Der Beginn des Jahres 2024 ist ein besonderer Moment für den G. Henle Verlag, denn wir haben soeben ein neues Programmsegment in unseren Katalog aufgenommen: Musik für Kammerorchester. Aus verschiedenen Kontexten, teils über unsere Gesamtausgaben, teils Werke betreffend, die sowohl kammermusikalisch also auch „chorisch“ musiziert werden können (etwa Mozarts „Kleine Nachtmusik“), hatten wir zwar auch schon zuvor Orchesterwerke und teils sogar Aufführungsmaterial im Programm. Mit Beginn 2024 bieten wir aber nun komplette Pakete an, bestehend aus:
- Dirigierpartitur im vergrößerten Format
- Studien-Edition
- Stimmen-Set (3.3.2.2.1) im Urtext-Format, wobei alle Stimmen auch als Einzel-Exemplare erhältlich sind
Den Auftakt bilden drei neue Urtextausgaben von bedeutenden Streicherserenaden: Dvoraks Opus 22 (HN 3300), Tschaikowskys Opus 48 (HN 1550) und Elgars Opus 20 (HN 3310). Mit Rupert Marshall-Luck, dem britischen Geiger, Elgar-Experten und Herausgeber unserer Elgar-Serenade, habe ich mich über die Besonderheiten dieser Edition unterhalten.
Norbert Müllemann (NM): Lieber Rupert, vielen Dank erst einmal für Deine Edition dieses Streich-Orchester-Klassikers! Die Elgar-Serenade gehört sicherlich zu den am meisten gespielten Stücken dieses Genres (Elgars Verleger der Erstausgabe konnte das noch nicht ahnen: Er bezeichnete die Serenade als eine „Art von Musik, die praktisch unverkäuflich“ sei). Welche Bedeutung hat dieses wunderbare Werk für Dich persönlich?
Rupert Marshall-Luck (RML): Nach meinem Empfinden hat die Serenade einen deutlichen „Freiluftcharakter“ – sie erinnert an eine steife Brise oben auf den Hügeln und an Frühlingssonnenschein. Ich gehe sehr gern wandern; wahrscheinlich löst der expressive Aspekt des Werks deshalb so viel in mir aus. Er wird besonders im ersten Satz deutlich, der eine wunderbare Lebendigkeit verströmt: Selbst an den gesanglichsten Stellen verleihen Achtelüberbindungen, die Off-Beats erzeugen, der Hauptmelodie ein inneres Pulsieren. Der zweite Satz ist von besonders tiefem, warmem Ausdruck: Klangaufteilung und Artikulation sind perfekt auf Streicher abgestimmt, sodass sich ein herrliches Gefühl der Leichtigkeit einstellt, frei von jeder Anstrengung. Der dritte Satz hat, wie der erste, einen spannungsgeladenen und gleichzeitig lyrischen Charakter, aber noch etwas anderes teilt sich mir hier mit: ein unterschwelliges Sehnen, wie es aus so vielen späteren Werken Elgars spricht – zum Beispiel aus der As-dur-Symphonie oder dem zweiten Satz des Violinkonzerts.
Elgar selbst hielt anscheinend große Stücke auf dieses Werk; über die Frühfassung, die Three Sketches für Streichorchester, schrieb er: „Ich mag sie (die ersten Stücke, über die ich das je gesagt habe)“, und die Serenade war eines der letzten Stücke, die er (am 23. Juli 1933) aufgenommen hat. Seine frühe Begeisterung erhielt jedoch insofern einen empfindlichen Dämpfer, als das Werk später vom ersten Verlag, dem er es anbot, Novello, abgelehnt wurde. Bekanntlich konnte er während seiner gesamten Laufbahn nur schwer mit Ablehnung im beruflichen Bereich umgehen, und man kann sich leicht ausmalen, dass Novellos Einschätzung für ihn schwer zu ertragen war, auch wenn sie mit der Wirtschaftlichkeit und nicht mit dem (unverkennbar hohen) künstlerischen Wert der Serenade zusammenhing.
NM: Die Quellenüberlieferung ist für eine Urtextausgabe als ausreichend, allerdings nicht als ideal zu bezeichnen. Zwar sind drei Autographe überliefert, die Material aus allen drei Sätzen in unterschiedlich finaler Form festhalten, die reinschriftliche Stichvorlage für die Partitur (oder die Stimmen) ist jedoch nicht erhalten. Die Erstausgabe ist eindeutig von Elgar autorisiert. Was hat diese Quellenlage für die Edition bedeutet? Können wir uns immer sicher sein, den Notentext so wiederzugeben, wie ihn Elgar sich vorstellte?
