
Charles Valentin Alkan um 1865 (Fotografie unbekannten Ursprungs, Bibliothèque nationale de France, Paris)
„Alkan? Viele Noten!“ – Das bekommt man zu hören, wenn man berichtet, man habe für Henle die Symphonie für Klavier des französischen Komponisten Charles Valentin Alkan (1813–1888) ediert: HN 1657. Und in „viele Noten“, gepaart mit gekonnter französischer Aussprache von „Alkan“, erschöpft sich dann auch das Alkan-Wissen vieler musikalischer Fachleute, mich bis vor einiger Zeit eingeschlossen. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, wie sehr Alkan die Öffentlichkeit mied, deckt sich aber in keiner Weise mit der zunehmenden Bedeutung (dokumentiert in einer anwachsenden Zahl von Einspielungen), die seiner Musik von jenen beigemessen wird, die sich mit dem Klaviervirtuosentum des 19. Jahrhunderts befassen oder gar in der Lage sind, die Werke zu spielen. Keine Frage, man braucht dafür pianistisch meisterliche Hände. Drei sind ideal. Der große Pianist Marc-André Hamelin zum Beispiel gehört zu jenen wunderbaren Alkan-Interpreten, die drei Hände haben.
Es gab Zeiten, da zählte man Alkan zu den wichtigsten Magiern des Klaviers. Franz Liszt zeigte sich von Alkans Klavierspiel geradezu eingeschüchtert, und das will etwas heißen. Als Ferruccio Busoni einst aufzählte, wer für ihn die bedeutendsten Klavierkomponisten nach Beethoven seien, nannte er Liszt, Chopin, Schumann, Brahms und – Alkan. Alkan muss also ein Henle-Komponist erster Güte sein, und gäbe es nicht Isaac Albéniz und Tomaso Albinoni, thronte er an der Spitze des alphabetischen Katalogs.
An der Spitze, das hat Wolfgang Rathert in seinem Vorwort zu unserer Ausgabe der Symphonie erläutert, stehen auch Alkans Douze Études dans tous les tons mineurs op. 39 – an der Spitze dessen, was in der Gattung Etüde im 19. Jahrhundert kompositorisch vollbracht wurde. Dieser Etüdensammlung ist die Symphonie entnommen; man darf bei diesem Werktitel also nicht an eine klassische Orchestersymphonie denken. In Opus 39 hat Alkan, einem Tonartenplan mit anwachsender Zahl von b-Vorzeichen, enharmonischem Scharniergelenk und abnehmenden Kreuzvorzeichen folgend, zwölf Klavieretüden in sämtlichen Molltonarten komponiert. Schlägt man die Ausgabe der Symphonie auf, springen einem die Abenteuerlichkeiten ins Gesicht. Babylonische Akkordtürme, verschlungene Girlanden aus Halte- und Legatobögen, an manchen Stellen Schwärme von Doppelkreuzen, die einem deutlich mitteilen, dass sich die betroffenen Takte entschieden von der eigentlich vorgezeichneten Tonart distanzieren.

Symphonie, 1. Satz: Zeugnisse akkordischer Turmbaukunst des mittleren 19. Jahrhunderts, Henle-Urtext
Selbst das freundlich dreinblickende Menuett wird durch sein rabiates Tempo zu einem wahren Hexentanz. Teil ihrer besonderen Aura ist, dass Alkan seinen Etüden op. 39 mitunter sprechende Namen verliehen und manche zu Binnengruppen zusammengefasst hat. Unsere Symphonie besteht aus den Etüden Nr. 4–7, dahinter folgt ein ebenfalls vier Etüden umfassendes Concerto. Die Etüde Nr. 12 schließlich, Le Festin d’Ésope, ist als HN 1394 schon länger im Henle-Urtext verfügbar.
Obwohl man in der Musikgeschichte exzentrische Genies so schätzt, geriet Alkan nahezu in Vergessenheit, was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass sich der tiefgläubige Jude jahrelang für Bibel-Übersetzungen und Talmud-Studien ins Private zurückzog und kaum in Erscheinung trat, wo andere ihre Musik wirksam vermarkteten.
