN 1280), sowie als echter Geheimtipp das Klaviertrio g-moll von Ernest Chausson (HN 1277).
Doch auch die Bläser, für die die französische Musik bekanntlich so viel Schönes zu bieten hat, kommen nicht zu kurz: die Hornisten dürfen sich auf die kurz bevorstehende Neuausgabe eines „Schlachtrosses“ der Konzertliteratur freuen, nämlich Saint-Saëns’ Morceau de Concert f-moll op. 94 (HN 1284).
Wie so oft, hat auch beim Morceau de Concert die Untersuchung der autographen Quellen und der Vergleich der beiden originalen Fassungen (d. h. mit Klavier- oder Orchesterbegleitung) interessante Details zutage gebracht. Dadurch wird zwar der seit über einem Jahrhundert tradierte Notentext nicht umgestürzt, aber neben zahlreichen Präzisierungen der Artikulationsangaben konnten immerhin zwei abweichende Noten in der Solostimme aufgespürt werden.
Beispiel 1:
In Takt 34 lautet die letzte Note in der Orchesterfassung f (klingend notiert):
… hingegen in der Klavierfassung g:
Beispiel 2:
In Takt 58 hat die Orchesterfassung als letzte Note ein klingendes as:
…im Gegensatz zum f der Klavierfassung:
Was hier „falsch“ oder „richtig“ ist, lässt sich dabei kaum sagen. Aus musikalischer Sicht sind beide Lösungen möglich, wobei im 2. Beispiel für das as spräche, dass es besser mit dem Thema übereinstimmt, vgl. etwa die letzte Note in Takt 6:
Auch auf philologischer Ebene kommt man zu keinem eindeutigen Ergebnis, welcher Lesart der Vorrang gebührt. Saint-Saëns hat die beiden Fassungen des Morceau de Concert im Grunde zeitgleich komponiert: das Autograph der Klavierpartitur trägt die Datierung Oktober 1887, für die Fertigstellung der Orchesterfassung vermerkte Saint-Saëns in seinem Manuskript den 2. November 1887. Möglicherweise notierte er bei der Niederschrift der Orchesterpartitur die Hornstimme „aus dem Kopf“, anstatt sie 1:1 nach der bereits vorliegenden Klavierpartitur zu kopieren, so dass es zu den zwei Abweichungen kam. Wenn er die beiden Noten in der Partitur bewusst geändert hätte, würde er sie sicherlich auch nachträglich in der Klavierfassung korrigiert haben (in anderen Fällen ist das nämlich geschehen).
Auch als etliche Jahre später die Erstausgaben beider Fassungen erschienen, wurden diese Divergenzen vom Komponisten nicht beseitigt, die Drucke geben genau die Lesarten der jeweiligen Handschrift wieder. Selbst Nachdrucke zu Lebzeiten Saint-Saëns’ wurden nicht zur Vereinheitlichung oder Korrektur genutzt.
So haben wir in unserer Edition folgende Lösung gewählt: wir bringen im Notentext die Lesart der Klavierfassung (sicher die unter Hornisten bekanntere Variante), vermerken aber direkt mit einer Fußnote die alternative Lösung aus der Orchesterfassung:
(Bild zum Vergrößern anklicken)
In ähnlicher Form weisen wir übrigens auch auf andere kleine Varianten hin, etwa die Akzente in T. 5/6, die nur in der Orchesterfassung stehen. Auf diese Weise sind die Hornisten mit unserer Einzelstimme für alle Fälle gerüstet und können damit ihren Part auch problemlos mit Orchesterbegleitung spielen, ohne in zeitraubende Diskussionen mit dem Dirigenten („bei mir steht aber etwas anderes“…) zu geraten.
Und welche Variante würden Sie spielen? Schreiben Sie einen Kommentar!