RML: Ja, richtig – manchmal sind solche „Lücken“ im Quellenmaterial ausgesprochen frustrierend, vor allem, wenn die Einsicht in eine der fehlenden Quellen ein Problem, das ansonsten ein hohes Maß an Überlegung erfordert, ganz einfach lösen könnte! Bei dieser Edition sahen wir uns einmal mit genau dieser Situation konfrontiert: Vom dritten Satz existiert eine autographe, fast vollständige Quelle, und Elgar hat dort einige Töne mit Flageolett-Zeichen markiert, die nicht in die Erstausgabe übernommen wurden. Flageoletttöne auf Streichinstrumenten klingen völlig anders als normal gegriffene Töne. Deswegen musste man darüber nachdenken, ob diese Zeichen einfach übersehen wurden, oder ob Elgar es sich anders überlegt hatte. Es lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, zu welchem Zeitpunkt diese Markierungen „verschwanden“ (oder getilgt wurden), denn es liegen keine Quellen vor, die die „Lücke“ zwischen Autograph und der fertigen Druckfassung „füllen“. Letztlich entschieden wir uns dafür, die Flageolett-Zeichen in unsere Edition aufzunehmen, aber in den Einzelbemerkungen unseres Kritischen Berichts ausdrücklich zu erwähnen, damit unser Vorgehen für Benutzer der Edition nachvollziehbar ist.
Die zweite sehr wichtige Entscheidung, die wir fällen mussten, betrifft die zahlreichen Diskrepanzen bezüglich der dynamischen Zeichen im Partitur-Erstdruck und in den Einzelstimmen; besonders problematisch waren Platzierung und Länge der Gabeln. Am Anfang der Überlegungen stand die Frage, ob die Partitur oder der Stimmensatz den Notentext generell gründlicher und konsequenter wiedergibt – was nicht bedeutet, dass die Lesart der fraglichen Quelle immer übernommen wird, aber dies ist zumindest ein sinnvoller Ansatzpunkt, von dem aus man andere Alternativen in Betracht ziehen kann. In unserer Ausgabe haben wir zumeist der Lesart in den Einzelstimmen den Vorzug gegeben, aber es gab Fälle, in denen dies zu Inkonsequenzen der dynamischen Abstufungen zwischen den einzelnen Instrumenten geführt hätte, und dann wurde stattdessen zumeist die Lesart der Partitur benutzt.
Es liegt eine weitere, recht aufschlussreiche Quelle zu diesem Werk vor: eine von Elgar selbst eingerichtete Fassung für Klavier vierhändig, die ungefähr zeitgleich mit der viel bekannteren Bearbeitung für Streichinstrumente erschien, dann aber weitgehend in Vergessenheit geriet. Gleichwohl leistete sie gute Dienste bei der Entscheidung, wo eine Dynamikangabe platziert werden und wie lange sie gelten sollte. Außerdem gibt diese Fassung an vielen Stellen Auskunft über Elgars Absichten bezüglich der Klangschichtung innerhalb der Faktur des musikalischen Satzes.
Insgesamt glaube ich, dass die Verschiedenartigkeit des verfügbaren Quellenmaterials uns gestattete, mit größtmöglicher Sicherheit den Notentext so wiederzugeben, wie es Elgar beabsichtigte. Die Einrichtung einer wissenschaftlich-kritischen Ausgabe fühlt sich mitunter an, als würde man ein archäologisches Artefakt zusammensetzen, aber es ist ein faszinierender, äußerst anregender Prozess. Es ist immer wieder ein gewisses Maß an Interpretation nötig – keine Quellenlage ist perfekt, nicht immer geht alles aus der Notation hervor, und natürlich ist es möglich, aus demselben Material unterschiedliche Schlussfolgerungen zu ziehen. Deshalb ist der Kritische Bericht so wichtig, denn dort wird jede Entscheidung des Herausgebers offen dargelegt.
NM: Im Verlauf unserer Zusammenarbeit an diesem Stück hat sich ein Problem immer wieder gestellt: Die Hauptquelle überliefert Parallelstellen in abweichender Form. Oder, ähnlich schwierig: In der Partitur-Vertikalen sind Dynamikangaben nicht für alle Stimmen gleichermaßen notiert. Du hast dafür plädiert, diese Abweichungen nicht anzugleichen, den Text nicht einzuebnen, sondern diese Stellen gemäß Hauptquelle wiederzugeben, inklusive der „Leerstellen“ oder Diskrepanzen. Ich habe mich gern davon überzeugen lassen – kannst Du unseren Lesern noch einmal kurz erklären, welche Deine Gründe waren?
