Von Anfang an stand der Klavierauszug von Ravels G-dur-Klavierkonzert auf der Wunschliste des Henle-Verlags, als es mit Blick auf 2008 darum ging, einen Plan für neue Urtext-Editionen von Ravels Klavier- und Kammermusikwerken zu entwerfen. Warum 2008? Ab dem 1. Januar 2008 – 70 Jahre nach dem Tod des Komponisten – fiel in den meisten Ländern der Urheberrechtsschutz weg. Allerdings blieb dieser Schutz ausgerechnet in Frankreich weiterhin bestehen, da dort für den Ersten Weltkrieg eine Verlängerung von 6 Jahren und 152 Tagen und für den Zweiten Weltkrieg eine weitere von 8 Jahren und 120 Tagen veranschlagt werden. Damit würden Werke Ravels, die nach dem 31. Dezember 1920 erschienen waren, erst am 1. Mai 2016, und solche, die davor veröffentlicht worden waren, erst am 29. September 2022 frei werden.
Keine besonders günstigen Voraussetzungen, um 2008 neue Editionen herauszubringen, denn es liegt ja auf der Hand, dass zahlreiche Quellen in Ravels Heimatland aufbewahrt werden und entsprechende Reproduktionen mit Verweis auf die laufende Schutzfrist verweigert werden könnten. Im Falle des Klavierkonzerts ergab sich zudem das Problem, dass der damalige Besitzer der autographen Orchesterpartitur, Jean-Jacques Lemoine, eine Reproduktion oder Einsichtnahme vor Ort mit der Begründung ablehnte, die Handschrift wäre bereits „Gegenstand einer ernsthaften Untersuchung“ – was auf ein Publikationsprojekt eines anderen Verlags mit exklusivem Zugang zum Autograph hinwies (gemeint war, wie sich später herausstellte, die Veröffentlichung des Eulenburg-Verlags von 2009).
Während Henle Urtext-Editionen einiger anderer Ravel-Werke mit günstigerer Quellenlage veröffentlichen konnte (darunter Jeux d’eau und Miroirs noch 2008), musste das Projekt Klavierkonzert wegen des nicht zugänglichen Autographs erst mal verschoben werden. Zwar gab es Gerüchte, dass der 2009 verstorbene Lemoine das besagte Manuskript dem Fürstentum Monaco vermacht habe, aber konkrete Informationen waren nicht zu erlangen. Erst der 2021 in der Revue de musicologie erschienene Aufsatz Le fonds de manuscrits musicaux de Maurice Ravel des Archives du Palais princier de Monaco von Manuel Cornejo bestätigte das Gerücht und gab den Fundort präzise an: das Archiv des Fürstenpalasts von Monaco. Da inzwischen die Schutzfrist für das 1931/32 beim Pariser Verlag Durand erschienene G-dur-Klavierkonzert abgelaufen war (die französischen Gesetze zum Urheberrecht gelten auch in Monaco), stand einer Neuedition nichts mehr im Wege, die als HN 1508 vor Kurzem erschienen ist.
Hauptquelle unserer Neuausgabe ist die Erstausgabe der Orchesterpartitur, da sie als autorisiert gelten kann. Zwar haben sich keine Dokumente zur Drucklegung erhalten, aber man kann davon ausgehen, dass Ravel wie üblich die heute verschollenen Fahnen selbst durchsah und korrigierte. Die Ausführung der Korrekturen dürfte er dem eng befreundeten Lektor des Durand-Verlags Lucien Garban überlassen haben. Für die Solostimme (die Orchesterstimmen seien hier außen vor gelassen) ist außerdem der von Garban erstellte Klavierauszug zu berücksichtigen, und zwar sowohl die Erstausgabe als auch eine erhaltene Korrekturfahne dazu, in der sich nicht nur Korrekturen von Garban finden, sondern auch (wenngleich sehr vereinzelt) von Ravel sowie von Marguerite Long, der Pianistin der Uraufführung. Bei fragwürdigen Stellen wurden ferner Eintragungen in den Handexemplaren des Klavierauszugs von Garban und Long zu Rate gezogen. Weiters enthält die Quellenliste noch nach 1966 erschienene Nachdrucke von Orchesterpartitur und Klavierauszug, die einerseits offensichtliche Druckfehler korrigierten, andererseits aber auch zahlreiche Dynamikangaben änderten.
