Natürlich wünscht sich jeder Herausgeber einer Urtext-Edition eine möglichst lückenlose Quellenüberlieferung, angefangen von den ersten Skizzen eines Werks bis hin zur letzten zu Lebzeiten erschienenen und autorisierten Ausgabe. Ein besonders wichtiges Glied in dieser Kette stellen die autographen Korrekturen von Fahnenabzügen dar, da sie das Bindeglied zwischen Stichvorlage und Erstausgabe bilden und mithelfen, Abweichungen zwischen diesen beiden Quellen zu erklären.
Aber gerade diese Fahnenabzüge sind – dem Zweck solcher Fahnen entsprechend – nur in seltenen Fällen erhalten, da sie für den Verlag beziehungsweise Stecher nach Ausführung der Korrekturen ohne Wert waren und daher in der Regel nicht aufgehoben wurden.
Um 1900 waren zwei Fahnenabzüge, die dem Komponisten zur Durchsicht überlassen wurden, üblich; je nach Umfang, Besetzung und Schwierigkeitsgrad bestand aber auch die Möglichkeit – bei stark korrigierten Abzügen wohl auch die Notwendigkeit – weiterer Fahnen. Für Debussys Klaviermusik haben sich immerhin zu drei Werken solche korrigierte Fahnen erhalten, nämlich zur Suite bergamasque (erschienen bei Fromont 1904), zu Masques (Durand 1904) und zum ersten Heft der Préludes (Durand 1910). Die Fahnen zur letztgenannten Komposition verblieben beim Verlag Durand und sind daher bis heute für Außenstehende nicht einsehbar, die Fahnen für die beiden anderen Werke erbat sich Debussy zurück; sie befinden sich heute im Besitz der Pariser Bibliothèque nationale de France.
Im Folgenden wollen wir uns etwas ausführlicher mit der Fahne zu Masques beschäftigen, einem der wenigen größeren Einzelwerke Debussys für Klavier, das allerdings immer noch etwas im Schatten des bekannteren Schwesterwerks L’Isle joyeuse steht. Bei der Fahne, die auch online verfügbar ist, handelt es sich wahrscheinlich um den zweiten Abzug. Denn an einigen Stellen zeigt die Fahne gegenüber dem Autograph Änderungen, die Debussy in einem heute verschollenen ersten Abzug vorgenommen haben muss. Die erhaltene Korrekturfahne entspricht umgekehrt der publizierten Erstausgabe so stark, dass eine weitere Fahnenkorrektur ausgeschlossen werden kann.
Auch hier lohnt sich der Blick in dieses Bindeglied zwischen dem Autograph, das als Stichvorlage diente, und der Erstausgabe. An mehreren Stellen werden nachträgliche Eingriffe des Komponisten in seinen Notentext durch die erhaltene Korrekturfahne bestätigt. Vergleicht man beispielsweise die Takte 361–364 in Autograph und Erstausgabe, fällt auf, dass die als Warnhinweis gegenüber einer möglichen Verlangsamung des Tempos gemeinte Vortragsanweisung (sans retenir) von Takt 364 zu Takt 361 versetzt ist.
Hätte man nur diese beiden Quellen, würde man sicherlich der Lesart der Erstausgabe den Vorzug geben, denn die Anweisung ist ja nicht nur um drei Takte nach vorne versetzt (was durchaus ein übersehener Fehler des Setzers sein könnte), sondern überdies durch die neue Platzierung in größerer Schrift über dem System hervorgehoben – eine solche Abweichung kann nur auf den Komponisten selbst zurückgehen und erwartungsgemäß bestätigt die Fahne die autographe Änderung:
Aber Debussys Korrekturen im erhaltenen Abzug klären nicht nur Fragen, sondern werfen durchaus auch neue Fragen auf. Dies gilt insbesondere für die Korrektur in Takt 27:
Auf den ersten Blick mutet die Korrektur unproblematisch an: Debussy ändert im unteren System das Vorzeichen der mittleren Note, aus dem gedruckten Gis wird durch Debussys Korrektur ein G. Da auch das Autograph hier G hat (ohne Auflösungszeichen), korrigiert Debussy also nur einen Stichfehler. Der Blick auf die Parallelstelle Takt 296 (ab Takt 278 folgt eine verkürzte Reprise des Anfangs) scheint diesen Sachverhalt zu bestätigen, denn auch hier hat das Autograph kein Vorzeichen, notiert also G. In der entsprechenden Stelle in der Fahne ist allerdings ebenfalls ein Gis gedruckt, jedoch hier ohne jeden Korrektureintrag, so dass auch die Erstausgabe das Gis aufweist:
Dieser Befund zieht zwei Fragen nach sich:
1) Hat der Setzer sich tatsächlich zweimal verlesen und sowohl in Takt 27 als auch in Takt 296 versehentlich ein ♯ vor die Note G gesetzt? Eigentlich eher unwahrscheinlich, denn Debussy notierte trotz der notengetreuen Wiederholung beide Passagen aus (an anderen Stellen benutzte er für identische Passagen Buchstaben und schrieb diese in Leertakte als Verweis auf Wiederholungen). Außerdem hätte dann Debussy in der nicht erhaltenen ersten Fahne zweimal den Stichfehler übersehen – ebenfalls nicht sehr plausibel. Sobald man diese Möglichkeiten aber ausschließt, ergibt sich die Schlussfolgerung, dass Debussy in der ersten Fahne an beiden Stellen ein ♯ vor G hinzufügte, die Note also bewusst veränderte. Falls dies zutrifft, bedeutet die Korrektur in der zweiten Fahne in Takt 27 eine Rücknahme der Änderung. Nun sind harmonisch an dieser Stelle sowohl G als auch Gis möglich, denn Debussy bewegt sich zwischen den beiden Polen Es-dur und Fis-dur mit vielfältigen Zwischenstufen.
Die nächste Frage ist für die Edition noch gewichtiger:
2) Folgt man auch für Takt 296 dem Autograph mit G unter der Annahme, Debussy habe hier die Rücknahme seiner Änderung schlichtweg vergessen? Ein solches Vorgehen scheint naheliegend, aber da bei genauerem Hinsehen die Passagen Takte 22 ff. und 291 ff. kleine Unterschiede aufweisen (z. B. p expressif in Takt 22 gegenüber p in Takt 291, Bogenführung in der linken Hand T. 22–23 gegenüber T. 291–292), ist es keineswegs undenkbar, dass auch die Noten eine solch kleine Variante enthalten sollen. Ernst-Günter Heinemann als Herausgeber der Henle-Edition von Masques (HN 406) entschied sich, das Gis gemäß der Fahne und der Erstausgabe in Takt 296 zu belassen, aber mit einer Fußnote zu beiden Stellen auf die Einzelbemerkung zu verweisen, in der die Quellenlage ausführlich erläutert wird. So ist sichergestellt, dass der Interpret, auch dann, wenn er in Takt 296 G spielt, um die Korrektur in der Fahne und die damit verbundene Problematik weiß.