Umso mehr ist Alkan mit seiner Kunst heute eine Wiederentdeckung. Meistens wird die Symphonie nach wie vor als Reproduktion der Erstausgabe aus dem Jahr 1857 gedruckt. Unsere Ausgabe verleiht ihr nun die Henle-Urtext-Qualität. Das moderne, dichte, zugleich aufgeräumte Notenbild bewahrt wichtige Besonderheiten der Notation, befreit sie aber von unnötigen Zeichenballungen und heute eher verwirrenden Eigentümlichkeiten. Und obgleich die Erstausgabe dank Alkans Pedanterie schon arm an Fehlern ist, konnten noch etliche problematische Stellen geklärt werden.
Den Fingersatz hat wie bei Le Festin d’Ésope der großartige Pianist und Alkan-Kenner Vincenzo Maltempo beigesteuert. Diesen Fingersatz im Manuskriptstadium selber durchzufingern, war für mich ein Erlebnis. Ob er an einer verzwickten Stelle ein ziemlich großes Intervall wirklich mit dem 5. und 2. Finger spielen wolle, fragte ich Maltempo unter anderem. Ja, natürlich. Er hatte dafür eine präzise musikalische Herleitung parat, meinte aber vor allem, das sei schließlich immer noch eine Etüde, „also wäre es eine Möglichkeit, Legato und Fingerdehnung zu verbessern.“ Für mich als Klavier-Normalsterblichen klang das ziemlich lustig, denn nach dieser Logik wäre eine Achttausenderbesteigung eine hübsche Gelegenheit, um im Vorübergehen noch ein bisschen das Festhalten in überhängenden Felswänden zu üben. Aber natürlich hat Maltempo in seinem Virtuosendenken recht, denn wer Alkan spielt, bewegt sich in den maximalen Höhen der Klavierakrobatik.

Sehr geehrter Herr Pernpeintner,
vielen Dank für den anschaulichen Beitrag über Charles Valentin Alkans viersätzige „Symphonie“ (aus den zwölf Moll-Etüden op. 39), die sich hoffentlich durch Ihre Ausgabe weiter verbreitet.
Ich selbst habe Alkans Musik in den späten 1980er Jahren durch das kleine, aber feine, seit Langem weit über Deutschland hinaus bekannte spätsommerliche Festival „Raritäten der Klaviermusik“ im Schloss der nordfriesischen Stadt Husum kennengelernt. Diese in der Regel achttägige, 1987 vom Berliner Pianisten Peter Froundjan begründete und bis heute geleitete Konzertreihe kann man wiss- und genussbegierigen Klaviermusik-Enthusiasten und -Enthusiastinnen nur wärmstens ans Herz legen. Im kommenden Jahr kann sie ihr 40-jähriges Bestehen feiern (22.–29. August 2026). Schon 1989 spielte beispielsweise Marc-André Hamelin im Rittersaal des Husumer Schlosses das gigantische dreisätzige „Concerto“ (ebenfalls aus op. 39) live; im gleichen Jahr war zudem der britische Alkan-Altmeister Ronald Smith dort zu Gast. Auch in einem der Konzerte 2025 war wieder einmal Alkan zu hören (durch den jungen Briten Mark Viner): Es ist oft Musik mit ‚doppeltem Boden‘, die mit ihren Ideen, Kontrasten und Pointen Spielende und Hörende emotional, intellektuell, in ihrer Polarität von ‚Modernitätʼ und Geschichtsbewusstsein herausfordert (ganz abgesehen von ihren pianistischen Ansprüchen).
Ob der G. Henle Verlag auch einmal erwägen wird, kürzere Formate Alkans zu veröffentlichen – beispielsweise die Sammlung der 48 vergleichsweise kurzen „Esquisses“ op. 63, die in der Klaviermusik-Literatur verschiedentlich mit Chopins Préludes oder gar Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ verglichen wurden. Die fünf Hefte „Recueil de Chants“ (eine typisch Alkan’sche Antwort auf Mendelssohns „Lieder ohne Worte“) verdienten sicherlich ebenfalls Beachtung. Ja, das Schlussstück der dritten Sammlung – die „Barcarolle“ op. 65/6 (deren Mittelteil man fast „Die Erfindung der Blue Note“ nennen könnte – hat zweifellos das Zeug zum Ohrwurm, wenn nicht sogar zu einer (dünnen) Einzelausgabe…
Mit guten Wünschen für weitere Alkan-Entdeckungen des Verlages grüßt
Michael Struck