Kennen Sie das? Sie sind seit Jahren
mit einem Bild oder einem Musikstück vertraut, haben es unzählige Male betrachtet bzw. angehört – und dann fällt Ihnen ein bislang unbemerktes Detail auf, das Ihrer Sichtweise auf das Kunstwerk eine neue Richtung gibt. So erging es mir, als ich mein Lieblingsklavierkonzert von Mozart (Nr. 27, B-dur, KV 595) als Lektor auf dem Tisch hatte. Aber nun erstmal der Reihe nach.
Mozarts Klavierkonzerte erscheinen im G. Henle Verlag in unregelmäßiger Folge – zuletzt war das Krönungskonzert dran. Und jetzt kommt Mozarts letztes, sein vielleicht berührendstes Konzert, dasjenige in B-dur KV 595 (HN 7534, HN 1534). Unsere kleine Reihe (die übrigens nicht auf Vollständigkeit angelegt ist) sucht sich als Paten jeweils Pianisten von Weltrang, die Fingersatz beisteuern und Kadenzen und Eingänge komponieren. Bei KV 595 war das Piotr Anderszewski, aber dazu später. Herausgeber dieser Neu-Edition ist Wolf-Dieter Seiffert, ehemaliger Verlagsleiter und ehemaliger Henle-Blog-Autor, der zugleich ein ausgewiesener Mozart-Experte ist.
Ich habe seit Jahren die Freude, Herrn Seifferts Mozart-Ausgaben als Lektor zu betreuen. Und bei jeder (wirklich jeder!) Edition, die ich begleitet habe, gab es spannende philologische Neuigkeiten zu entdecken. Wer meint, zu Mozart sei alles gesagt, täuscht sich gewaltig! Das liegt einerseits daran, dass sich in der Mozart-Forschung Sichtweisen geändert haben (Erstausgaben, die zu Lebzeiten Mozarts erschienen sind, werden heute viel ernster genommen als früher), aber auch daran, dass man einmal geäußerte Hypothesen gelegentlich als gültige Wahrheiten akzeptiert, die sich so über viele Forschergenerationen weitervererben. Oft halten diese vermeintlichen Wahrheiten den historischen Befunden aber nicht stand. Wolf-Dieter Seifferts Ausgabe des Standardwerks KV 595 wartet folglich mit zahlreichen Überraschungen auf!
Für gewöhnlich nehmen wir an, Mozart habe seine Klavierkonzerte für eigene Aufführungen komponiert, für Konzerte, oder wie es damals hieß „Akademien“, bei denen er dann selbst am Klavier saß. Auch für sein letztes Klavierkonzert ging man bislang davon aus (siehe etwa den Wikipedia-Artikel dazu). Einen Beleg für eine solche Aufführung sucht man allerdings vergebens. Wolf-Dieter Seiffert führt in seinem Vorwort – wie ich finde – sehr überzeugend aus, dass auch ein anderes Szenario denkbar wäre. Dass KV 595 noch zu Mozarts Lebzeiten erklang, liegt auf der Hand, denn es sind zwei Kadenzen sowie ein Eingang von seiner Hand überliefert. Diese hätte er sicher nie „auf Vorrat“ zu Papier gebracht, sondern nur für eine konkrete Konzertsituation. Warum aber hätte er diese improvisatorischen Elemente im Detail für sich selbst aufschreiben sollen? Mozart hat Kadenzen und Eingänge sicherlich nie nach Noten gespielt. Liegt es nicht näher, dass er sie für jemand anders notiert hat?
Und noch etwas Anderes fällt auf: Der Klavierpart ist verhältnismäßig leicht spielbar, es handelt sich jedenfalls nicht um ein Virtuosen-Konzert (beim Lektorieren habe ich überrascht festgestellt, wie gut alles in der Hand liegt; immer wieder habe ich mich bei dem Gedanken ertappt: „Das könnte ich auch spielen“ – was ich natürlich keinem Publikum zumuten möchte). Zudem ist KV 595 noch zu Mozarts Lebzeiten im Druck erschienen, ein Umstand, den nur drei weitere Klavierkonzerte Mozarts teilen, nämlich KV 413–415. Vieles haben diese früheren drei Konzerte mit KV 595 gemein: die Drucklegung, den moderat schwierigen Klavierpart sowie die verhältnismäßig kleine Orchesterbesetzung.
War das möglicherweise Verkaufsstrategie? Hat Mozart diese Konzerte und damit auch KV 595 nicht für einen eigenen Auftritt, sondern im Hinblick auf eine Veröffentlichung komponiert? Und wollten Verleger und Komponist mit den genannten Merkmalen eine möglichst breite Käuferschicht ansprechen? Sicher entscheiden können wir diese Frage nicht, aber Wolf-Dieter Seifferts Argumente werfen ein ganz neues Licht auf die Entstehungsbedingungen von Mozarts letztem Klavierkonzert.