RML: Elgar ging bei der Klangschichtung seiner Musik akribisch vor (und das nicht nur in diesem Werk, sondern in seinem gesamten Schaffen); er hatte immer eine ganz klare Vorstellung von Art und Tiefe der Satzstruktur, die er erzielen wollte – wie man also eine einzelne Linie oder mehrere Stimmen im Verhältnis zu den anderen hervorheben sollte –, und er überlegte für jede Stelle aufs Neue. Er verfügte über ein beträchtliches Fachwissen als Geiger und wusste ganz genau, wie Streichinstrumente funktionieren, welche Art von Bogenführung welchen Klang hervorbringt, ja sogar, welcher Fingersatz den gewünschten Höreindruck erzeugt. Deswegen glaube ich, dass Elgar, wenn er z. B. für ein und dieselbe Stelle in den Noten unterschiedliche Bogenstriche für verschiedene Instrumente vorschreibt, bestimmte Gründe dafür hatte, und deshalb sollten diese scheinbaren Diskrepanzen in der Ausgabe auch erhalten bleiben.
Wie Du sagst, stellte sich auch an Parallelstellen das Problem unterschiedlicher Bogenführung, Artikulation und Dynamik, und aus den eben genannten Gründen halte ich es für wahrscheinlich, dass diese Diskrepanzen für Elgar einen bestimmten Zweck hatten. Sie ermöglichen es den Hörern, eine bestimmte Stelle aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten: Vielleicht erhält eine Linie eine andere Kontur, weil durch den Bogenstrich ein anderer Melodieton akzentuiert wird; oder ein bestimmtes Motiv bekommt durch eine veränderte Artikulation einen neuen Charakter. Die Noten sind die gleichen, aber die wahrgenommene Form ist eine andere, so wie eine Skulptur einen anderen Anblick bietet, wenn man beim Betrachten die Perspektive wechselt.
Es gibt auch einige Stellen, an denen die Dynamik offensichtlich „fehlt“, d. h., die Dynamik in einer Stimme wird scheinbar durch die anderen Stimmen impliziert, aber nicht explizit notiert. Wir haben überlegt, die Dynamikzeichen in solchen Fällen editorisch zu ergänzen, uns dann aber doch dagegen entschieden. Oft hätte es nämlich mehr als eine plausible Möglichkeit gegeben, das Notierte umzusetzen, und wir waren der Meinung, dass sich das „Vorschreiben“ einer bestimmten Umsetzung zu weit auf das Gebiet der Interpretation begeben würde – einen Bereich, den die Ausführenden viel besser untersuchen können!
NM: Eines der immer wiederkehrenden Probleme bei Orchesterpartituren mit Streichinstrumenten sind diejenigen Stellen, an denen eine Gruppe geteilt wird, also die berühmten Divisi– und Tutti-Stellen. Wie sieht das in den Quellen aus, wie notierte Elgar diese Passagen? Ist immer klar, ob Divisi oder Tutti gemeint ist? Wie hast Du das in Deiner Neuausgabe gelöst?
RML: In einem orchestralen Streichersatz kann man eine sattere Textur erzielen, wenn man der einen Hälfte einer Stimmgruppe in einem bestimmten Abschnitt eine Linie zuweist und gleichzeitig die andere Hälfte eine andere Linie spielen lässt. Manchmal bezieht sich eine solche Satzart nur auf eine oder zwei Noten einer Phrase; mitunter wird aber auch eine längere Passage so gesetzt. In der Serenade kennzeichnet Elgar eine derartige Teilung auf drei Arten: Er schreibt ausdrücklich die Anweisung „divisi“; er „markiert“ die geteilten Abschnitte durch unterschiedliche Halsung; oder er schreibt (in diesem Werk weniger häufig) die beiden getrennten Stimmen jeweils in eigene Notensysteme. Manchmal weicht die Notation der Erstausgabe zwischen der Partitur und den Stimmen ab, wobei die eine Quelle Divisi angibt, die andere hingegen keine ausdrückliche Anweisung enthält. In diesen Fällen standen wir vor der Entscheidung, welche Lesart die maßgebliche sein sollte, und oft bedeutete dies, den weiteren musikalischen Verlauf des Stücks zu untersuchen – die Klangdichte, die sich aus der Textur der jeweiligen Passage ergibt. Beispielsweise haben die ersten Violinen gegen Ende des zweiten Satzes drei Pizzicato-Akkorde. Diese sind in der Partitur jeweils mit einem gemeinsamen Notenhals notiert (was Unisono bedeutet), in der Stimme hingegen mit getrennten Hälsen (d. h. Divisi).