Wie ist aber in dieser doch recht reichhaltigen Quellenüberlieferung das Autograph der Orchesterpartitur einzuordnen? Im Grunde handelt es sich um ein Doppelautograph, denn neben Ravels Niederschrift des Notentexts in Tinte l finden sich zahlreiche Einträge in Bleistift von der Hand Garbans. Dieser trug bei seiner Durchsicht der harmonisch und rhythmisch komplexen Partitur Korrekturen und Änderungen gleich in das Original ein – ein Verfahren, das sich bereits bei anderen autographen Partituren (wie etwa für Boléro) bewährt hatte. Die meisten dieser Einträge Garbans sind in der Erstausgabe berücksichtigt und damit offensichtlich autorisiert. Bei den in die Erstausgabe nicht übernommenen Korrekturen oder Änderungen ist nicht immer zu entscheiden, ob sie von Ravel abgelehnt wurden oder aus Versehen im Druck fehlen – hier gilt die musikalische Plausibilität als Richtlinie.
Dazu zwei Beispiele für die Solostimme.
Im ersten Satz lauten die beiden Akkorde für die rechte Hand in den Erstausgaben von Partitur und Klavierauszug in Takt 115 his2/dis3/fis3 und his1/e2/gis2:
Der Blick ins Autograph zeigt, dass Ravel den ersten Akkord zwar versehentlich als his2/dis3/fis3 notiert hatte, Garban dies aber links daneben zu his2/e3/gis3 korrigierte. Der zweite Akkord ist dagegen eindeutig (und ohne Änderung Garbans) als cis2/e2/gis2 notiert:
Korrekt muss die Stelle also wie folgt lauten (Garbans Korrektur der ersten Note für die linke Hand, fis statt dis, wurde in den Erstausgaben berücksichtigt):
Die beiden Akkorde wurden bereits in den erwähnten Durand-Nachdrucken geändert, was belegt, dass der unbekannte Bearbeiter in den 1960er Jahren Zugang zum Autograph gehabt haben muss.
Während diese beiden Stellen durch die markante Korrektur Garbans auffällig sind und daher auch in allen späteren Ausgaben anderer Verlage korrigiert wurden, betrifft das zweite Beispiel eine rhythmische Abweichung zwischen Autograph und den Erstausgaben von Partitur und Klavierauszug, die man leicht übersehen kann.
In den Druckquellen hat die rechte Hand im dritten Satz in Takt 219 zunächst eine Viertelpause, dann den Achtelakkord eis1/fis1/ais1, gefolgt von einer Achtelpause:
Im Autograph notierte Ravel dagegen (ohne Änderung von Garban) Achtelpause, Achtelakkord und Viertelpause:
Zwar lässt sich nicht ausschließen, dass Ravel in den Fahnen den Rhythmus geändert hat, aber mit Blick auf die analoge Stelle des Takts 22 (Klarinette) erscheint die Lesart des Autographs, die wir übernommen haben, plausibler:
Wie diese Beispiele zeigen, denen man noch weitere anfügen könnte, weist die Erstausgabe der Orchesterpartitur als Hauptquelle trotz der Korrekturlesungen von Ravel und Garban zahlreiche Abweichungen auf, die sich als Stichfehler erweisen – was bei einer so komplexen Partitur nicht wundert. Fraglos stellt das Autograph damit die wichtigste Nebenquelle für die Edition dar. Das Warten auf den Zugang zu dieser Quelle hat sich also zweifellos gelohnt.