Das ist an sich schon spannend genug, aber natürlich hat diese Sichtweise auch unmittelbare Konsequenzen für die Edition. Denn wenn Mozart die Erstausgabe selbst schon im Blick hatte, gewinnt diese Quelle gegenüber dem überlieferten reinschriftlichen Partiturautograph deutlich mehr Gewicht. Wolf-Dieter Seiffert hat nun diesen Erstdruck erstmals umfassend ausgewertet. Zum Glück kam dabei heraus, dass sich Erstausgabe und Autograph nur wenig voneinander unterscheiden. (Wäre es anders gewesen, hätte das für die Edition weitreichende Konsequenzen gehabt: Man hätte sich vermutlich immer wieder gegen das Autograph und für den Druck entscheiden müssen, ein Vorgehen, das einem Mozart-Philologen nicht leichtfällt.) An manchen Stellen jedoch weist die Erstausgabe überzeugende Varianten auf, die Wolf-Dieter Seiffert in seinem Kritischen Bericht erläutert. So ist z.B. für den langsamen Satz im Druck die Tempoangabe Andante im Viervierteltakt (siehe Abbildung oben), statt dem bekannten Larghetto im Alla-breve-Takt aus dem Autograph, überliefert. An einer anderen Stelle weist die Erstausgabe eine vom Autograph deutlich abweichende, aber ebenso überzeugende Bogensetzung auf:
Wir nehmen an, dass die Erstausgabe auf der Grundlage der Uraufführungsstimmen gestochen wurde. Könnten solche Abweichungen also die Probenarbeit für die erste Aufführung reflektieren und könnten sie folglich indirekt auf Mozart zurückgehen?
All diese Fragen werden von Wolf-Dieter Seiffert in den die Edition begleitenden Worttexten aufgerollt und ausführlich erläutert. So manche liebgewonnene Wahrheit wird dabei kritisch auf ihre Substanz abgeklopft – und man beginnt den vertrauten Notentext mit neuen Augen zu lesen und die bewunderte Musik mit neuen Ohren zu hören (oder mit frischen Fingern zu spielen). Eine Wiederbegegnung, die neue Perspektiven eröffnet.
Zum Schluss komme ich nun aber auch endlich auf Piotr Anderszewski zurück. Denn unsere Neuausgabe wird nicht nur den Klavier- und Orchestersatz als Taschenpartitur bringen, sondern zum Einstudieren auch einen praktischen Klavierauszug.
Piotr Anderszewski hat dafür einerseits seinen in der Praxis erprobten, raffiniert-ergonomischen Fingersatz mit uns geteilt. Kadenzen musste er keine schreiben, denn, wie oben erwähnt, hat Mozart selbst zwei Kadenzen und einen Eingang komponiert, die natürlich Teil unserer Urtextausgabe sind. Lediglich für einen einzigen Eingang im dritten Satz ist kein autographes Material überliefert, weshalb Piotr Anderszewski hier eine kleine improvisatorische Überleitung vorschlägt.
Für den zweiten Satz hat er zudem äußerst zurückhaltend stilsichere Ornamentierungen ergänzt. Warum ist das nötig? Wir wissen, dass die Mozart-Zeit in langsamen Sätzen lang ausgehaltene Noten, Intervallsprünge, wiederholte Passagen oder Motive aus dem Stegreif ausgeziert hat. Diese improvisatorische Freiheit ist heute leider weitgehend verloren gegangen. Daher enthält unsere Ausgabe nun konkrete Vorschläge für derartige Ornamentierungen, die man übernehmen kann, die aber auch dazu anregen können, selbst kreativ zu werden. Hier ein Beispiel:

Satz II, T. 93–96. Die Auszierungsvorschläge von Piotr Anderszewski für die rechte Hand stehen im Ossia-System
Die Neuedition von Mozarts letztem Klavierkonzert ist also in jeder Hinsicht inspirierend. Ganz zum Schluss aber noch ein Warnhinweis: Ausnahmsweise ist die hier vorgestellte Ausgabe noch nicht lieferbar. Sollten Sie einen Kaufreflex verspüren, den wir nach Kräften unterstützen, muss ich Sie bitten, diesen Reflex bis Ende Januar 2026 hinauszuzögern. Denn dann wird KV 595 im Henle Verlag erhältlich sein. Vorfreude ist ja bekanntlich die schönste Freude… Vielen Dank für Ihre Geduld!