Welche Lesart hat Elgar nun beabsichtigt? Das Motiv wäre völlig problemlos als Doppelgriff ausführbar – d. h. jeder Musiker in der Gruppe spielt beide Noten jedes Akkordes; der spieltechnische Aspekt macht also keineswegs eine divisi-Aufteilung zwingend erforderlich. Allerdings ergibt sich, wenn man auf einem Streichinstrument Pizzicato-Doppelgriffe spielt, immer ein gewisses „Klappern“ zwischen den Tönen: Aufgrund der Gegebenheiten des Instruments werden die beiden Noten nie genau gleichzeitig erklingen. In diesem speziellen Kontext fällt jeder der Pizzicato-Töne in der ersten Geige mit (einzelnen) Pizzicato-Tönen des Kontrabasses zusammen, und die würden im Zusammenspiel nicht genau gleichzeitig erklingen, wenn die ersten Geigen non divisi spielen. Hier war also offenbar die Lesart in der ersten Geigenstimme die beabsichtigte und nicht diejenige in der Partitur.
Auch bei Stellen, an denen eindeutig divisi gemeint ist, bestand eine weitere Schwierigkeit darin, die Platzierung von Dynamik und Artikulationszeichen zu klären, die manchmal in geteilten Stimmen unterschiedlich sein soll. Elgar schreibt solche Aufführungshinweise gern sowohl über als auch unter das Notensystem, und manchmal ist es nötig, sich an diese Praxis zu halten. Wo aber Dynamik und Artikulation zwischen den Stimmen identisch sind, schien es überflüssig, diese Verdopplung haargenau so in unsere Ausgabe zu übernehmen. Wir haben versucht, zwischen der getreuen Wiedergabe von Elgars Notation und der Reinhaltung des Satzbildes einen Mittelweg zu finden – und ich denke, das ist uns gelungen!
NM: Wenn Du es kurz auf einen Punkt bringen könntest: Was unterscheidet unsere Ausgabe von denjenigen, die bis jetzt auf dem Markt sind, und was sind die wichtigsten Vorzüge?
RML: Die genaue Prüfung aller verfügbaren Quellen und die sorgfältige Abwägung all unserer Entscheidungen haben meiner Meinung nach eine Ausgabe hervorgebracht, die dem von Elgar beabsichtigten Notentext so nahe kommt wie irgend möglich. Wie schon erwähnt, haben wir der Versuchung widerstanden, den Text zu „glätten“ und „aufzuräumen“, um offensichtliche Diskrepanzen auszumerzen. Es war uns lieber, diese gar nicht als Diskrepanzen zu betrachten, sondern als Fixierung eines von Elgar durchgeplanten Satzgewebes. Unsere Lesart wird sich bei Aufführungen bewähren und, wie wir glauben, zu Darbietungen dieses wunderbaren Werks führen, die eine zusätzliche Tiefe und Energie offenbaren – ein frische, vitale Annäherung an die Musik.
Nicht zuletzt wird die Ausgabe natürlich im wunderschönen Notensatz von Henle präsentiert. Ich benutze Henle-Ausgaben, seit ich als Junge Geige lernte, und meiner Meinung nach ist die Qualität des Henle-Notensatz völlig einzigartig – er ist wunderbar klar, Noten- und Textschrift sind ideal proportioniert, und die Abstände zwischen den Noten selbst sowie die Anordnung der Notensysteme auf der Seite sind perfekt gehandhabt. Auch die Druckqualität ist immer ausgezeichnet, alle Linien und Ränder sind gestochen scharf, die Notenköpfe sind von satter Färbung, und sogar Gewicht und Farbe des Papiers wurden sorgfältig ausgewählt. All dies bedeutet, dass Orchestermusiker, Dirigenten und Wissenschaftler gleichermaßen ihre Freude an dieser Edition haben werden. Schöne Musik verdient einen schönen Notensatz – und Elgars Serenade in dieser Henle-Ausgabe vereint beides!
NM: Vielen Dank!
RML: Mit dem größten Vergnügen!
Und für alle, die das bezaubernde Werk nicht im Ohr haben, hier noch ein Höreindruck: